Читать книгу Der Leibarzt des Zaren - Tor Bomann-Larsen - Страница 12

Ostersonntag, den 22. April

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Tee und Schwarzbrot zum Frühstück. Die Gerichte vom Vorabend wurden aufgewärmt und zum Mittagessen serviert. Ein paar Stunden Schlaf nach einem schnellen Luftschnappen bei kaltem Wetter. Seine Majestät las aus dem Evangelium. Alle einschließlich der Zarin speisten um acht Uhr gemeinsam. Keine Messe.

Das Zarenpaar und ich selbst blieben noch eine Weile im Salon sitzen und unterhielten uns mit dem stellvertretenden Befehlshaber der Wache, Ukraintsew. Der Zar bot Zigaretten aus seinem mit Smaragden besetzten Etui an. Dieser Ukraintsew hat vom ersten Tag an eine fast aufsehenerregend freundliche Haltung zu den Kaiserlichen an den Tag gelegt. Er ist überdies ein Mann ganz ohne Bildung, recht jung, aber schon jetzt lastet die Bürde auf ihm, eine Familie ernähren zu müssen. Er wurde aus einer der Fabriken in der Nähe rekrutiert. Selbst beim besten Willen kann man die grobschlächtige Figur nicht zu den monarchistischen Offizieren zählen, von denen die Zarin erwartet, sie versteckten sich unter den Gardisten. Obwohl es nicht lange dauerte, bis er von »gemeinsamen Bekannten« zu sprechen begann. Das Zarenpaar war sehr überrascht zu hören, dass er einmal während einer Jagdgesellschaft zu Ehren von Großfürst Michail als Gehilfe an einer Treibjagd teilgenommen hatte. Noch verwunderlicher war, dass er vor 15 Jahren als kleiner Junge während einer Veranstaltung am Schwarzen Meer mit Großfürstin Olga gespielt haben sollte.

»Seitdem habe ich immer von meiner süßen Prinzessin geträumt«, sagte er mit einer Miene, die an familiäre Vertrautheit grenzte. Sogar die Zarin fand es in schönster Ordnung zu hören, wie von Ihrer Hoheit in Wendungen gesprochen wurde, die in früheren Zeiten nicht einmal beim hochwohlgeborensten Husarenoffizier geduldet worden wären.

»Sie werden dem Traummädchen bald wieder begegnen«, fügte Seine Majestät mit einem fast leutseligen Glitzern im Auge hinzu.

Das Gesicht des Gardisten hellte sich hinter den Bartstoppeln auf wie eine Sonne.

»Haben Sie diese Stellung hier beim Ipatjew-Haus angenommen, um Ihre Familie ernähren zu können?«, fragte ich in dem Versuch, eine natürlichere Distanz wiederherzustellen.

Die Zarin warf mir einen Blick zu, als wollte sie fragen, wie um alles in der Welt ich ein so aufdringliches und unangenehmes Thema anschneiden konnte. Ukraintsew seinerseits fand die Frage alles andere als indiskret und sprach bereitwillig von den elenden Verdienstmöglichkeiten in Fabriken und Gruben, um kurz darauf auch einen grob skizzierten Bericht über den miserablen Gesundheitszustand der Menschen in der Stadt Jekaterinburg zu erstatten.

Der Zar hörte ihn mit seinem freundlichsten Gesichtsausdruck an und merkte sich offensichtlich jede einzelne Auskunft über die Lebensbedingungen des Volkes in diesem speziellen Gebiet östlich des Distrikts Ural, so wie er als Herrscher stets ein besonders Interesse für die Bedeutung von Details an den Tag gelegt hatte. Wie ganz anders wirkte die Unterhaltung auf die skeptische und menschenscheue Zarin. Es zeigte sich zuerst in den roten Flecken am Hals, dass sich hinter der verschlossenen Fassade Alexandra Fjodorownas ein großes und starkes Gefühl aufzubauen begann. Selten ist mir die Verschiedenheit der beiden Majestäten so aufgefallen wie bei dieser Begegnung mit dem Mann, der dazu eingesetzt war, sie zu bewachen, der in seiner Seele aber immer noch ihr treuer Untertan war. Während der Zar ihm wie von Gleich zu Gleich gegenübersaß und sich aufrichtig für alle Einzelheiten interessierte, die dieser Mann ihm erzählen konnte, war die Zarin außerstande, mit Ukraintsew zu kommunizieren. Alexandra Fjodorowna kann die Welt nicht durch greifbare Details verstehen, sondern nur als ganzheitliche Vision. Dieser irregeleitete, aber rechtschaffene Bauernproletarier, der seit seinen unschuldigen Kindertagen das strahlende Bild einer Prinzessin in sich getragen hatte, sprach er nicht im Namen des ganzen russischen Volkes? Lag die Zukunftshoffnung dieses irregeleiteten Gardesoldaten nicht gleich unter der Oberfläche, jetzt wo er sein Herz geöffnet und dem Zaren seine tiefsten Sehnsüchte offenbart hatte?

