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Karfreitag, 20. April

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Sonne, leichter Schneefall.

Klarer als die bescheidene Größe des Hauses, als die beschränkte Größe des Gefängnishofs, ja sogar klarer als die deutliche Sprache der Palisade drückt der Anblick von Kommandant Awdejew den Charakter des neuen Regimes aus. Er ist zwar militärisch gekleidet, besitzt aber offenkundig keinen Rang. Man hat ihn von der Slokasow-Fabrik in der Nähe und dem örtlichen Parteiapparat rekrutiert. Er ist hochgewachsen und mager, trägt einen schmalen Bart in seinem unrasierten Gesicht, einen Revolver im Gürtel und Lederstiefel, die noch nie geputzt worden sind. Alexander Awdejew stinkt nach Wodka und umgibt sich mit einem Hofstaat aus gleichgesinnten, halb militärischen Kameraden. Durch die Organisation der Gefangenschaft hat er für alle offenkundig den Höhepunkt seiner administrativen Fähigkeiten erreicht. Seine Erscheinung ist eine Provokation gegenüber den kaiserlichen Gefangenen, und darin liegt vermutlich seine vornehmste Qualifikation.

Ich kämpfte meinen Widerwillen nieder und klopfte am Vormittag an der Tür des Kommandanten an. Niemand reagierte, doch drinnen waren Stimmen zu hören, und plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Drinnen saßen zwei oder drei »Adjutanten« hingelümmelt und rauchten, während der Kommandant selbst auf einem Stuhl hinter dem Schreibtisch wippte. Die Luft war stickig wie in einer Fabrikhalle ohne Ventilation.

Ich erklärte mein Bedauern wegen der Störung und sagte, ich sei aus Anlass des besonderen Charakters des heutigen Tages gekommen. Awdejew hob eine Augenbraue und schob die Zigarette in den anderen Mundwinkel:

»Der 3. Mai? Haben wir Mittwoch oder Donnerstag?«

»Ich denke an das Osterfest, es ist Karfreitag.«

»Kommen Sie im nächsten Jahr wieder, Doktor.«

Ich hatte mich entschlossen, im Namen der Zarenfamilie diese Anfrage vorzubringen, und ließ mir bei dem Ton des Kommandanten nichts anmerken:

»An einem solchen Tag wäre es von der allergrößten Bedeutung, einen Anlass zu haben, der Messe beizuwohnen.«

»Der Messe?« Awdejews Gesicht war schierer Unglaube.

»Ja, beispielsweise hier auf der anderen Seite des Platzes in der Himmelfahrts-Kathedrale.«

»Sollen wir die Gefangenen freilassen, nur weil Sie behaupten, es sei Freitag? Als Nächstes kommen wohl Purpurmantel und Dornenkrone?«

Die »Adjutanten« grinsten.

»Es ist unzumutbar, die Messe zu entbehren, gerade in der Osterwoche.«

»Aber lassen wir doch ›den Blutigen‹ Karfreitag feiern, soviel er will, solange er dort innerhalb der Mauern bleibt, und keinen Schmutz, wenn ich bitten darf!«

Zum Glück hatte ich nur zwei Schritte in den Raum getan. Somit war der Rückweg kurz. Ich sah keinen Grund für weitere Formalitäten.

Der Zar verlas den Text des Tages. Wie viel hat sich in diesem einen Jahr seit dem vorigen Osterfest ereignet! Damals konnten wir die Schlosskirche noch mit Blumen aus den kaiserlichen Treibhäusern schmücken, und zusammen mit Dr. Derewenko ging ich hinter dem prachtvollen Umhang des Popen und trug das symbolische Leichengewand in einer Prozession durch Säle und Korridore des Palasts. Hinter uns folgten die Lichtträger. Hier, zwischen den Mauern des Ipatjew-Hauses, gibt es weder Klagelieder noch Jubeltöne. Selbst die Beichte hat man uns genommen.

Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie der Zar den Hals reckt und unseren neuen Kommandanten küsst, so wie er es gemäß der österlichen Tradition beim Kommandanten Koblinsky und dem wachhabenden Offizier im Alexanderpalais nach der letztjährigen Mitternachtsmesse getan hatte. Die Offiziere Kerenskijs konnten dem Zaren während der Gnadenfrist, die seiner Herrschaft noch blieb, in einer rituellen Geste entgegentreten. Für Awdejew, den Auserwählten der Bolschewiken, wäre das so etwas wie »der Todeskuss« gewesen.

