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I. Entwicklung kriminologischer Theorien
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[77] Die Suche nach Verhaltensursachen gleicht einer unendlichen Geschichte. Möglichen Erklärungen ist gemeinsam, dass sie von der Gegebenheit Kriminalität ausgehend nach Gründen ex post suchen und diese in Defiziten vermuten. Die Ursachen für Kriminalität stehen nie fest; stets sind neue Erklärungen möglich, die alte zur Makulatur werden lassen. Während in den anfänglichen Phasen der Kriminologie (→ § 4) eine „Schule“ – oder zumindest die Auseinandersetzung mit ihr – das kriminologische Denken einer Epoche bestimmte, ist im 20. Jahrhundert das Monopol einer epochalen Kriminalitätserklärung gebrochen und hat einem freien Markt vielfältiger Erklärungsangebote Platz gemacht. Im Zuge dessen haben sich unterschiedliche Vorstellungen über kriminelles Verhalten, seine fördernden, es stabilisierende oder unterbrechende Einflüsse und – ganz allgemein – über das Bewirken von Kriminalität durch die biologische Anlage, die Gesellschaft und die Kriminalitätskontrolle entwickelt. Dabei steht seit dem Bedeutungsverlust der klassischen Schule (→ § 4 Rn 4 ff.) die Frage nach den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens im Zentrum.
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Diesen Vorstellungen ist gemeinsam, dass sie kriminelles Verhalten nach Erklärungsmustern bestimmen, welche für menschliches Handeln überhaupt gelten. Kriminelles Verhalten folgt keinen besonderen Gesetzmäßigkeiten, sondern den allgemeinen Regeln menschlichen Handelns. Ob ich danach frage, warum Menschen kriminell werden, zu übermäßigem Alkoholkonsum neigen oder ihre Partner:innen sozial toleriert demütigen: Die Gründe für all das sind nach einheitlichen Vorstellungen über menschliches Handeln zu bestimmen, welche in der menschlichen Natur, den sozialen Abhängigkeiten oder in sonstigen Einflussfaktoren liegen mögen. Aus der Erklärung krimineller Betätigung nach allgemeinen Verhaltenskonzepten folgt, dass eine Klärung der Zusammenhänge kriminellen Handelns pars pro toto zur Klärung der Zusammenhänge menschlichen Handelns überhaupt beiträgt. Ebendies macht die wissenschaftliche Befassung mit dem Verbrechen von Anbeginn zu einer „Schule der Bildung“ und einer „umfassenden Menschheitswissenschaft“.
5 Die Unterschiede zwischen verschiedenen kriminologischen Schulen und Theorieansätzen rühren daher, dass sie unterschiedliche Vorstellungen über das Wesen menschlichen Handelns favorisieren. Die vertretenen Handlungsmodelle lassen sich in einem ersten Schritt grob danach einteilen, ob ihnen ein deterministisches oder ein indeterministisches Menschenbild zugrunde liegt. Die Klassische Schule (→ § 4 Rn 4 ff.) vertrat in der Tradition der Aufklärung eine indeterministische [78] Position, die das Individuum als rational und eigenverantwortlich handelnd versteht. Die biologisch-anthropologische Schule (→ § 4 Rn 19 ff.) und die aufkommenden soziologischen, auf das soziale Milieu bzw. die Anomie der gesellschaftlichen Strukturen bezogenen, Erklärungen (→ § 4 Rn 17; § 9 Rn 3 ff.) beruhen hingegen auf einem deterministischen Menschenbild. Dieses erachtet menschliches Verhalten als durch nicht von Wahlfreiheit getragene, empirisch benennbare Faktoren im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit kausal determiniert. Aus den jeweiligen Verhaltenskonzepten ergeben sich je unterschiedliche praktische Konsequenzen für die Prävention und die strafrechtliche Intervention.
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Schaubild 2.1: Menschenbilder und Verhaltenskonzepte der frühen Kriminologie
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Aus der fortschreitenden Differenzierung jener Verhaltenskonzepte entwickelten sich die heute vertretenen theoretischen Zugangswege zur Kriminalität, die wir Kriminalitätstheorien nennen. Das deterministische Verhaltenskonzept ist die Basis für die Mehrzahl der bis in die 1980er Jahre entwickelten Kriminalitätstheorien. Ihm entspricht erkenntnistheoretisch das Erklärungsmodell und das Selbstverständnis der Kriminologie als einer vorzugsweise quantitativ vorgehenden, die Ursachen kriminellen Verhaltens empirisch erforschenden [79] Erfahrungswissenschaft (→ § 2 Rn 8 f.). Dem indeterministischen Verhaltenskonzept folgen in Reinform die ökonomische Kriminalitätstheorie (→ § 12 Rn 12 ff.), ferner ansatzweise die Kontrolltheorien (→ § 11) und jene theoretischen Zugangswege zur Kriminalität, welche, wie der symbolische Interaktionismus (→ § 13 Rn 1 ff.), am sinnhaften Verstehen des Handelns interessiert sind und qualitative Methoden bevorzugen (→ § 2 Rn 11 ff.).
8 Die Entwicklung im 20. Jahrhundert hat somit zur Ausbildung verschiedener kriminologischer Theorien geführt, die – jede in sich schlüssig – aus einer jeweiligen bezugswissenschaftlichen Perspektive (→ § 1 Rn 4) eine bestimmte Wahrnehmung von Kriminalität vermitteln – und damit jeweils in ihrer Aussagekraft begrenzt bleiben. Der Großteil der auf diese Weise entstandenen Theorien befasst sich mit der Erklärung der Kriminalitätsentstehung und -verbreitung. Diese Theorien werden ätiologische Theorien (Ätiologie = Ursachenforschung) oder auch Kriminalitätstheorien genannt. Die meisten aktuellen Theorien dieser Art studieren Kriminalität als eine besondere Form menschlichen Verhaltens und nehmen an, dieses Verhalten sei mit einer empirisch belegbaren Wahrscheinlichkeit von vorgegebenen Umständen der Biologie oder der Psyche des Individuums oder von dessen sozialer Umgebung abhängig. Die Annahme einer solchen Abhängigkeit im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsbeziehung charakterisiert die Theorien als deterministisch (→ § 3 Rn 12; § 4 Rn 13 f.). Durch die Prüfung und Bestätigung dieser Wahrscheinlichkeitsdetermination in Erfahrungstests wird das kriminelle Verhalten aus seiner Abhängigkeit von den es beeinflussenden Faktoren erklärt. Daneben haben sich Kriminalisierungstheorien entwickelt, die den Blick auf die Kriminalitätskontrolle richten, sich also mit den förmlichen Reaktionen auf Kriminalität und den Verläufen der Reaktionsprozesse befassen. Diese Theorien sind zugleich auch Kriminalitätstheorien, sofern sie das Auftreten „sekundärer Devianz“ (→ § 13 Rn 7) aus der Übernahme eines durch Kontrollvorgänge erzeugten kriminellen Selbstbildes bestimmen.