Genauso hatte sie in ihrer nonnenhaften Schwesterntracht im Lazarett des Katharinapalasts dagesessen. Sie ging nicht von Bett zu Bett, von Soldat zu Soldat, sondern suchte sich immer einen aus, einen, der sie alle symbolisierte, am liebsten einen jungen Offizier mit verstümmeltem Leib und reinen Gesichtszügen. Hier, an diesem einen Bett, legte sie ihr ganzes Engagement an den Tag, all ihr Einfühlungsvermögen, ihr ganzes religiöses und mütterliches Gefühl. Es war keine menschliche Tat der Barmherzigkeit, sondern eine erhöhte Handlung, um den einen Leidenden zu erlösen.

Ihn, der sie alle repräsentierte.

Der Thronfolger war sehr krank, als die Zarenfamilie aus der Gouverneursresidenz in Tobolsk umquartiert werden sollte. Wir wurden Zeugen des ersten besorgniserregenden Ausbruchs der Hämophilie nach dem Sturz des Zarentums. Merkwürdig war nicht die Tatsache, dass die alte Krankheit in der neuen Zeit wieder aufgetaucht war (obwohl der Zarewitsch auffallend lange gesund gewesen war), ebenso wenig, dass es in ihrer ganzen furchteinflößenden Form geschah; erschreckend war, dass Alexej Nikolajewitsch die Krankheit herbeiwünschte, dass er sein Krankenlager selbst in Szene setzte.

Die Zarenkinder haben immer gern im Schnee gespielt. Nicht zuletzt der Thronfolger, denn das weiche Element steigert den Grad der Freiheit. Im Schnee kann er fast wie ein gewöhnlicher Junge herumtollen. Auf dem geräumigen Platz, der außerhalb der Gouverneursresidenz von Tobolsk eingezäunt war (und den ich von meinem Fenster im Kornilow-Haus aus direkt überblicken konnte) wurde ein richtiger Berg aus Schnee errichtet. Der Zar war der selbstverständliche Leiter der Arbeit an der topographischen Umformung des Geländes. Der Schneeberg wurde mehrere Wochen lang zum Mittelpunkt vieler Aktivitäten und Strapazen. Unter anderem als Rodelbahn für einen kleinen Holzschlitten.

Eines schönen Tages, immerhin schon am 4. März nach der neuen Zeit (und diese Entscheidung gehörte ausschließlich in die neue Zeit), hatte der Soldatenrat beschlossen, den weißen Berg zu entfernen. Nachdem der Zar dort oben gestanden und dem vierten Regiment zum Abschied zugewinkt hatte, dem Regiment, das die kaiserliche Familie seit der Abreise von Zarskoje treu bewacht und seine Gefangenen schätzen gelernt hatte, war das neue Wachpersonal auf die Idee gekommen, die Gefangenen könnten den Schneehaufen dazu gebrauchen, sich mit fremden Truppen in Verbindung zu setzen. In der Abenddämmerung kamen die Soldaten mit ihren Gerätschaften und machten den Berg dem Erdboden gleich.

Danach konnte der Rodelschlitten nur noch gezogen werden. Ich blieb eines Tages stehen und betrachtete Alexej Nikolajewitsch in seiner Marineuniform, wie er zusammengekrümmt auf dem kleinen Schlitten hockte, während Olga Nikolajewna in ihrem langen Rock vorneweg lief; aus der Ferne sah es aus, als wäre sie mit Zaumzeug angeschirrt, obwohl sie ihren Bruder sicher nur an einem Seil zog. Die Großfürstin lief im Kreis herum, der Zarewitsch ruderte mit den Armen, doch durch das Fenster konnte ich nicht hören, welche Kommandos er ihr zurief. Selbstverständlich war es nur ein Spiel, doch der Anblick gab mir dennoch einen Stich ins Herz.

