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IV. Gemeinsame Probleme und Defizite

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Lektüreempfehlung: Strasser, Peter (2005): Verbrechermenschen. 2. Aufl., Frankfurt a. M., 127-154, 229-245.

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Die Biokriminologie beschränkt ihr Augenmerk auf Kriminalität, die mit Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung zu tun hat. Sie wählt den zu untersuchenden Personenkreis zumeist aus der Gefängnispopulation oder aus biologisch auffälligen Menschen, die aggressiv wurden. Die Untersuchungseinheiten sind klein, die Untersuchungen meist retrospektiv, Vergleichsgruppen werden kaum herangezogen.

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Jeder Entwicklungsschub der Humanbiologie scheint die alte Frage nach dem „geborenen Verbrecher“ aufs Neue zu beleben. Nicht wissenschaftliche Indizien, sondern die schauerliche Faszination der Vorstellung, dass es Menschen mit „bösen“ Genen oder Hirnen gibt, ist die Antriebsquelle der Biokriminologie. [97] Offenbar assoziiert der Alltagsverstand unbegründete Gewaltausbrüche, die durch Erziehung und Behandlung nicht gezügelt werden konnten, hartnäckig mit einer abartigen biologischen Veranlagung. Die Biokriminologie „bedient“ dieses Vorurteil mit ihrem aktuellen wissenschaftlichen Repertoire und erhält dafür im Gegenzug eine ansonsten in der Kriminologie kaum erzielbare Öffentlichkeitswirkung.

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Im Gegensatz zur beeindruckenden technologischen Entwicklung der Biowissenschaften ist der Diskurs um ihre kriminologischen Erträge bemerkenswert zurückgeblieben, ja fast auf der Position Lombrosos erstarrt. Auch die neuen biowissenschaftlichen Deutungen der Kriminalität leiden darunter,

■ die Menschheit nach einer binären Logik in Kategorien von Gute und Schlechte, Normkonforme und Abweichende zu unterscheiden,

■ einen Determinismus zu behaupten, der den Menschen und seine Handlungen als Objekt biologischer Steuerung versteht,

■ einen Diskurs zu führen, der Indizien für biologische Einflüsse dazu verwendet, Abweichung zu pathologisieren und dadurch die soziale Verteidigung naturwissenschaftlich zu legitimieren,

■ das Böse im Innern bestimmter Menschen zu lokalisieren, sie in dieser scheinbar unabänderlichen Eigenschaft zu definieren und eine lebenslange Persistenz der Neigung zu asozialem Verhalten zu unterstellen,

■ den mangelnden Erfolg therapeutischer Interventionen dem Individuum zuschreibend als Unbehandelbarkeit zu deuten,

■ auf Behandlungsangebote, welche Autonomie und Würde des Einzelnen respektierten, zu verzichten, um stattdessen einem Programm zur Unterdrückung von Charaktermängeln zu folgen,

■ im Übrigen auf Maßnahmen der Neutralisierung von menschlichen Risikoträgern zu setzen, die vom medikamentösen Ruhigstellen über die chemische Kastration bis zu dereinstigen eugenischen Neuzüchtungen der humanen Biomasse im „Menschenpark“45 reichen.

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Der geläufigste Einwand gegen biologische Verbrechenserklärungen beanstandet die allzu kurzschlüssige Verbindung zwischen biologischen Eigenschaften und kriminellem Verhalten, bei welcher der vermittelnde Einfluss des sozialen Umfeldes außer Betracht bleibt. Zwar werden Befunde der Biokriminologie nicht durch Belege für zusätzlich bestehende soziale Einflussfaktoren [98] der Kriminalitätsentstehung entkräftet, da biologische Einflüsse durchaus neben und hinter sozialen Einflüssen bestehen mögen (→ § 7 Rn 3 ff.). Indessen gewinnt die Kriminalität immer erst durch das Bindemittel Umwelt eine erfahrbare und wissenschaftlich zugängliche Form.

