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Gründonnerstag, den 19. April

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Durch die Fenster können wir ein goldenes Kreuz erkennen. Es gehört zum Zwiebelturm der Himmelfahrtskathedrale auf der anderen Seite des Platzes, an dem das Haus liegt. Wir sahen die Kirche, als man uns von der Bahn herbrachte. Der Turm ist das Einzige, was man über die Palisade hinweg erkennen kann. Wenn das oberste Fenster einen Spaltbreit geöffnet ist, hören wir die elektrische Straßenbahn und die Pferdekarren der Bauern, die über die Pflastersteine des Himmelfahrtsplatzes rumpeln.

Das Haus steht auf einem Hang, es hat ein Dachgeschoss, eine Hauptetage und ein Souterrain. Auf der Rückseite liegt eine Veranda, von der eine recht breite Treppe zu einem kleinen Garten hinunterführt, in den ich Seine Majestät nach dem Mittagessen zu einem einstündigen Spaziergang eskortierte. Nikolaj Alexandrowitsch schlug vor, dass auch die Zarin mitkommen solle, da die Sonne schien und es recht warm war.

»Es weht«, erwiderte Alexandra Fjodorowna mit erschöpfter Miene. »Maria hat mir das Haar hochgesteckt.«

Die Großfürstin erbot sich zugleich, der Mutter Gesellschaft zu leisten, ihr etwas vorzulesen und danach neue Briefe nach Tobolsk zu schreiben. (Gott allein weiß, ob sie jemals ankommen.) Maria Nikolajewna ist zuvor nie von ihren Schwestern getrennt gewesen. Als Nummer drei in der Reihe kann sie sich ein Dasein ohne Olga, Tatjana und Anastasia nicht vorstellen, ebensowenig wie die Zarin ohne den Gedanken an den Zarewitsch existieren kann. Alexandra Fjodorowna war im Übrigen am Vormittag höchst aufgebracht, als sich herausstellte, dass die Gardesoldaten den Samowar völlig leergetrunken hatten.

Der Gefängnishof erwies sich als höchst ungeeignet für Spaziergänge von Damen. Ohne ihre neugierigen Blicke auch nur im mindesten zu verbergen, lümmelten die Wachposten zwischen den Verandasäulen und am Zaun herum. Sie trugen halbmilitärische Requisiten und waren mit Gewehren und Säbeln bewaffnet, einige auch mit einer Pistole im Gürtel. Seine Majestät tat, als bemerkte er die schäbige Aufmachung nicht, und doch weiß ich, dass er an der Kleidung eines Soldaten auch das kleinste Detail registriert. Immerhin ist er jahrzehntelang durch Inspektionen und Paraden gedrillt. Er stellt sofort einen Kontakt her, sobald er bei einem der Gardisten ein freundliches Gesicht oder eine zugängliche Haltung bemerkt. Es dürfte eher meine hochgewachsene, halb grauhaarige Erscheinung sein, die abschreckend wirkt. Die schlanke und zugleich bescheidene Gestalt Seiner Majestät in der schmucklosen Soldatenbluse, mit dem freundlichen Gesichtsausdruck und den stets aufmerksamen Gesten bewegt sich wie der personifizierte Widerspruch des Selbstherrschers in sich.

Als wir die Holztreppe hinaufgingen, erkundigte er sich sehr rücksichtsvoll, ob ich mir um meine Kinder in Tobolsk große Sorgen mache. Das tue ich selbstverständlich, doch ich erwiderte:

»Mit ihren achtzehn und zwanzig Jahren sollten sie auf sich selbst achtgeben können, sofern es überhaupt möglich ist, unter den herrschenden Zuständen auf etwas zu achten.«

Seine Majestät seufzte. Er brauchte nicht zu sagen, dass auch seine Gedanken sich in Tobolsk befanden, wo sie zuerst und zuletzt um das Krankenlager des Zarewitsch kreisten. Ich brachte das Thema nicht zur Sprache, da ich keinerlei Trost zu geben hatte.

Nikolaj Alexandrowitsch kommt ohne den Hofstaat erstaunlich gut zurecht, doch wenn er seine Kinder nicht um sich hat, erweckt er einen bemitleidenswerten Eindruck. Der Alleinherrscher ist für die Einsamkeit nicht geschaffen.

Es sind die Krankheit und seine Stellung als Thronfolger, die dem Zarewitsch in den Augen beider Eltern eine absolute Sonderstellung verleihen. Sowohl für die Mutter als auch für den Vater ist der Sohn der Lebensinhalt, der einzige Mensch, den sie formen sollen, der das Ererbte erheben und weitertragen sollte.

