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II. Die psychoanalytische Perspektive

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10 [104] Die Psychoanalyse sucht die Ursachen von Delinquenz – wie allgemein von sozialem Fehlverhalten und psychischen Störungen – in der frühkindlichen Entwicklung.63 Nach Sigmund Freud (1856-1939) werden im Verlauf der Persönlichkeitsreifung dem ursprünglichen triebhaften Es das realitätsbezogene Ich und das die Moral repräsentierende Über-Ich gegenübergestellt.

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Das normale, noch von ungebändigten Trieben geleitete Kind ist für Freud ein „polymorph-perverses“ und „universell kriminelles“ Wesen, das in den ersten Lebensjahren unter dem Einfluss der sich allmählich bildenden Ich und Über-Ich lernt, Triebbedürfnisse zu kontrollieren. Die wichtigste Triebquelle sei der Sexualtrieb, die Libido. Die Libido des Kleinkindes entwickele sich in Phasen (orale, anale, phallische). Falls die frühkindliche Befriedigung und Weiterentwicklung der Triebe behindert wird, soll es später zu irreversiblen Entwicklungsstörungen wie mangelndem Selbstwertgefühl, Beziehungsschwäche und Bindungsarmut kommen. Die moralische Instanz des Über-Ich könne durch Versagen der für Identifikationsprozesse entscheidenden Vaterfigur unzureichend ausgebildet werden. Umgekehrt könne ein strenges Über-Ich Triebansprüche des Es ins Unterbewusste verdrängen. Die Unfähigkeit des Kindes, sich rechtzeitig von Vater und Mutter zu lösen, bewirke speziell bei Personen mit ausgeprägtem Über-Ich den Oedipuskomplex und damit unbewusste Schuldgefühle. All dies könne zu bestimmten Straftaten führen. So könnten Verbrechen aus Schuldgefühl begangen werden, ausgelöst durch das unbewusste Verlangen nach Bestrafung, um dadurch das Schuldgefühl zu erleichtern.

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Psychoanalytische Erklärungen sind freilich nicht zwingend täter:innen- oder überhaupt kriminalitätsbezogen. Sie beanspruchen auch Erklärungskraft für die Geständnisbereitschaft, die Aggressionsneigung von Polizist:innen64, Ängste und Strafverlangen der Gesellschaft65 und generell für die Funktion des Strafrechts66.

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[105] Theodor Reik (1888-1969) legt in seiner erstmals 1925 erschienenen Abhandlung über Geständniszwang und Strafbedürfnis67 dar, dass nicht die Bestrafung, sondern das Entdecktwerden Angst erzeuge, und somit die Strafangst in Geständnisangst umgesetzt werde. Dem Bemühen, das Verbrechen zu vertuschen, sei jedoch der Zwang, das Geheimnis zu lüften und sich so von einer psychischen Belastung zu befreien, entgegengesetzt. Durch das Geständnis vollziehe sich eine verbale Wiederholung der Tat, welche die Angst überwinde und aufgestaute Schuldgefühle befreie. Die Unfähigkeit zu einer „Geständnisarbeit“ erkläre viele Selbstmorde. Ein unbewusster Geständniszwang bewirke, dass Straftäter:innen trotz minutiöser Planung oft eine grobe Nachlässigkeit begingen, die ihre Entdeckung ermögliche.

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Mehr noch befasst sich die Psychoanalyse mit der tiefenpsychologischen Funktionsbestimmung des Strafrechts und der strafenden Gesellschaft.68 Das Strafrecht wird als Mittel legaler Aggressionsabfuhr verstanden. In einer berühmt gewordenen Sequenz formuliert Freud:

„Wenn einer es zustande gebracht hat, das verdrängte Begehren zu befriedigen, so muss sich in allen Gesellschaftsgenossen das gleiche Begehren regen; um diese Versuchung niederzuhalten, muss der eigentlich Beneidete um die Frucht seines Wagnisses gebracht werden, und die Strafe gibt den Vollstreckern nicht selten Gelegenheit, unter der Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat auch ihrerseits zu begehen.“69

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Die Rechtstreuen finden in der Bestrafung der Rechtsbrechenden demnach eine Ersatzbefriedigung für ihren eigenen Triebverzicht, mit der sie ihr eigenes unbewusstes Schuldgefühl auf die Kriminellen als Sündenböcke projizieren.

„Der Sühnedrang ist also eine Schutzreaktion des Ichs gegen die eigenen Triebe im Dienste ihrer Verdrängung, um das seelische Gleichgewicht zwischen verdrängenden und verdrängten Kräften aufrechtzuerhalten. Das Verlangen nach Bestrafung des Täters ist gleichzeitig eine Demonstration nach innen, um die Triebe einzuschüchtern: ‚Was wir dem Täter verbieten, darauf müsst auch ihr verzichten‘. Je grösser nun der Druck der verdrängten Tendenzen ist, umso mehr benötigt das Ich die Sühne als abschreckendes Beispiel gegenüber der Urwelt der eigenen verdrängten Triebe.“70

[106] Damit bestehen Verbindungen von der Psychoanalyse zur kritischen Kriminologie (→ § 13 Rn 22 f.) und zu generalpräventiven Straftheorien (→ § 20 Rn 7 ff.).71

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