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II. Genetische Annahmen

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In den 1960er Jahren haben Chromosomenstudien Aufmerksamkeit erregt. Spektakuläre Kriminalfälle, deren Ursache unerfindlich schien, fanden in der Chromosomenanomalie überführter Täter eine scheinbar befriedigende Erklärung. Die irrtümliche Meldung etwa, dass der achtfache Frauenmörder Richard Speck aus Chicago ein überzähliges Y-Chromosom (XYY-Syndrom) aufgewiesen habe, fand breite Resonanz in der Öffentlichkeit und wurde als Entdeckung des „Mörderchromosoms“ gefeiert.

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[92] Nachfolgende Untersuchungen lassen diese Annahmen zweifelhaft erscheinen.24 So ist die Anzahl der XYY-Männer unter Strafgefangenen nicht signifikant höher als in der Gesamtbevölkerung.25 Überhaupt scheint ein überzähliges Y-Chromosom mit aggressivem Verhalten in keiner kausalen Verknüpfung zu stehen.26 Amerikanische Studien deuten im Gegenteil trotz gewisser psychischer Auffälligkeiten auf eine verminderte Aggressionsneigung von XYY-Männern hin.27 Eine auslesefreie Untersuchung sämtlicher (31.436) in Kopenhagen in den Jahren 1944 bis 1947 geborener Männer untermauert dies.28 Auch die Überzähligkeit von X-Chromosomen bei Männern (sog. Klinefelter-Syndrom) dürfte entgegen früherer Mutmaßungen in keinem Zusammenhang zur Kriminalität stehen. Die Feststellung erhöhter Häufigkeit dieses Syndroms unter Straffälligen erreicht keine signifikanten Werte; zudem bleibt die Kriminalität von Klinefelter-Männern typischerweise im Lebenslängsschnitt episodenhaft.29

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In der neuseeländischen Stadt Dunedin wurden alle 1972 und 1973 in demselben Krankenhaus geborenen Personen (N = 1.037) während 30 Jahren von einem Team Forschender um das Ehepaar Terrie Moffitt und Avshalom Caspi im Hinblick auf während der Kindheit erlittene Misshandlungen und späterem gewalttätigem Verhalten beobachtet (→ § 10 Rn 38 f..). Dabei ergab sich, dass zwar Opfer von Misshandlungen im Kindesalter später zu etwa 50 % eher zu gewalttätigem Verhalten neigen als nicht misshandelte Kinder, diese Beziehung jedoch für die meisten misshandelten Kinder nicht zutrifft. Die Forschenden vermuten einen Einfluss eines nur bei Männern vorhandenen Gens, das für die Bildung des Enzyms Monoaminoxidase A (MAOA) verantwortlich ist. Dieses Gen sorgt dafür, dass Aggressivität fördernde Neurotransmitter im Gehirn wie Norepinephrin (NE), Serotonin (5-HT) und Dopamin (DA) deaktiviert werden. Als Knaben misshandelte Männer, bei denen diese hemmende Funktion unzureichend ist (low-activity-Allel), benahmen sich später zu mehr als 80 % antisozial und zu mehr als 30 % gewalttätig. Angenommen wird, dass die genetischen Dispositionen erst durch Misshandlung in der Kindheit „angeschaltet“ würden.30 In den Forschungsberichten werden allerdings die Art der erlittenen Misshandlungen und der verübten Gewalt nicht spezifiziert. Ebenso bleiben Einflüsse des Lebensabschnittes zwischen kindlicher Misshandlung und späterer Gewaltausübung [93] ausgeblendet. So wird aufgrund der festgestellten statistischen Beziehung der Eindruck eines fast zwingenden Zusammenhanges von erlittener und verübter Gewalt bei entsprechender genetischer Ausstattung erzeugt. Die intergenerationale Weitergabe erlebter Gewalt kann indes auch soziologisch über die Theorie des sozialen Lernens, Bindungstheorien und den Aspekt der niedrigen Selbstkontrolle der allgemeinen Kriminalitätstheorie erklärt werden.31

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