Ganz allgemein ist es wichtig, dass Alexej Nikolajewitsch sich möglichst ruhig verhält, um der Krankheit nicht Vorschub zu leisten. (In diesem Winter hatte er ein paarmal Husten gehabt, was leicht Blutungen hätte auslösen können.) Dennoch hatte er den Schlitten unbemerkt ins Gouverneurshaus getragen und die Treppe hinaufgeschleppt. Hier saß er nun auf einem der Absätze zwischen dem ersten und dem zweiten Stock. Schon einen einzigen Meter würde ich bei einem Bluter normalerweise so einschätzen: als versuchten Selbstmord.

Vielleicht war die Schlittenfahrt die Treppenstufen hinunter genau das Gegenteil? Ein Auflehnen. Nicht gegen das Leben, sondern gegen den Tod, das heißt gegen die Langeweile, ein verzweifelter Versuch, das Leben in Bewegung zu setzen, ein Zeichen von Gesundheit, das mit Schmerzen endete und ihn ans Bett fesselte. Jeder hätte ihm das Ergebnis nennen können, und jeder X-Beliebige hat es ihm auch schon hundert Mal erzählt. Gleichwohl musste es geschehen. Oder: gerade deshalb musste es geschehen.

Der Wunderheiler Gregorij soll außerdem gesagt haben, dass Alexej Nikolajewitsch nach Vollendung des dreizehnten Lebensjahres geheilt sein werde. Diese magische Zahl hat er im letzten Sommer erreicht. Seitdem hatte er keine ernste Blutung mehr gehabt. Wollte er das Wunder auf die Probe stellen?

Ende März (nach alter Zeitrechnung), nur wenige Tage zuvor, war die erste Abteilung reiner Bolschewikensoldaten aus Omsk in das abgelegene Tobolsk gekommen. Ähnlich wie die Rivalen hier in Jekaterinburg hatten sich die Bolschewiken in Omsk mehrere Male bemüht, den Zaren und sein Gefolge unter Kontrolle zu bekommen. Man kann sich unschwer vorstellen, welch revolutionäres Prestige es mit sich brächte, das Leben des letzten Alleinherrschers in Händen zu halten. Jedoch war es die erklärte Absicht unseres damaligen und auch jetzt noch herbeigesehnten Kommandanten Koblinsky gewesen, seine Gefangenen gegen die Drohungen aus Omsk zu verteidigen. Es war davon die Rede, sämtliche Personen vom Gouverneurshaus in die Residenz des Erzbischofs Hermogen zu verlegen, die höher lag und die schwerer einzunehmen wäre. Aus diesem Anlass kam es zu einer Reihe von Konfrontationen mit dem Soldatenrat. Das einzige Resultat bestand darin, dass die Zarin bis auf weiteres mit einem Verbot belegt wurde, auf dem Balkon zu sitzen. Alexandra Fjodorowna war außerdem die Einzige, die den Einzug der Rotgardisten in Tobolsk mit einem gewissen Optimismus betrachtete. Sie war überzeugt davon, dass mehrere zarentreue Offiziere als gemeine Soldaten in das Heer der Roten eingeschmuggelt worden waren.

An diesen ersten, von bösen Vorahnungen erfüllten Frühlingstagen geschah es, dass der Zarewitsch an Bord seines kleinen Holzboots ging und es über die tödlichen Wirbel der Stromschnellen abwärts sausen ließ. Wollte er das Wunder auf die Probe stellen, wollte er sich durch ein Verschwinden retten, wollte er seine Familie von seinem Schicksal befreien? Wie oft erlebt das Kind, das immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden hat, seine Bedeutung? War es ein Opfer, ein Sprung von der irdischen Thronfolge auf den himmlischen Thron – ein Martyrium?

»Ich habe keine Angst vorm Sterben«, ertönte es ein paar Tage später vom Feldbett, »ich habe nur Angst vor dem, was sie finden werden, wenn sie den Berg abgetragen haben.«

Zusammen mit Dr. Derewenko konnte ich für den leidenden Knaben in Tobolsk ebenso wenig ausrichten wie bei dem Thronerben von Gottes Gnaden. Wir konnten nur darauf warten, dass der Blutdruck stieg, und Ruhe verordnen, die es nicht gab. Doch es bestand nicht mehr der Druck der Geheimhaltung. Die blauen Schwellungen brauchten nicht mehr wie Staatsgeheimnisse gehandhabt zu werden. Nur der Schmerz war zurückgekehrt, der Schmerz und die Machtlosigkeit.