Die Trennung fällt Alexej Nikolajewitsch bestimmt nicht leichter. Er hat eine starke Bindung an seine Mutter und sieht, wie nicht anders zu erwarten, in dem Vater sein Vorbild. Und obwohl Nikolaj Alexandrowitsch alles andere als ein dünkelhafter Mensch ist, räumt er dieser Bewunderung einen sehr hohen Stellenwert ein. Ich glaube, dass er die Sehnsucht des Sohns ebenso stark empfindet wie seine eigene. Vielleicht dem Alter, aber nicht der Reife nach war er erwachsen geworden, als er selbst seinen Vater verlor, den großen, hoch bewunderten Zaren Alexander. Nichts wünscht er seinem einzigen Sohn weniger als einen Vater, der ihm die Bürde der Macht auf die Schultern legt, wie es sein Vater einst getan hatte.

Alexej Nikolajewitsch blickt zu seinem Vater auf, und Alexandra Fjodorowna blickt zu ihrem Sohn auf. Nikolaj Alexandrowitsch blickt zu seiner Gemahlin auf. Dieses Machtdreieck lässt sich deuten und umdeuten, doch im Verlauf der letzten dreizehn Jahre hat es hinter den Säulenfassaden und unter den Zwiebeltürmen das psychologische Zentrum im Leben des Reiches gebildet.

Um halb sieben wurde endlich Tee serviert. Der Zar las aus dem Buch Hiob. Danach holten die Zarin und Maria Nikolajewna alles, was sie an Ikonen und heiligen Gegenständen mitgebracht hatten, und platzierten sie auf dem Schreibtisch gleich in der Nische.

Auf Nikolaj Nikolajewitsch Ipatjews Schreibtisch wurden zwei Kerzen angezündet. Es ist sein Haus, es sind seine Möbel, seine Bilder und Teppiche; er ist Hauptmann im Ingenieurkorps des Heeres, und wie es heißt, auch Kaufmann. Ich weiß nicht, was er kauft und verkauft, doch hat er seine Geschäfte mit Geschick betrieben. Das Haus ist nicht viele Jahre alt, es ist solide, aufwendig, fast übertrieben und recht geschmackvoll eingerichtet. Alles weist auf einen soliden Bürger hin, einen der bestsituierten Bewohner der Stadt. Er hat es sogar geschafft, auf dem höchsten Punkt Jekaterinburgs zu bauen, aber das Eigentumsrecht musste der Schwerkraft der Geschichte weichen, und so wurde die Villa des Kaufmanns konfisziert, als Gefängnis eingerichtet und in ein Schloss verwandelt.

Heute Abend, zur Zeit der Messe, versammelten wir uns um den Schreibtisch. Die Nische verleiht dem Raum ein eigenartiges, beinahe sakrales Gepräge; das Blattgold, das die Christusköpfe auf dem Tisch schmückt, findet einen Widerschein in den Bilderrahmen der Gemälde an den Wänden und in den vergoldeten Leisten entlang der Brüstung und unterhalb der Decke. Das Fehlen eines Geistlichen, einer Stimme außerhalb von uns selbst als Sprachrohr der heiligen Texte, lastete am schwersten auf uns. Seine Majestät begann mit seiner gedämpften, melodischen Stimme laut aus den Evangelien vorzulesen; danach gab er mir durch ein Zeichen zu verstehen, dass ich fortfahren solle, worauf wir die zwölf Bibelstellen abwechselnd vorlasen. Niemand sang. Mochte der Zar auch als der hohe Beschützer der orthodoxen Kirche gegolten haben, fühlt er sich für diese Aufgabe ebenso wenig geweiht wie ich selbst kraft meines medizinischen Examens.

Wir endeten mit einem Gebet und beteten wie immer für das Vaterland und unsere Kinder, deren Leben in fremde Hände gelegt ist.

Es ist noch keine sechs Jahre her, dass das gesamte Russische Reich auf die Knie fiel und für das Überleben des Thronfolgers betete. Vor der heiligen Ikone in der Kasan-Kathedrale stand die Bevölkerung von St. Petersburg Tag und Nacht im Gebet. Ich habe keine bessere Erklärung gefunden, als dass es die Knienden waren, die ihn retteten, die Tausende und Abertausende gottesfürchtiger Stimmen, die zum Himmel emporstiegen: Herr, lass ihn leben. Dieses Kind ist Russlands Zukunft!

