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1. Klassifikationssysteme
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Die Bemühungen um empirisch geprüfte Instrumente zur Bestimmung psychischer Störungen führten zur Entwicklung von zwei international verbreiteten und aufeinander abgestimmten Klassifikationssystemen: Der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10)72 und dem von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung verfassten Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5)73.
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Diese Klassifikationssysteme gehen auf bevölkerungsstatistische Erhebungen zurück, anhand derer Glossare mit Beschreibungen psychischer Störungen und [107] diagnostischer Kriterien erstellt wurden. Unter Berücksichtigung der Anwendungserfahrung bei der Diagnosestellung wurden die Kriterien schrittweise validiert und revidiert. Wegen der ICD-10 zugrunde liegenden interkulturellen Perspektive sind die diagnostischen Kriterien dort allgemeiner und weniger kategorisch als in DSM-5 formuliert. Insbesondere klammert ICD-10 – anders als das nordamerikanische DSM-5 – bei der Definition des Störungsbildes Beeinträchtigungen in sozialen und beruflichen Funktionsbereichen aus. In Deutschland und in der Schweiz ist ICD-10 für die offizielle Dokumentation verpflichtend vorgeschrieben. Daneben wird – insbesondere im Bereich der Forschung – auch das DSM-5 häufig angewendet.
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Persönlichkeitsstörungen werden in diesen Klassifikationssystemen als tief verwurzelte, lang anhaltende Verhaltensmuster bestimmt, die sich in starren Reaktionen auf persönliche und soziale Lebenslagen zeigen74. Beispielhaft sei zitiert:
ICD-10 F60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung
Diese Persönlichkeitsstörung fällt durch eine große Diskrepanz zwischen dem Verhalten und den geltenden sozialen Normen auf und ist charakterisiert durch:
1. Kaltes Unbeteiligtsein und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Gefühlen anderer.
2. Grobe und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen.
3. Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen, aber keine Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen.
4. Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten.
5. Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein oder zum Lernen aus Erfahrung, besonders aus Bestrafung.
6. Ausgeprägte Neigung, andere zu beschuldigen oder einleuchtende Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten, durch welches die Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.
Andauernde Reizbarkeit kann ein zusätzliches Merkmal sein. Eine Störung des Sozialverhaltens in der Kindheit und Jugend stützt die Diagnose, muss aber nicht vorgelegen haben.
[108] DSM-5 Diagnostische Kriterien für 301.7: Antisoziale Persönlichkeitsstörung
A. Ein tief greifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das seit dem 15. Lebensjahr auftritt. Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
1. Versagen, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten gesellschaftlichen Normen anzupassen, was sich in wiederholtem Begehen von Handlungen äußert, die einen Grund für eine Festnahme darstellen.
2. Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert.
3. Impulsivität oder Versagen, vorausschauend zu planen.
4. Reizbarkeit und Aggressivität, die sich in wiederholten Schlägereien oder Überfällen äußert.
5. Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit oder der Sicherheit anderer.
6. Durchgängige Verantwortungslosigkeit, die sich im wiederholten Versagen zeigt, eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen.
7. Fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierung äußert, wenn die Person andere Menschen gekränkt, misshandelt oder bestohlen hat.
B. Die Person ist mindestens 18 Jahre alt.
C. Eine Störung des Sozialverhaltens war bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres erkennbar.
D. Das antisoziale Verhalten tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Schizophrenie oder einer bipolaren Störung auf.
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Die Kategorien der „anti-“ bzw. „dissozialen“ oder „im Sozialverhalten“ gestörten Persönlichkeiten ergeben sich nicht aus einer induktiven Beobachtung mit psychiatrischem Sachverstand. Da diese Persönlichkeitskategorien jenseits eines rein medizinisch bestimmbaren Krankheitsbildes durch Merkmale der sozial nicht tolerierten Abweichung von dem Spektrum der „normalen“ Persönlichkeit gekennzeichnet sind, bedarf ihre Bestimmung der Angabe, welches Spektrum von Persönlichkeitseigenschaften als erwünscht und normal gilt. Persönlichkeitsstörungen können nur definiert und identifiziert werden, indem ein in der betreffenden Persönlichkeit nicht vorhandener, externer Normalitätsmaßstab auf sie angewandt wird. Die Normalität beruht auf einer konventionellen Festlegung, die nicht objektiv oder universell sein kann. Der Normalitätsmaßstab entspricht dem, was die maßgeblichen Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft als normal empfinden. Ist anhand eines Normalitätsmaßstabes eine Störung definiert, so lassen sich anschließend die Symptome dieser Störung bei bestimmten Individuen beobachten und beschreiben. Hier – und erst hier! – ist psychiatrischer Sachverstand verlangt.
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[109] Die kriminologische Relevanz der verschiedenen Konzepte von sozial nicht tolerierten antisozialen Persönlichkeitsstörungen ergibt sich aus zwei empirisch geprüften Beobachtungen. Zum einen scheinen Individuen mit solchen Persönlichkeitsstörungen in der Population der inhaftierten Verurteilten häufiger vorzukommen als in der Normalbevölkerung.75 Zum anderen bleibt offenbar die Bereitschaft zur Begehung von Gewalt- und Sexualdelikten in der biografischen Entwicklung einer Person relativ stabil erhalten. Abgesehen von der auf den Alterungsprozess des Organismus zurückzuführenden generellen Aktivitätsabnahme im vorgerückten Lebensalter bleibt die Disposition zur Begehung solcher Delikte offenbar auch nach längerem Zeitablauf bestehen und kann namentlich weder durch Veränderung der Lebensumstände noch durch Sanktionierungserfahrungen entscheidend beeinflusst werden. Nimmt man diese Befunde beim Wort und versteht sie nicht bloß als Artefakte einer auf Persönlichkeitsauffälligkeiten von Kriminellen fokussierten Wahrnehmung, so erbringen sie eindrückliche Belege für die Persönlichkeitsabhängigkeit von Delinquenz – und diskreditieren sowohl den klassischen Standpunkt, dass kriminelles Verhalten eine Konsequenz freier Wahl des Individuums sei, wie die soziologische Sichtweise, die Kriminalität auf gesellschaftliche Einflüsse zurückführt.