Nach zwei Wochen mit schlaflosen Nächten, zu einem Zeitpunkt, als wir uns immer mehr von allen Seiten bedrängt fühlten, kam der Vertreter Moskaus, Kommandant Jakowlew, um die Zarenfamilie aus Tobolsk abzuholen. Er war ein hochgewachsener, höflicher und kultivierter Mann, gekleidet wie ein gewöhnlicher Matrose, doch mit den notwendigen Vollmachten ausgestattet. Die Herren in Moskau hatten allerdings nicht mit dem Schlitten des Thronfolgers gerechnet. Der Sendbote der Bolschewiken wurde als erster Außenstehender mit der Tragödie der Dynastie von Angesicht zu Angesicht konfrontiert: mit dem abgemagerten Leib des kranken Dreizehnjährigen in der gestreiften Bettwäsche des Feldbetts. Mit dem matten, kastanienbraunen Haar, den glänzenden Augen in dem schönen, wächsernen Haupt.

Er glaubte nicht, was er sah. Am selben Vormittag kam er wieder und öffnete unangemeldet die Tür zum Zimmer des Thronfolgers. Er wollte sich vergewissern, dass es sich nicht nur um eine Maskerade handelte, nur in Szene gesetzt, um die Revolution hinters Licht zu führen.

Jakowlews Auftrag bestand darin, die kaiserliche Familie abzuholen und an einen unbekannten Bestimmungsort zu bringen. Alexandra Fjodorowna war augenblicklich davon überzeugt, dass dies Moskau bedeutete – das Zentrum der Macht. Fast einen Monat lang waren die Gespräche im Gouverneurshaus um den Friedensschluss in Brest-Litowsk gekreist. Die Zarin konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vetter, Kaiser Wilhelm, einen Friedensvertrag akzeptieren konnte, der von irgendeinem jüdischen Kommissar im Namen des Reiches unterzeichnet worden war. Im Innern konnten die Bolschewiken spotten, soviel sie wollten, aber draußen, in der Welt, besaßen sie keine Anerkennung und konnten ohne die lenkende Hand des Zaren nichts erreichen. Genauso sah sie es. Die Zarin sah einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Abreise Seiner Majestät aus der Gouverneursstadt Tobolsk und dem Kniefall des neuen Regimes in Brest-Litowsk. Dass es um die Unterschrift ging. Einen gültigen Namen für einen ungültigen Frieden zu schaffen. Wir mussten nach Moskau. Um zu unterzeichnen.

Niemand dachte an die Nebengleise, an die Güterbahnhöfe, niemand dachte an Jekaterinburg.

Alexandra Fjodorowna hat keinen Augenblick an der Rückkehr der Romanows an die Macht gezweifelt. Sie sah sie als die einzig legitimen Herrscher des Heiligen Russland an. Sie verlässt sich nicht auf die Treue der Generäle, sondern auf die Ergebenheit des Volks und auf Gottes Willen. Aus diesem Grund befindet sie sich mit dem Zaren hier. Sie hat sich eine Reise zurück an die Macht vorgestellt, zur Wiedereinsetzung des Sohnes.

Zunächst musste sie einen inneren Kampf ausfechten, zwischen dem Bett des Thronfolgers und dem Feldzug des Zaren. Als Mutter wäre sie am liebsten am Krankenlager geblieben. Aber was würde das Leben des Sohns ohne die Aufgabe, zu deren Erfüllung er geboren war, noch wert sein? Gibt es ein Leben außerhalb der Bestimmung Gottes? Die Mutter unterwarf sich der Entscheidung der Herrscherin.

Während der letzten eineinhalb Jahre seines Regimes war Nikolaj II. zum Prinzgemahl von Alexandra der Großen degradiert worden, er hatte seinen Nacken einem stärkeren Willen gebeugt und sich dem weiblichen Terrorregime unterworfen, dem die Psychiatrie die Bezeichnung Hysterie gegeben hat. Fast mit einem Achselzucken nahm er auch diese Entscheidung zur Kenntnis. Gleichwohl lag eine tiefe Entmündigung in der Wahl der Zarin, als wäre er, der Zar, das kleinste und gefährdetste all ihrer Kinder.

Am 13. April ließ sich der Zar endlich unter Vormundschaft stellen, nicht nur durch das Regime in Moskau, sondern auch durch seine eigene Ehefrau. Sie reiste mit ihm, damit er kein zweites Mal seinen Namen aufgab, damit sich die Katastrophe von Pskow nicht wiederholen konnte.

Der Krieg kann noch immer gewonnen werden, solange die Unterschrift des Zaren nicht geleistet ist.