Wenn der Glaube Berge versetzen kann, können Gebete vielleicht Steine für einen Dammbau sein?

Der Oktober 1912 war einer der entsetzlichsten Monate meines Lebens. Er begann mit einem Sturz in einem Ruderboot an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland beim Jagdschloss Belowize. Das kaiserliche Gefolge war im September dorthin gereist, weil der Zar auf die Jagd gehen und sich nach den herbstlichen Feiern zum hundertjährigen Jubiläum der Niederlage Napoleons ausruhen sollte. In den gewaltigen Wäldern gab es Hirsche, Elche und Wisente im Überfluss. Die vier Großfürstinnen verbrachten die Tage zu Pferde. Der Zarewitsch durfte nicht reiten, doch an den Tagen, an denen der See glatt dalag, erhielt er die Erlaubnis zu rudern. Hier geschah das Unglück, als er vom Anleger ins Boot springen sollte.

»Au!« Dieser kleine Ausruf war so leise wie nur möglich, um keinen Schrecken um sich zu verbreiten. Doch der Ausruf kam und erregte Schrecken. Alle, die sich in der Nähe des Boots befanden, wussten, dass schon der kleinste Schmerzensschrei des Thronfolgers das Startsignal für eine dynastische Krise sein konnte. Alexej Nikolajewitsch hatte sich an der linken Hüfte gestoßen. Für einen beliebigen Achtjährigen ein harmloser, unbedeutender Stoß; für einen Bluter jedoch dramatisch, unheilverkündend und vielleicht tödlich.

Bei der ersten Untersuchung entdeckte ich eine kleine Beule und verordnete absolute Ruhe. Nach vierzehn Tagen konnte die Verletzung endlich als geheilt gelten. Man brach auf und begab sich weiter nach Polen hinein, nach Spala. Wir reisten in zwei Zügen, dem kaiserlichen Hofzug mit seinen acht glänzenden, dunkelblauen Waggons, die zwischen den Fenstern diskret mit dem goldenen Doppeladler markiert waren, einer Residenz auf Schienen, sowie einem Kaiserzug ohne Kaiser, der dem echten haargenau entsprach. Die Feinde des Zarentums sollten nie wissen, in welchem Zug sich Seine Majestät gerade befand.

Im Gegensatz zu dem prunkvollen und luxuriösen Schloss Belowize ist der Bau in Spala ein düsterer, zweistöckiger Holzkasten ohne romantische Türme oder Ausschmückungen. Aber auch dieser Jagdsitz ist von meilenweiten Wäldern umgeben, in denen das kaiserliche Wild immer dicht steht und geduldig auf sein gekröntes Oberhaupt wartet.

Vom Haus führte ein Kiesweg nach draußen. Alexandra Fjodorowna konnte sich nicht enthalten, den Rekonvaleszenten zu einer Kutschfahrt mitzunehmen. Der Weg war holperig. Kieswege sind holperig. Als der Wagen zurückkehrte, war Alexej Nikolajewitsch steif vor Schmerzen. Die Mutter war hysterisch vor Angst. Ich stellte ernsthafte Blutungen sowohl in der Hüfte als auch in der Leiste fest. Die Körpertemperatur begann zu steigen. Unsere führenden Experten, die Ärzte Prof. Fjodorow, Prof. Rauchfuss, Dr. Ostogorskij und Dr. Derewenko wurden umgehend durch Boten aus St. Petersburg geholt.

Die Jagd war untadelig. Jeden Abend wurden Reihen erlegter Hirsche aufgeschnitten und mit Eichenzweigen im Bauch vor dem langgestreckten Holzgebäude auf der weiten Rasenfläche ausgelegt und im Lichtschein brennender Fackeln bewundert. Ein Militärorchester spielte auf.

Die Krankheit des Thronfolgers war das größte aller Geheimnisse des Reiches, im innersten Kreis der Dynastie verschlossen und versiegelt.

Drinnen im Jagdschloss, im Obergeschoss lag Alexej Nikolajewitsch in einem breiten Messingbett und wand sich vor Schmerzen. Das Gesicht wurde immer weißer und weißer. Wir standen wie gelähmt da, fünf von Russlands besten Medizinern, und beobachteten eine Schwellung am Unterbauch, ebenso oberhalb der linken Leiste. Der zarte Leib krümmte sich immer mehr, als sich das Blut staute und die Schwellung noch mehr wuchs.

