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25. April

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Plusgrade, starker Wind, Sonne, Schneefall mitten am Tag.

Als wir uns abends zu Tisch setzten und versuchten, das Essen in uns hineinzukauen (gekochtes Fleisch), hörten wir von unten Geschrei und schnelle Schritte auf der Küchentreppe (die zu der Anrichte zwischen Speisezimmer und Küche führt), und plötzlich stand Ukraintsew in der Tür. Er hatte einen Zettel in der Hand.

»Telegramm aus Tobolsk«, sagte er. »Von meiner lieben Prinzessin!«

Er überreichte das Papier dem sichtlich bewegten Zaren, der es einmal für sich las und dann laut: »Alles wohlauf. Der Kleine schon im Garten. Olga.« (Ungefähr so.) Ein Seufzer der Erleichterung. Ukraintsew grinst.

Sowohl der Zar als auch die Zarin dankten dem Chef der Wache, der bedauernd erklärte, er müsse sich gleich wieder in das Souterrain zurückziehen.

»Bald werden wir sie hier haben«, konnte er sich nicht verkneifen zu sagen, während er sichtlich vergnügt die Treppe hinunter verschwand.

Ich war der Einzige, der sich das Wort gemerkt hatte: Er sagte nicht »alle vier«, er sagte nur »sie«. Olga.

»Alles wohlauf« war das Wichtigste. Das schloss alle ein, die Großfürstinnen, meine eigenen Kinder. »Der Kleine schon im Garten.« Also ist der Zarewitsch auf dem Weg der Besserung. Die Abreise rückt näher.

Erst muss das Eis verschwinden, damit es möglich wird, den Fluss zu befahren. Den Thronerben in einen Bauernkarren zu verfrachten, wie man das Zarenpaar transportiert hatte, würde ihm schon nach ein paar Kilometern den Tod bringen. Ich beneide Dr. Derewenko nicht um seine gegenwärtige Verantwortung, nicht die für die Zukunft Russlands, sondern die für das Leben des Kindes. Wer hätte geglaubt, dass Alexej Nikolajewitsch einmal das Zarentum überleben, dass der Erbe das Erbe überleben würde?

Niemals zuvor ist der Zarewitsch ohne seine beiden Eltern gewesen. Die Töchter auch nicht. Die chaotische Reise macht mir wegen der Großfürstinnen mehr Angst als wegen »des Kleinen«.

Möge ihre Schönheit sie beschützen.

Ich befürchte das Gegenteil.

Alexandra Fjodorowna hat den ganzen Tag Kopfschmerzen gehabt. Zum Mittagessen brachte Sednjew ihr Makkaroni mit Brot und Butter ins Zimmer. Um sich nicht mit Stickereien oder anderer Handarbeit anzustrengen, ruht sie mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Dennoch schafft sie es nicht, den Schmerz zu besiegen. Er liegt auf der Innenseite der Augenlider. In den Fensterrahmen hat sie ein Hakenkreuz geritzt, das gleiche Symbol, mit dem Großfürstin Tatjana den Umschlag ihres Tagebuchs bestickt hat. Es soll wohl Glück bringen.

Nikolaj Alexandrowitsch hat Kontakt aufgenommen, nicht mit Ukraintsew, dem »Freund der Familie«, sondern mit mehreren der Wachen. Er fühlt sich unter Männern in Uniform automatisch zu Hause, und ein schäbiger Soldat ist ihm lieber als ein geschniegelter Zivilist. Mag die Zeit auch vorbei sein, in der er noch glaubte, die Soldaten gehorchten Befehlen aus Überzeugung, dass sich in der militärischen Hierarchie die Liebe zum Zaren widerspiegelte. Dennoch fühlt er sich unter Uniformen immer noch am geborgensten. Dem Zivilstaat haftete in seinen Augen immer der Keim von etwas Unvorhersehbarem an, etwas Demokratisches.

Seine glücklichsten Monate (seit der Verlobungszeit) erlebte Nikolaj Alexandrowitsch, wie ich glaube, als der blutige Krieg am heftigsten tobte. Da hatte er den Thronfolger in relativer Gesundheit bei sich, und im Hauptquartier teilten sie ein Zimmer. Am Tage folgte ihm der Sohn wie die Miniaturausgabe eines Adjutanten. Alexej Nikolajewitsch hatte im Herbst 1915 und im Frühjahr 1916 gute Perioden. Jeder konnte sehen, dass der Zar einen Nachfolger hatte. Einen Jungen, der gehen und sprechen, eine Uniform tragen und wie ein ordentlicher Soldat grüßen konnte (die Haltung war untadelig). Kein Krieg konnte den Zaren brechen, solange der Sohn an seiner Seite im Feldbett schlief. Kein Blutverlust an der Front konnte die Geduldsgrenze des Herrschers übersteigen, solange der Thronfolger nur gesund war.

Was dachten die Soldaten, wenn der Zar sie mit einem Elfjährigen an seiner Seite musterte? Stärkte sie der Gedanke an die Aufrechterhaltung der Dynastie, daran, dass das Zarenhaus Bestand haben würde, selbst wenn sie fielen? Oder wurden sie in ihrer Todesbereitschaft geschwächt beim Anblick von etwas, das sie verdrängt hatten, beim Gedanken an ihre eigenen Kinder, an Töchter, die sie nie wiedersehen würden, an Söhne, die ihre Bürden als Versorger übernehmen mussten, ihren Platz hinterm Pflug auf den Feldern? Vielleicht fragten sie sich: Was hat ein Kind hier draußen an der Front zu suchen? Ist dieser unwirkliche Anblick vielleicht doch nur ein Spiel?

