Читать книгу Der Leibarzt des Zaren - Tor Bomann-Larsen - Страница 13
23. April
ОглавлениеEs ist unmöglich, länger zu schlafen als bis neun Uhr, selbst wenn es nachts spät geworden ist. Badezimmer und Toilette sind oft besetzt, und so begebe ich mich spät dorthin, nachdem die Kaiserlichen wieder in ihren Zimmern sind. Um zehn Uhr bekommen wir Tee und Schwarzbrot mit oder ohne Butter (der Zufall bestimmt darüber, ob es Fett gibt oder nicht). Danach ist Inspektion beim Kommandanten. Mittagessen um zwei Uhr.
Wir gingen eine Stunde spazieren. Das Thermometer zeigt ständig Minusgrade an. Noch immer liegt ein wenig Schnee. Sonne. Später las der Zar seiner Familie vor, ich schlief. Der Rhythmus ist der gleiche wie im Alexanderpalast, oder, wenn man so will, wie am englischen Hof. Wir haben kaum noch Fleisch auf den Knochen, und das Skelett schimmert durch. Tee um fünf Uhr, warmes Essen um acht (heute schon um sieben). Oft essen wir mittags und abends das gleiche Gericht. Noch in Tobolsk war die Zusammenstellung der Gerichte ein Thema, das der Zarin täglich vorgelegt wurde, obwohl die Zutaten schon sehr knapp geworden waren. Die Speisekarten verschwanden erst in Jekaterinburg zusammen mit den Gedecken und der Tischwäsche.
Es ist vielleicht ein Zeichen von Gesundheit, wenn ich die Arbeit mehr vermisse als das Essen. Durch die acht Monate in Tobolsk erhielt ich Gelegenheit, als gewöhnlicher Dorfarzt zu praktizieren. Vormittags Sprechstunde, nachmittags Krankenbesuche in der Stadt. Ich hielt im Kornilow-Haus gegenüber der Gefängnisresidenz der kaiserlichen Familie meine Sprechstunde ab. Zum ersten Mal in zehn Jahren besaß ich keine Privilegien mehr. Darin lag der Unterschied. Nicht in der äußeren Würde des Patienten oder seinem Stand, und so spielte es keine Rolle, ob die Konsultation in einem Schloss stattfand oder einem Krankenhaus. Der Unterschied bestand vielmehr darin, dass ich, der Leibarzt des Zaren im Generalsmantel, durch die schmutzigen, von Schnee schweren Wege waten und an den bettelarmen Häusern anklopfen und eintreten musste. Ich musste mich den Leiden des Patienten unterwerfen, nicht der Krankheit, sondern der Armut. Kein Schreibtisch, kein Assistent, kein Titel konnte mich länger schützen. Im Gegenteil, die Bezeichnung »Leibarzt des Zaren« hatte meine Person gebrandmarkt, mich vogelfrei, fast aussätzig gemacht wie einen General der kaiserlichen Armee, den man selbst dem einfachsten Fußsoldaten untergeordnet hatte. Nur meine Kenntnisse, meine Fertigkeiten und vielleicht meine Menschlichkeit bewirkten, dass ich immer noch ein gerngesehener Mann war, ja, gelegentlich sogar zu einem Lichtträger in den Kammern der Dunkelheit wurde. Niemals zuvor, nicht einmal in den stinkenden, überfüllten Lazaretten der Kriege ist mir mein eigentliches Privileg so klar geworden; nie zuvor habe ich es so gut verstanden, Menschen zu heilen.
Jetzt diene ich nur dem Zaren. So tief bin ich gesunken. Ich bin nicht mehr würdig, außerhalb des Gefängnisses tätig zu sein, ich bin ein vom Leben abgeschnittener Arzt, so wie der Zar bei seiner Abdankung zu einem Herrscher wurde, der von seinen Untertanen abgeschnitten ist.
Die äußerste Pflicht des Arztes besteht darin, sich selbst am Leben zu erhalten. Aus diesem Grund werde ich auch damit fortfahren, mich durch die Nächte hindurchzuschreiben. Die Tage gehören der Geschichte, sie werden die Städte Tobolsk und Jekaterinburg einmal zu Namen machen, an die sich die Menschheit erinnern wird, wie an Elba oder St. Helena.
Die Nächte gehören mir.
Von Zeit zu Zeit schneit es.