Nach fünf Tagen ging der Hofminister zum Zaren und bat ihn um die Erlaubnis, ein medizinisches Bulletin über den lebensbedrohenden Zustand des Patienten zu veröffentlichen. Man könne den acht Jahre alten Thronfolger nicht einfach nur für tot erklären, ohne dass dem eine Krankheit vorangegangen, ohne dass es zu einem Unglück oder einem Attentat gekommen sei. Was werde Russland glauben, was werde das Volk denken?

Dieses erste Bulletin von einem der vielen Krankenlager Alexej Nikolajewitschs trug meine Unterschrift. Die Meldung löste eine momentane Erschütterung bei dem desorientierten russischen Volk aus, als sie am 9. Oktober 1912 in den Zeitungen des Landes kundgetan wurde. Das Kommuniqué ließ keinen Zweifel daran, dass der Thronfolger sich auf der Schwelle des Todes befand, enthielt aber kein Wort über das kranke Blut, über die Schwellung, die Millimeter um Millimeter weiterwuchs, oder über die Tatsache, dass sich der Leib des Knaben unaufhörlich wand. Dennoch ging ein Schrei durch jeden einzelnen gedruckten Buchstaben. Das Zarenhaus krümmte sich vor Schmerz. Die Jagd wurde abgeblasen, die Messinginstrumente eingepackt, und damit kehrte wieder Stille unter den Bäumen ein. Stattdessen wurde vor dem Jagdschloss ein großes grünes Zelt errichtet. Dies war das Feldlazarett der letzten Hoffnung, Vater Wassiljews Hospital, in dem sich das gesamte Gefolge, die Jagdmannschaften, Musiker ohne Instrumente sowie Bauern aus der Gegend versammelt hatten, um mit dem Zaren in ihrer Mitte zu beten, wie es nach der Veröffentlichung in ganz Russland geschah. Gleichzeitig erreichte die Schwellung die Größe einer Pampelmuse. Die Temperatur stieg auf fast 40 Grad.

Am 10. Oktober betrat Vater Wassiljew das Krankenzimmer und spendete das Totensakrament. Der Patient fand zum ersten Mal wieder Ruhe. Er bat um ein Grab im Wald, um ein kleines Monument aus Stein unter den Baumkronen. Die Temperatur sank auf 38,2 Grad.

Am Nachmittag des 11. Oktober wurde von dem westlich von Warschau gelegenen Spala ein Telegramm in das Dorf Pokrowskoje östlich des Ural geschickt. Absenderin war die vertraute Hofdame der Zarin, Anna Wyrubowa. Empfänger war Gregorij Rasputin. Der Gottesmann wurde angefleht, für den Thronfolger zu beten.

Am nächsten Morgen kam eine Antwort an die Zarin, die ständig am Krankenbett des Sohns wachte.

»Gott hat Deine Tränen gesehen und Deine Gebete gehört. Verzweifle nicht. Der Kleine wird nicht sterben. Lass nicht zu, dass die Ärzte ihn zu sehr quälen.«

Der Patient wurde auf ein Sofa gehoben, auf dem er endlich einschlief. Die Ärzte stahlen sich aus dem Krankenzimmer davon. Wir hatten ihn zu sehr gequält.

In der folgenden Nacht legte sich Frost auf die Wälder um das Jagdschloss. Die Schwellung hatte aufgehört zu wachsen, die Blutung war gestillt, das Fieber sank weiter.

Eine solche Blutung ist wie eine Überschwemmung, die gegen einen Damm drückt. Das Wasser steigt und steigt, und die Bevölkerung kann nichts weiter tun, als auf das Eintreten der Katastrophe zu warten. Aber plötzlich, wenn vielleicht nur noch Zentimeter fehlen, hört das Wasser auf zu steigen. Die Menschen hinter dem Damm atmen erleichtert auf und danken Gott dafür, dass von den Berghängen nicht noch mehr Wasser herunterkommt.

Ich erkenne die Machtlosigkeit der ärztlichen Wissenschaft und akzeptiere das Vorhandensein von Kräften außerhalb der Reichweite der physischen Gesetze, ja, ich glaube, dass ein ganzes Volk mit seinen Gebeten eine solche Kraft sein kann, aber nichts kann mich dazu bringen, zu meinen, dass es die Gebete des einen Mannes waren, der an einem Tag im Oktober 1912 den Weg durch die Wolkendecke zu Gott Vater fand und so verhinderte, dass der Damm brach.