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Auch ausgeprägte statistische Zusammenhänge belegen nicht unbedingt biologische Einflüsse. So ist in den USA die registrierte Kriminalität von Schwarzen, und erst recht deren Inhaftierungsrate, um ein Mehrfaches höher als es eigentlich ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend zu erwarten wäre. Die Erklärung dessen mit einem durchschnittlich deutlich niedrigeren Intelligenzquotienten von Schwarzen im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt46 hat eine heftige Kritik entfacht47. Die Gründe für die überproportionale Registrierung sind vielmehr in sozialen Umständen zu suchen: Die Schwarze Bevölkerung ist in Ausbildung, Einkommen, Wohnqualität und Ansehen benachteiligt und begegnet zudem einem überwiegend weißen Strafverfolgungsapparat mit entsprechenden strukturellen Problemen (Stichwort racial profiling). Allerdings hat die geringe Beeinflussbarkeit des Befundes einer höheren Belastung mit strafrechtlicher Registrierung durch den überproportional auf Schwarze gerichteten abschreckungsorientierten Strafvollzug die Vorstellung genährt, dass die Verhaltensstabilität biologische Ursachen haben müsse.

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Vollends triftig wird die Kritik an der Biokriminologie, wenn sie die gesellschaftliche Prägung der Kriminalität nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhaltensursache, sondern auf die Gesellschaft als Aushandlungsinstanz der Inhalte von Kriminalität bezieht. Kriminalität und Gewalt lassen sich nicht biologisch bestimmen, weil diese Begriffe erst mit Blick auf gesellschaftliche Reaktionen definierbar sind, sich in gesellschaftlichen Aushandlungen des Normalen und des Normabweichenden herausbilden und dem Wandel sozialer Anschauungen des Gewünschten und Geächteten unterliegen (→ § 13 Rn 8 ff.).

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Die Kriminalität auf biologische Zusammenhänge zu reduzieren bedeutet, das Phänomen des Rechtsbruchs aus seinem jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext zu lösen. Kriminalität ist nicht ohne ihren von einem gesellschaftlich bestimmten Normalitätsmaßstab abweichenden Charakter definierbar, also selbst gesellschaftlich geprägt. Sie ist Teil des kollektiven Sinnsystems der Sozialwelt, in der Bedeutungen verliehen und Sinn erzeugt wird. Insofern handelt [99] es sich bei kriminellen Rechtsbrüchen nicht um objekthaft und nichtkommunizierend vorhandene Gegebenheiten (→ § 2 Rn 11 ff.), deren Charakteristika durch Zusammenhänge mit natürlich „sinnlos“ vorhandenen biologischen Befundtatsachen bestimmbar wären. Die biokriminologische Sicht entbehrt der gebotenen Gegenstandsadäquanz ihres methodischen Erklärungsrahmens für ein gesellschaftlich überformtes und nur mit Blick auf seine gesellschaftliche Problemwahrnehmung erkennbares Phänomen.48

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Humanbiologische Befunde sind nicht bloß zur Erklärung kriminellen Verhaltens unzureichend, sondern – abgesehen von der Konditionierung durch pathologische Defekte – zur Erklärung menschlichen Verhaltens überhaupt unzulänglich. Der Versuch, menschliches Verhalten durch Belege seiner kausalen Abhängigkeit von Körperfunktionen erklären zu wollen, übersieht das Bewusstsein als Instanz, in der man sich selbst als agierende Person erlebt und Handlungsintentionen bildet. Zwar hat das Mentale keine eigene physische Existenz neben der Materie des Gehirns. Dennoch ist das Bewusstsein, im Rahmen des subjektiv Beherrschbaren als Agierende:r autonom auf die Umwelt gestaltend einzuwirken, eine menschliche Grunderfahrung, die sich nicht mit Hinweisen auf die neurobiologische Bildung des Bewusstseins leugnen lässt. Geist und Bewusstsein sind zwar als Produkte körperlicher Funktionen durch Gehirnprozesse bewirkt, können jedoch nicht auf diese reduziert werden. Menschliches Handeln ist von der biologisch nicht fassbaren Erste-Person-Wahrnehmung vom Bewusstsein getragen, subjektiv sinnhaft zu agieren. Willensfreiheit ist daher, obwohl wir endliche und externen Einflüssen ausgesetzte Wesen sind, immerhin beschränkt möglich: Was von uns nicht beherrschbar ist, geschieht ohne unseren Willen. Im Übrigen aber handeln wir in unserer subjektiven Lebenswahrnehmung und im Rahmen einer Kultur, die uns Eigenverantwortung zuweist, frei.49

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