Weiß wie der Bart meines Vaters, weiß wie sein Gesicht an dem Sonntag, an dem er mit frisch gewaschenen Händen vom Winterpalais zurückkehrte, aber mit dunklen Flecken überall auf dem abgetragenen Anzug. Prof. Dr. Sergej Petrowitsch Botkin hatte soeben den Tod eines Zaren verkündet. Als er endlich zu Hause war, ließ er sich in den nächsten Stuhl fallen und schnappte nach Luft.
Es war ein klarer früher Sonntagnachmittag, als im Abstand weniger Minuten zwei starke Explosionen zu hören waren. Kurz darauf wurde der Leibarzt des Zaren in den Palast gerufen. Ein roter Läufer aus Blut wies den Weg über die Marmortreppe ins Obergeschoss, bis zum Arbeitszimmer des Monarchen. Hier herrschte die Panik, wie so oft, bevor der Arzt am Ort der Katastrophe angekommen ist.
Der uniformierte Oberkörper Seiner Majestät lag neben dem Schreibtisch auf einem Diwan. Die unteren Körperteile ließen sich nicht mehr identifizieren. Wo soll ein Arzt ansetzen, wenn der halbe Mensch schon die Form anatomischer Makulatur angenommen hat? Soll er die Blutungen stillen, Sauerstoff zuführen? Zusammen mit drei Kollegen und einer Sauerstoffflasche kämpfte mein Vater, nur unterbrochen vom Eindringen des Metropoliten mit der letzten Ölung, verzweifelt darum, die Regentschaft Seiner Majestät Alexanders II. zu verlängern. Sie verlängerten sie um fünfundvierzig Minuten.
Das siebte Attentat tötete ihn. Die Equipage des Zaren war nicht nur geschlossen, sie war gepanzert; wie eine rollende Eisenzelle, umkränzt von sechs Kosaken zu Pferde, gefolgt von den Schlitten der Gendarmen, wurde sie von zwei Pferden gezogen, die auf dem Weg zum Winterpalais am Katharinakanal entlang dahintrabten.
Da wurde ein Schneeball geworfen.
Zur Verblüffung des Gefolges detonierte der Ball in dem Moment, als er auf der Anhöhe vor dem Wagen des Zaren einschlug. Die Explosion traf Menschen und Tiere, aber nicht Seine Majestät. Schockiert, aber unverletzt öffnet der Zar die Tür, trotzt den Warnungen des Kutschers und steigt in dem Moment, als sich der Rauch verzieht, von seiner gepanzerten Equipage herab. Er will sich um seine verwundeten Untertanen kümmern, um einige Kosaken und einen Bäckergesellen, der gerade vorbeigekommen war.
In dem Augenblick wird noch ein Schneeball geworfen.
Irgendwo im Menschengewimmel um das Sterbebett des Großvaters herum stand der 13 Jahre alte Prinz Nikolaj in seiner blauen Matrosenjacke, unbeweglich, doch bis ins Mark seiner Seele erschüttert. In dem Augenblick, in dem mein Vater den Pulsschlag am Handgelenk des Zaren nicht mehr spürte, wurde Nikolaj Alexandrowitsch zu Russlands Zarewitsch erhoben.
Der neue Zar, der Hüne Alexander Alexandrowitsch, und die gesamte kaiserliche Familie fielen auf die Knie. Gleichzeitig stürzte eine junge Frau in einem blutüberströmten Negligé zu Boden. Erst in diesem Augenblick, als sie im Blut ihres Mannes lag, wurde die dem Autokraten ehelich angetraute Geliebte als rechtmäßige Ehefrau ihres Mannes anerkannt.
Drei Tage später hätte der Ministerrat unter Leitung Alexanders II. zusammentreten und Russlands neue Verfassung verabschieden sollen, die Abschaffung der Autokratie; zwanzig Jahre nach Aufhebung der Leibeigenschaft sollte der Zar, der Befreier, sein Volk zum ersten Schritt in die Epoche der Mehrheitsentscheidungen führen. Es war diese historische Umwälzung, die mein Vater am 1. März 1881 um fünf nach halb vier mit klarer Stimme verkündete, als der Tod seines Patienten eingetreten war. Im selben Augenblick wurde die Alleinherrschaft in die mächtigen Hände Alexanders III. gelegt, und die neue Verfassung wurde damit ebenso ungültig wie der Kalender des Vorjahres.
Dazu brauchte es drei Tage.