Es wurde die ungeheuer anspruchsvolle Aufgabe von mir und meinen Kollegen, das Blut in die Glieder zurückzubringen und dem Körper seine Funktionen zurückzugeben. Erst Mitte Oktober durfte die kaiserliche Familie Spala verlassen. Der ganze Kiesweg vom Jagdschloss bis zur Bahnstation wurde Meter für Meter planiert. Der kaiserliche Zug kroch auf dem Bahnkörper von Warschau nach St. Petersburg, ohne eine Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometern zu überschreiten.

Genau während dieses langgezogenen Krankentransports überbrachte man dem Zaren in seinem Waggon ein empörendes Telegramm seines jüngeren Bruders, des Großfürsten Michail. Es war in Cannes aufgegeben worden. Der Großfürst gestand, mit der zweimal geschiedenen Anwaltstochter Natalja S. (der späteren Gräfin Brasowa) die Ehe geschlossen zu haben. Dies war ein direkter Eingriff in die empfindlichste dynastische Frage, da die Ehe mit einer Bürgerlichen den Großfürsten automatisch von seinem Platz nach Alexej Nikolajewitsch in der russischen Thronfolge ausschloss. In seiner Panik wegen der Krankheit des Zarewitsch war Michail Alexandrowitsch außer Landes geflüchtet und hatte sich in Wien in einer abgelegenen Straße von einem serbischen Priester trauen lassen. Da alle Augen auf den Todeskampf in Spala gerichtet waren, entzog sich der Bruder des Zaren seinem kaiserlichen Schicksal, indem er eine zweimal geschiedene Schönheit heiratete.

Niemand hasste Gräfin Brasowa mehr als Alexandra Fjodorowna. (Was der Gräfin in der besseren Gesellschaft von St. Petersburg eine gewisse Sympathie sicherte.) Die Zarin war ohne jeden Zweifel das Gehirn hinter den gnadenlosen Repressalien, die den Großfürsten danach trafen. Überdies förderte sie den Gedanken, dass Olga Nikolajewna auf den Platz nach ihrem Bruder in der Erbfolge nachrücken solle. Dieser Vorschlag wurde zum zweiten Mal geäußert. Das erste Mal geschah es vor der Geburt des Zarewitsch, als der Zar im Jahr 1900 an einem sehr ernsten Anfall von Typhus litt. Leider ist Alexandra Fjodorowna jedes Mal die eifrigste Vorkämpferin für die matriarchialische Änderung der gesetzlichen Erbfolge gewesen. Mit ihrer äußerst distanzierten Haltung zu den übrigen Mitgliedern der Dynastie erhielt sie selbst für einen so naheliegenden Vorschlag keine Unterstützung.

Mir persönlich hat der Gedanke an die Großfürstin Olga als Russlands künftige Zarin immer zugesagt.

Ein ganzes Jahr arbeiteten wir daran, das Bein geradezurichten, das sich im Verlauf der Krankheit bis zum Brustkorb hochgezogen hatte. Am Bein wurde eine Metallschiene befestigt, die wir Zentimeter für Zentimeter streckten, wonach das Bein nach und nach seine Beweglichkeit zurückerhielt. Später machte er auf der Krim eine Kur mit Schlammbädern. Alexej Nikolajewitsch brauchte ein ganzes Jahr, um auf seinem linken Bein wieder annähernd normal stehen zu können.

Zum 300-jährigen Jubiläum der Romanow-Dynastie wurden vom Thronfolger mehrere Fotos aufgenommen, auf denen das krumme Bein getarnt war wie der verkrüppelte linke Arm Kaiser Wilhelms II. Dennoch musste er von einem hünenhaften Kosaken getragen werden, als die kaiserliche Familie am 6. März 1913 während der Prozession im Kreml beim Festgottesdienst in der Kasan-Kathedrale eintraf. Der Anblick des invaliden Thronfolgers löste in der Bevölkerung eine Welle der Unruhe aus.

Nur die Zarin war in der Folgezeit in ihrem Glauben unerschütterlich. Sie war vor dem letzten Bulletin am imaginären Grab ihres Sohnes an der äußersten Grenze ihrer Kraft angelangt. Unter dem frostklaren Himmel von Spala hatte sie ein Telegramm erhalten, das ihr Schicksal für immer mit Sibirien verbinden würde.

Es knarrt, wenn Sednjew sich auf dem Feldbett umdreht. Dafür schläft der Kammerdiener geräuschlos; nur selten einmal ertönt ein trockenes Räuspern. Ab und an ein plötzlicher Laut vom Zimmer des Kommandanten hinter der Wand.

Das Leben ist der Leib zwischen zwei Mysterien.

Der Leibarzt des Zaren

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