»Elo’i! Elo’i! lama sabaktani?«

Der Zar hat keinen Willen. Nur ein Schicksal. Der Wille ist in der Erfüllung des Schicksals eingekapselt. Sie ist diejenige, die den Ehrgeiz auf Herrschaft verwaltet. Für ihn ist die Selbstherrschaft ein gegebener Zustand wie das Gras auf der Erde oder die Wolken am Himmel. Für sie ist sie eine Idee, eine göttliche Institution, würdig, verteidigt zu werden.

Der Zar regiert kraft seines Leibes.

Nur Gott soll dem Zaren die Macht nehmen können, indem er ihm das Leben nimmt. Doch Nikolaj Alexandrowitsch gab sein Amt in dem Moment auf, in dem er seine menschliche Stütze verlor. Das war die historische Trennungslinie am Bahnsteig in Pskow.

Und sie war nicht da.

Ich erinnere mich nicht an Seine Majestät während dieses Aufenthalts. Wahrscheinlich werde ich das nie tun können. Wie viele Runden uns noch auf dem Gefängnishof des Ipatjew-Hauses bevorstehen mögen, auf Pskow werden wir wohl mühelos verzichten können. Gleichwohl wurden die 24 Stunden auf dem Provinzbahnhof für alle unsere späteren Umzüge bestimmend, für alles, was danach geschehen ist, mit uns und mit Russland. Seitdem sind meine Gedanken jede Nacht mindestens einmal zu der äußersten Granitkante auf dem Bahnsteig in Pskow zurückgewandert.

Ich war nicht dort, kenne die Stadt in der Nähe der baltischen Provinzen jedoch gut. Während des Krieges wurde sie in ein einziges großes Lazarett verwandelt. Schulen, Internate, alle bewohnbaren Gebäude wurden in Beschlag genommen, um Plätze für Krankenbetten zu schaffen, je nachdem, wie die Kampfhandlungen hin und her wogten. Auch die Zarin ist in Pskow gewesen. Sie reiste dorthin, um die Hospitäler der Stadt zu inspizieren. Sie war als einfache Krankenschwester in Rot-Kreuz-Tracht verkleidet; aufgrund ihres schwachen Herzens musste die Pflegerin in einer Sänfte durch die verschiedenen Etagen des Krankenhauses getragen werden. Die Krankensäle durchschritt sie aus eigener Kraft. Die Zarin von Russland konnte sich davon überzeugen, dass in den Militärlazaretten von Pskow das Blut rot war, die leinene Wäsche weiß und alles in schönster Ordnung.

In der Stadt, die nur 150 bis 200 Werst von der Front entfernt war, hatte überdies das Nordkommando des Heeres seinen Sitz. Von hier gingen die Befehle der Generäle in Form verschlüsselter Telegramme ab, während die Verlustzahlen, für alle ablesbar, an den Zugladungen verstümmelter Körper sichtbar waren.

Ich habe die Lazarette mit ihrem Überfluss an akutem Leiden und ihrem Mangel an Medikamenten und Verbandsstoffen sowohl als Arzt als auch als Vater erlebt. Schon bevor Mima vom Pferd stürzte, machte ich die lange Reise zum Militärhospital in Lemberg, wo Dysenterie ausgebrochen war, um meinen Zweitältesten Sohn zurückzuholen, der sich freiwillig zum Dienst an der Front gemeldet hatte. Den angegebenen Krankensaal musste ich mehrmals durchschreiten, ohne ihn zu finden, nicht einmal, als die Pflegerin mir die genaue Lage des Feldbetts nannte, war ich in der Lage, zu erkennen, dass der Kopf auf dem Kissen meinem eigenen Sohn gehören sollte. Obwohl ich wusste, dass er vor mir lag, und er »wusste«, dass ich mich in Zarskoje Selo befand, war er derjenige, der mich entdeckte. Erst als ich tief in den kindlichen Augen des Patienten das Licht des Wiedererkennens leuchten sah, war ich imstande, zu begreifen, dass dieser ausgemergelte, greisenhafte Mensch mein eigener geliebter Sohn Juri war.

