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18. April

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Der Tag ist das Licht zwischen zwei Nächten.

Dreizehn Tage trennen uns von unseren Bewachern. Sie bewegen sich im Takt mit dem gregorianischen Kalender, wir folgen dem Bindeglied zu der alten Zeit, zu der julianischen Ordnung. Wir befinden uns in der Karwoche, in einem Ritual, das unsere Bewacher längst hinter sich gelassen haben. Den Kalender aufgeben heißt Gott abschreiben.

Ich liege im Salon, einem großen Zimmer mitten im Haus mit zwei Türen, von denen jede zu einem eigenen Universum führt. Das Feldbett steht nur einen Meter von der Doppeltür zum Gang entfernt, von dem eine Tür zur Eingangshalle mit einer Treppe zum Souterrain und eine weitere zum Wachbüro des Kommandanten führt. Auf der anderen Seite liegt das Esszimmer. Hinter diesem düsteren Raum, in dem wir alle unsere Mahlzeiten einnehmen sollen, befinden sich drei helle Schlafzimmer, die für die Zarenfamilie gedacht sind.

Die Lampe habe ich auf einen kleinen Tisch zwischen der Eingangstür und dem Kopfende gestellt. Das Licht fällt direkt auf das Kopfkissen. Von der anderen Seite der Wand höre ich das Rumoren des Kommandanten und von Gardesoldaten, die im Büro ein und aus gehen.

Gegen das Kissen vor dem Eisengitter gelehnt, habe ich Aussicht auf vier hohe Fenster mit schweren Gardinen. Ein Teil des Salons mündet in eine Nische, typisch für die moskowitische Architektur des Hauses, bei der Tapetenornamente und Stuckatur in dunkleren, goldeneren Farbtönen gehalten sind. Direkt in der Wölbung steht ein schwerer Schreibtisch. Von dort habe ich die Lampe geholt.

Was das Leselicht angeht, habe ich beschlossen, auf meine zwei Zimmergenossen keine Rücksicht zu nehmen. Beide haben ihre Betten an der innersten Wand im Zimmer platziert, hinter der Tür zum Esszimmer. Es sind die alternden Kammerdiener des Zaren, die unentbehrlichen Tschemodurow und Iwan Sednjew, der ursprünglich Matrose an Bord des Zarenschiffs Standart war, der aber als Diener der Töchter Seiner Majestät nach Sibirien mitgekommen ist. Das Kammermädchen der Zarin, Anna Demidowa (Njuta), hat sich im Esszimmer schlafen gelegt. Das Zarenpaar hat zusammen mit der Tochter, Großfürstin Maria, das helle Eckzimmer eingenommen. Während mich nur eine tapezierte Wand von dem bolschewistischen Kommandanten trennt, liegt zwischen mir und dem Zarenpaar ein großer offener Raum.

So wurden wir gestern bei unserer Ankunft einquartiert, drei Mitglieder der Zarenfamilie, drei Diener und ich, der siebente, die allein das Gefolge bilden, den Hofstaat des Zaren. So begaben wir uns schon am ersten Abend zur Ruhe. Weit weg von unseren Angehörigen in Tobolsk und noch weiter entfernt vom Zentrum der Macht in Moskau.

Wir wurden von Hornbläsern geweckt. Seine Majestät war früh auf den Beinen. Die Töne von Trommeln und Blechbläsern schienen ihn zu beleben. Es waren jedoch keine Zarenmärsche. Der Musik folgte ein grober, unartikulierter Gesang, und als die Meute vor dem Palisadenzaun vorbeizog, wurden sogar die Trompeten von unangenehmen Rufen übertönt, vorzugsweise von fantasievollen Formulierungen, die dem Hass auf die Zarin entsprungen waren, Schmähungen, die nur die Dienerschaft und ich selbst verstehen konnten. In den graublauen Augen der Fürstin Maria erkannte ich das Wort vom Bahnsteig wieder, »den Blutigen«, und ertappte mich dabei, dass ich Fürst Dolgorukows Replik vermisste. Als das Orchester etwas intonierte, worin wir die französische Nationalhymne wiedererkannten, das Revolutionslied, kam mir der Einfall, uns dreizehn Tage weiter zu zählen. Nach der neuen Zeitrechnung war es der 1. Mai.

Niemandem fiel es leicht, die Feiern des Vorjahrs zu verdrängen, als ein ähnlicher Aufzug lärmend vor dem Gitterzaun vor dem Alexanderpalais in Zarskoje Selo vorüberzogen war. Selbst wenn uns in diesem Jahr der Anblick der Fahnen und der Menschenmasse erspart blieb, waren die Laute und Rufe erheblich näher gekommen. Es sind vier oder fünf Meter zwischen dem Haus und der Palisade, doch zum Glück waren die Fenster geschlossen. Überdies blieb uns der Trauermarsch erspart. Wir möchten lieber die »Marseillaise« hören oder auch die »Internationale«, selbst in ihren schauerlich russifizierten Versionen, als Chopins Trauermarsch. Dieser hatte vergangenes Jahr zu Ostern durch das Alexanderpalais gedröhnt, als man aus dem Begräbnis der »Opfer der Revolution« vor den Schlossfenstern eine große Angelegenheit machte. Die Prozessionen wiederholten sich so oft, dass am Ende die gesamte Zarenfamilie und der halbe Hof Chopin vor sich hinpfiff. Auch in Tobolsk blieben uns Volksparaden vor der »Zarenresidenz« nicht erspart.