Für den Zarewitsch war es eine Reise in die Ursprünge der Selbstherrschaft. Er konnte in einer Welt aus Zinnsoldaten herummarschieren, in der die Waffen neu waren, während alles andere sich so bewegte, wie es Ururgroßvater Nikolaj I. einmal bestimmt hatte. Als die Inspektion zu Ende gebracht und die Abteilungen in den Krieg gezogen waren, konnte Alexej Nikolajewitsch wieder zu dem neutralen Schweizer M. Gilliard und den anderen zivilen Lehrern im Hauptquartier hinübergehen. Bevor der Zar und der Thronfolger sich für die Nacht in ihren Feldbetten niederlegten, standen die Spezialisten Doktor Derewenko und Professor Fjodorow bereit, um sich zu vergewissern, dass nach den Strapazen des Tages alle Blutgefäße noch intakt waren.

Es war ein Spiel. Und der Zar glaubte, es würde von Dauer sein. Das Zarentum hat immer auf dem russischen Bauern geruht, ob nun mit oder ohne Uniform. Ein Fundament, ebenso beständig wie die Straßen im Frühjahr in einem sibirischen Dorf. Eine russische Nation hat es nie gegeben, nur eine slawische Ordnung, die zwischen Oberhaupt und Untertanen unterschied. Das Zarentum war das einzige strukturierende Prinzip dieses Volkes. Den Zar zu entfernen ist so, als würde man auf den russischen Steppen den Schnee schmelzen lassen. Dann gibt es keine Möglichkeit mehr voranzukommen, weder mit Wagen noch Schlitten, alles fährt sich fest, und andere Verbindungsmöglichkeiten gibt es nicht.

Die Propagandabilder von Vater und Sohn an der Front ließen zwangsläufig an die vielen Bilder von Zar Nikolaj und Nikolaj Nikolajewitsch aus den ersten Jahren des Krieges denken, als der alte Großfürst der oberste Kriegsherr war. Neben seinem zwei Meter großen Verwandten sah der Zar aus wie ein Kind. Erschreckend waren die unmittelbaren Eindrücke der Bilder. Sie enthielten eine Wahrheit. Die gesamte Autorität war in der Gestalt des weißbärtigen Hünen verkörpert. Er war ein absoluter Monarch, und in diesem Mann erhielt das System seine Glaubwürdigkeit. Nikolaj Alexandrowitsch war zwar gut gewachsen, doch offenbarte sich im Schatten des kolossalen Vetters seines Vaters seine richtige Dimension. Dass dies so deutlich sichtbar war, machte Alexandra Fjodorowna rasend und führte zu mehreren ernsten Ausbrüchen von Hysterie, danach zum Sturz des obersten Befehlshabers und zur Beförderung des »Kindes«.

Das Geschlecht der Romanows hat viele Hünen hervorgebracht. Ich habe selbst bemerkt (bevor meine Kilos schwanden), wie ein großer Körper Autorität verleiht. Entscheidend ist aber nicht die Größe des Körpers, sondern die Stärke des Willens. Der Wille zu herrschen muss aus Körperhaltung und Gesichtszügen des Autokraten sprechen. Nikolaj Alexandrowitsch ist schon beim ersten Blick entlarvt. Der Körper nimmt zwar die vorgeschriebene militärische Haltung ein, doch wirkt sie einstudiert, wie bei einem beliebigen Pagenkorps. Das Gesicht drückt keine Tatkraft aus. Ihn umgibt eine Aura von Ruhe. Die Augen sind von tiefblauer Schönheit. Er kann Sympathie und Liebe wecken, wie man sie für eine Frau oder ein Kind empfindet. Der Zar wirkte auf die Menschen alles andere als furchteinflößend. Das war das Erschreckende.

Der Zarewitsch steht im Begriff, das Herrschertemperament zu entwickeln. Das hat er von der Mutter, das und die Krankheit. Ihn prägt das Leiden, angefangen bei den unerträglichen Schmerzen, dem Verbot jeglicher Bewegung, der Isolation im Krankenbett, dem Gefühl, anders zu sein, bedeutend zu sein. Muss der Selbstherrscher eine ähnlich ungewöhnliche Kindheit und Jugend durchleben, um ein Weltbild zu formen, ein Selbstverständnis als Alleinherrscher? Kann er nur so zum Herrscher werden, entweder als Menschenfreund oder als Despot?

Die Antworten liegen in Alexandra Fjodorownas Psychologie verborgen, hinter den Augenlidern der Zarin, begraben im Herzen meiner Patientin. Ich habe ihr die Diagnose gestellt, ein vergrößertes Herz, ein gesprengtes Organ, das lähmend auf die übrigen Funktionen des Körpers wirkt. Überdies: Hysterie und Kopfschmerzen. Niemand kann sie länger gegen das abschirmen, was sie genötigt ist zu sehen.

Heute ist das Erbe seiner kaiserlichen Gewänder entkleidet. Die Nachkommen stehen wieder mit ihren körperlichen und psychischen Eigenheiten da, mit Krankheit und Gesundheit, Intelligenz und Schönheit. Als Erstgeborene wurde Olga Nikolajewna zur Trägerin der glänzenden Augen ihres Vaters, der unsterblichen Juwelen in dieser dynastischen Konkursmasse.

Der Leibarzt des Zaren

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