Der letzte Tag, an dem Nikolaj II. vom Palast in Zarskoje Selo ausfuhr, war der Morgen des 22. Februar 1917. Ihre Majestät und die Kinder folgten ihm zum Bahnhof. Es war wie immer, wenn unser Alleinherrscher seine Residenz verließ, unter Salut, Flaggenhissen und dem Klang von Kirchenglocken.

Der Platz des Leibarztes befand sich im achten, dem hintersten Waggon. Hier hatte ich mein klinisches Abteil und eine reichhaltige Apotheke. Der Waggon bot überdies Platz für die politischen, militärischen und administrativen Sekretariate, außerdem für den Kommandanten des Zuges. Der siebte Waggon war dem Gepäck und Frachtgut vorbehalten. Während der sechste den Abteilen und einem Gemeinschaftssalon für das Gefolge des Zaren und den diensthabenden Adjutanten Platz bot sowie einem Abteil für auswärtige Würdenträger wie Provinzgouverneure oder entsprechende Größen. Der fünfte Waggon war für den Thronfolger, die Großfürstinnen und die Hofdamen reserviert. Dieser Wagen, der sonst der lebhafteste von allen sein konnte, war während der letzten Reise vollkommen leer; alle Möbel waren weiß. Der vierte Waggon war der private des Zarenpaares; hier verlief ein schmaler Korridor an der Seite, damit keiner, der hier vorbeikam, die Majestäten in ihrer Intimsphäre auf Schienen stören konnte. Dieser Waggon enthielt kein einfaches Schlafabteil, sondern ein Schlafzimmer, ein Bad mit weißen Kacheln und einer speziell konstruierten Badewanne, in der das Wasser nicht überlaufen konnte, wenn der Zug sich zur Seite neigte; außerdem den Arbeitsraum des Zaren mit Schreibtisch und tiefen Ledersesseln sowie das in sanften Farben gehaltene grauviolette Boudoir der Zarin. Von dort konnte sich der Zar direkt in den mahagonigetäfelten Speisewagen begeben, wo der lange Tisch 16 Personen Platz bot (die Zarin nahm ihre Mahlzeiten meist separat ein). Dieser dritte Waggon enthielt zusätzlich noch einen kleinen Salon mit gepolsterten Wänden, Plüschmöbeln und einem Klavier. Nummer zwei war für Koch und Steward mit drei Kochherden, Kühlschrank und »Weinkeller« ausgestattet. Der allererste der acht Waggons mit seinen modernen Ventilationsanlagen und diskreten Doppeladlern war einer Abteilung Kosaken vorbehalten. Sobald der Zug stand und die mechanische kaiserliche Treppe zum Bahnsteig heruntergeklappt worden war, sprangen vier mit Dolch und Gewehr bewaffnete Kosaken hinaus und stellten sich am Haupteingang der rollenden Residenz auf.

Es war lange her, seit ich das Vergnügen hatte, im kaiserlichen Zug mitzufahren, da die Aufgabe, Seine Majestät während seiner Aufenthalte im militärischen Hauptquartier zu begleiten, Prof. Fjodorow überlassen war. Auch diesmal war es mein fünf Jahre jüngerer Kollege, der unseren hohen Klienten auf der Reise begleitete, die zur allerletzten Odyssee des kaiserlichen Hofzugs werden sollte.

Wie stets war die Meldung ergangen, der zufolge man Soldaten an Brücken und anderen kritischen Punkten postieren sollte, die der Zug passieren würde, und ich nehme an, dass in dem parallelen Zarenzug, der zu einem anderen Zeitpunkt von einem anderen Bahnhof abfuhr, auch diesmal Feuer im Kessel gemacht wurde. Dessen Lokomotive war genauso blankgeputzt und schwarz, die Wagen waren genauso leuchtend kaiserblau; dies war der leere Gespensterzug, den noch niemand hatte in die Luft sprengen können.

Bei der Nachmittagsvisite des Tages, an dem der Zar abgereist war, entdeckte ich einige wenige schwach erhöhte dunkelrote Punkte neben Olga Nikolajewnas rechtem Auge. Als ich eine Haarlocke beiseiteschob, fand ich mehrere weitere Punkte auf der Stirn.