Dies ist unser drittes Gefängnis. Das Imperium schrumpft.

Mein ältester Sohn Mima wurde nie gefunden. Nur der leere Sattel, ein Koffer und ein Datum, der 3. Dezember 1914, kehrten von der Front zurück. Der Zar überreichte mir stellvertretend für meinen Sohn das St. Georgskreuz für erwiesene Tapferkeit. Ein blankes Kreuz, ein leuchtendes Kreuz, aber keine Brust mehr, an die man es heften konnte.

Erst als der Zug aus Zarskoje hinausrollte, stieg ich in den Sattel. Ich saß noch fünf Tage später im Sattel, nachdem wir die Reise von Tobolsk angetreten hatten. Nur wenn ich dem Zaren folgte, nur wenn ich meine überlebenden Kinder verließ, konnte ich als Vater Bedeutung bewahren. Als Seine Majestät den Thron aufgab, wurde ich auf eine neue Weise an ihn gebunden. Die Abdankung machte jede Ausrede ehrlos, und für denjenigen, der einen Sohn auf dem Schlachtfeld verloren hat, ist sie unmöglich. Wenn alle Normen sich in Auflösung befinden, bin ich gezwungen, an dem Begriff Ehre festzuhalten und ihn zumindest mit Anstand zu erfüllen. Sowohl um der Toten als der Überlebenden willen. Ich vermisse meine Kinder. Die beiden in Tobolsk, das dritte in Petrograd, am meisten jedoch den Erstgeborenen, der für immer nicht mehr da ist. Ihm stehe ich am nächsten.

Jeden Tag ein wenig näher.

In unserem Leben wurde dies der Tag der Revolution, der 13. April 1918. Die Umwälzung ereignete sich im Morgengrauen, als Kommandant Jakowlew unserem Gefolge aus gebrechlichen Bauernkarren den Marschbefehl erteilte. Die Bolschewiken hatten in Brest-Litowsk mit unseren deutschen Feinden das Friedensabkommen unterzeichnet, und damit hatte sich Russland aus dem Weltkrieg verabschiedet. Der Feldzug aus der Vergangenheit setzte sich in Bewegung.

Die Zarenfamilie wurde auseinandergerissen, die Töchter voneinander getrennt. Und ich sah meine eigene Tochter hinter einer Glasscheibe auf der anderen Straßenseite mit erhobener Hand dastehen. Ich schaffte es immerhin, mich vor ihr zu bekreuzigen (und vor Gleb, von dem ich wusste, dass er schlief), denn die Kolonne hatte Tobolsk verlassen, unseren Aufenthaltsort für acht lange Monate.

Bis dahin waren alle Entscheidungen selbstverständlich und schicksalsbestimmt gewesen. Die Privilegien hatten sich aufgelöst, die Leibwache war mit Gefangenenwärtern vertauscht worden, doch das Leben selbst hatte seinen Zusammenhang bewahrt. Unsere familiären Bande, unsere menschlichsten Bindungen waren immer noch unangetastet.

Als der Vormarsch hier in Jekaterinburg zum Stehen gekommen war, richteten sich alle Gedanken zurück nach Tobolsk, zu denen, die wir verlassen hatten, zu den Elternlosen, den Unbeschützten. Den größten Teil des Tages bin ich recht unbesorgt, was meine eigenen zwei Kinder betrifft. Sie befinden sich zum ersten Mal östlich des Ural, aber die Welt ist ihnen nicht unbekannt. Die Straße, die Stadt, ja, das ganze Land, in dem sie aufgewachsen sind, sind etwas anderes geworden, und gleichwohl befinden sie sich in der gleichen Menschenwelt aus Gut und Böse, in der sie immer gelebt haben. Die Kinder des Zaren hingegen haben niemals in dieser Welt aus Gegensätzen und Wahlmöglichkeiten gelebt. Sie sind unter dem allmächtigen Schutz des Zaren aufgewachsen, unter dem Gesetz der Dynastie, unter den allumfassenden Schwingen des Doppeladlers.

In Tobolsk haben der Zarewitsch Alexej und die drei verbliebenen Großfürstinnen immer noch einen Dienerstab und einen Hof von annähernd vierzig Personen um sich. Es sind nicht die Untertanen, sondern das Oberhaupt, das ihnen fehlt. Die Kinder des Zaren haben den Zaren verloren. Meine Gedanken gehen nicht zu dem Schwächsten, dem Jüngsten und Kranken, sie gehen vielmehr zu der Ältesten, die versuchen muss, die Lücke zu füllen und den Thron einzunehmen. Niemand ist so verlassen wie die Großfürstin Olga, die zweiundzwanzig Jahre alte Zarin von Tobolsk.

Die Nacht ist das Versteck der Seele.

Unsichtbar verlaufen die Fluchtlinien des Gedankens, entlang der nächtlichen Gleise. Zurück, immer zurück.

Der Leibarzt des Zaren

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