Anfang Februar hatte der Zarewitsch Besuch von einer Handvoll herbeibekommandierter Kadetten gehabt. Sie hatten mit ihren Holzgewehren einen ganzen Nachmittag exerziert. Später erhielt ich die Meldung, dass man bei einem der Kadetten die Masern festgestellt hatte. Es sagt sehr viel darüber aus, unter welch quarantäneähnlichen Bedingungen die Zarenkinder aufwuchsen, dass sich bisher keins von ihnen mit dieser Krankheit angesteckt hatte, die Kinder normalerweise schon trifft, bevor sie fünf Jahre alt sind. Olga Nikolajewna räumte ein, sich schon seit einigen Tagen unpässlich gefühlt zu haben. In ihrer Mundhöhle entdeckte ich Andeutungen weißer, unregelmäßig geformter Flecken. Daraufhin untersuchte ich Alexej Nikolajewitsch und registrierte die ersten Ausschläge am Bein. Keiner der anderen drei wies deutliche Symptome auf, aber Tatjana Nikolajewna klagte über zunehmende Schlappheit.

Am nächsten Tag brachen auf den Straßen Petrograds die Unruhen aus. Der Anlass war Brotknappheit, das heißt eigentlich war es die Furcht vor Knappheit. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, es stünden neue und strengere Rationierungsvorschriften für Mehl bevor. Dann folgten Schlag auf Schlag die Ereignisse, die später die Bezeichnung »die Revolution« erhielten; Plünderung, Streiks, Straßenbahnblockaden, Brandstiftungen, Totschlag, Meuterei. Die Ereignisse entwickelten sich so rasch wie eine Epidemie in einem Feldlazarett. Das lässt sich, wie es später auch geschah, nur mit zwei Dingen erklären: Erstens mit den ungeheuren Opfern des Krieges, der Schwächung Russlands durch die unfassbaren Blutverluste, und zweitens mit der untergrabenen Autorität des politischen Regimes.

Ich gehöre nicht zu denen, die die Begründung für die Revolution auf den Straßen suchen, in den Schlangen der nach Brot anstehenden Menschen oder in den Fabriken, nicht einmal in den politischen Versammlungen, auch nicht bei der Duma im Tauride-Palais oder, was noch ferner liegt, bei den Marxisten an den Cafétischen in der Schweiz. Lassen Sie mich eine Frage formulieren: Wenn der Thronfolger in Spala gestorben wäre, wäre der Tod dann durch den Sturz im Boot verursacht oder durch die Kutschfahrt auf dem Kiesweg? Vielleicht müsste man die Ursache auch in seinem Körper suchen, den ein heftiger Schlag und eine starke Erschütterung getroffen hatten? Also im Blut der Dynastie?

Als der Ausbruch der Masern festgestellt worden war, beschloss ich, in den Alexanderpalast zu ziehen, der inzwischen in ein kaiserliches Hospital verwandelt worden war, so wie das Soldatenlazarett im Katharina-Palais. Die Zarin legte ihr Lieblingskostüm an, die Rotkreuz-Tracht mit der gestärkten weißen Schürze und der nonnenähnlichen Kopfbedeckung. Olga Nikolajewna (inzwischen ganz mit roten Punkten übersät), Tatjana Nikolajewna und der Zarewitsch begaben sich mit triefenden Nasen, starkem Husten und hohem Fieber zu Bett.

Auch die Hofdame Anna Wyrubowa erwies sich schon bald als angesteckt, und die Zarin verlangte, dass sie aus der Wohnung am Schlosspark aus- und in den Palast umziehen solle, wo man ein eigenes Krankenzimmer für sie eingerichtet hatte. Hier hielt die Dame Hof, umgeben von bis zu sechs Ärzten und einer Reihe von Krankenschwestern, darunter die Zarin. Anna Wyrubowa war nicht nur das wichtigste Bindeglied Ihrer Majestät zu Rasputin gewesen, sondern auch die aus den verschiedenen Kreisen in Petrograd gespeiste Nachrichtenquelle, der sie am meisten vertraute. Solange die Wyrubowa mit 40 Grad Fieber zu Bett lag, war der Grad der Desinformation im Palast noch höher als gewohnt. Die Isolation wurde umso offenkundiger, als ich aus Rücksicht auf die empfindlichen Augen der Patientin angeordnet hatte, in sämtlichen Krankenzimmern die Gardinen zuzuziehen.

Mein Kollege Professor Fjodorow unternahm in dieser Situation einen allerletzten Versuch, die Verfassungskrise zu lösen, die, wie allen inzwischen klar war, anscheinend unaufhaltsam näher rückte. Als die telegrafischen Meldungen vom Ausbruch der Masern Seine Majestät im Hauptquartier erreichten, während etwa gleichzeitig die ersten Bulletins über die nach Brot anstehenden Menschen in Petrograd eintrafen, schlug der Professor vor, die Zarin solle mit ihren Kindern zur Rekonvaleszenz auf die Krim reisen, sobald die Krankheit überwunden sei. Ich konnte nicht anders, als diesen Vorschlag zu unterstützen, als die Zarin die Frage später mit betont gleichgültiger Miene zu Sprache brachte.

»Der Palast muss ja auf jeden Fall gründlich desinfiziert werden«, fügte ich hinzu.

»Das Gleiche schreibt auch Seine Majestät«, erwiderte sie. »Er scheint es für einen ausgezeichneten Vorschlag zu halten.«

Nicht zufällig fiel dieser Plan einer Rekonvaleszenz direkt mit den Vorschlägen zusammen, die schon mehrmals geäußert worden waren, dass nämlich die Zarin in den Sommerpalast Liwadia auf der Krim verbannt werden solle, damit sie sich nicht mehr auf ihre völlig unberechenbare Weise in der Hauptstadt als »Stellvertreterin« des Zaren in staatliche Angelegenheiten einmischen könne. War die Begründung zunächst politisch gewesen, war sie jetzt medizinischer Natur, und da konnte sogar der Zar sie befürworten, und das mit einem Enthusiasmus, den er vor seiner Gemahlin nicht ganz hatte verbergen können.

Am 28. Februar 1917 setzte sich der Hofzug des Zaren von dem militärischen Hauptquartier in Mogilew aus in Bewegung, diesmal in nördlicher Richtung nach Petrograd. Mehrere Tage lang war der Zug ohne Kontakt mit der Umwelt, denn er landete an einem Ort, den niemand erwartet hatte. Warum hielt der Zug des Zaren in Pskow?

Das war die Stadt, in der er abdanken sollte.

Was sollen wir in Jekaterinburg?

In der Nacht zum 3. März um halb vier läutete das Telefon im Alexander-Palais. Es war ein Mitglied der provisorischen Regierung, das mit dem Leibarzt des Zaren zu sprechen wünschte:

»Ist der Thronfolger tot?«

Die Frage war ebenso überraschend wie der Zeitpunkt, zu dem sie gestellt wurde.

»Die Masern sind keine tödliche Krankheit«, entgegnete ich, »es sei denn, es kommt zu Komplikationen.«

Nachdem ich eingehängt hatte und in mein Zimmer zurückgekehrt war, wurde die Frage akut: Der Zar konnte gestürzt und die Umwälzung eine Tatsache sein, aber warum in aller Welt sollte der Thronfolger tot sein?

Spät am nächsten Tag kam Großfürst Paul in die Residenz und erstattete Bericht. (Ganz Petrograd war längst orientiert.) Der Zar hatte am Abend des 2. März abgedankt, nicht zugunsten seines Sohnes, des Thronfolgers, sondern für seinen Bruder, Großfürst Michail, zugunsten des Mannes, der den Versuch gemacht hatte, seinen Platz in der Thronfolge gegen ein Leben in Schönheit zu vertauschen. Wie konnte der Herrscher seine königlichen Insignien niederlegen, ohne dass der Zarewitsch Zar wurde? Nur der Tod konnte dem Volk eine begreifliche Erklärung geben. Aus diesem Grund läutete das Telefon.

Um meine eigene Antwort zu finden, muss ich das am Hof übliche klischeehafte Denken aufgeben und nach ihr selbst draußen auf den nächtlichen Bahnsteigen suchen.

Der Leibarzt des Zaren

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