Das ausgesuchte Gefolge umfasste neun Personen. Das Zarenpaar und Großfürstin Maria, aus dem Gefolge Fürst Dolgorukow und ich selbst, außerdem die beiden Diener und das Kammermädchen. Kommandant Jakowlew hatte eine Abteilung von 35 Gardesoldaten zusammengestellt, davon 15 zu Pferde. Die Kolonne bestand aus ein paar gebrechlichen Tarantas, Bauernkarren ohne Sitze oder Federung. Nur der vorderste Wagen war eine Kalesche. Für den Wagen, in dem die Zarin sitzen sollte, wurden etwas Stroh und eine Matratze herbeigeschafft. Ich überließ ihr überdies meinen dicken Pelzmantel.

In einen der Koffer hatte meine Tochter ein paar weiße Tennishosen gepackt. Vielleicht waren wir Teil eines größeren Plans, vielleicht würde die Fahrt nach Moskau gehen und von dort weiter nach Archangelsk und von dort per Schiff zu den Britischen Inseln? Die Tennishosen waren die verwegene Hoffnung in der Dunkelheit, ein Friedenssignal, die Splittflagge einer neuen Ära, die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung im Westen und die Wiederaufnahme der profanen Privilegien des Leibarztes. Doch an unserer Abreise war nichts, was an Befreiung erinnerte, von der einen Tatsache abgesehen, dass wir eine Gefangenschaft verließen. Als ich sah, wie meine Tochter im Fenster die Hand hob, kam mir der Gedanke, dass es meine Kinder waren, die auf freien Fuß gesetzt wurden, indem ich sie verließ, dass meine Abreise ihre Freiheit möglich machte. Ich bin derjenige, der die kaiserlichen Auszeichnungen als Leibmedikus und General trägt; allein meine Kinder sind in den Händen der neuen Zeit unbeschützt, aber auch unbesudelt. Niemand stellt für meine Kinder eine größere Bedrohung dar als ich selber. Nur seelisch kann ich ihnen Schutz geben, durch mein Beispiel.

Nachdem unsere Reise hier in Jekaterinburg zu Ende gegangen war, verfestigte sich der Gedanke, dass dies der Schicksalstag war. Dies war der Moment, in dem die Grenzen gezogen wurden, zwischen dem, was eine Zukunft hat, und dem, was für immer der Vergangenheit angehören soll.

In diesem Augenblick hätte der Zar sich losreißen und seinen Kindern die Freiheit schenken können.

Die Nacht war früher Morgen des 13. April geworden. Der Zarewitsch lag weinend in seinem Zimmer. Die drei Großfürstinnen standen alle mit ihren Strickmützen da, hatten sich lange Alpakaschals um den Hals geschlungen und warteten vor der Tür zu dem bescheidenen Eingang der Gouverneursresidenz. Die Befehle des Kommandanten ertönten aus dem vordersten Wagen, in dem er neben dem Zaren Platz genommen hatte. Der Feldzug der Vergangenheit setzte sich in Bewegung, in Richtung Moskau. Zur Schlacht um die rechte Hand des Zaren.

Es ist zwar spät, aber wir haben noch immer einige Stunden vor uns, bevor wir das erste Morgenlicht erblicken oder bis die Glocken über dem Himmelfahrtsplatz zu läuten beginnen. Meine Erwartungen an den Ostersonntag liegen im Dunkeln. Ich opfere die Nacht und rekonstruiere lieber die Reise von Tobolsk. Die Alternative ist eine durchwachte Nacht mit den Zurückgebliebenen, mit Gedanken, die immer bei der Zarin von Tobolsk enden werden.

Meine eigene Tochter stand gleichsam beschützt hinter dem Fenster im Kornilow-Haus, wo wir unseren Wohnsitz gehabt hatten, gegenüber der Residenz. Meinen Sohn hatte ich selbst ins Bett beordert, weil er am nächsten Tag ein Examen ablegen sollte. Über den drei Töchtern des Zaren lag etwas anderes, denn sie waren zum ersten Mal ihrer eigenen Obhut überlassen. Im Hause wartete das Schmerzgestöhn des Bruders. Wo sollten sie irgendwann einmal eine Zuflucht im Leben finden? Vielleicht ist es dennoch am besten, dass sie herkommen, dass sie nachkommen. Das würde zumindest eine Sehnsucht erfüllen, bei ihnen, ihren Eltern, bei mir selbst.

Sibirien befand sich im Frühjahrstauwetter, in der hoffnungslosen Phase zwischen Kufe und Rad, zwischen Schneeschmelze und Frost. Die kaiserliche Karawane hatte 260 Werst zurückzulegen, bevor wir die nächste Bahnlinie erreichten. Der Fluss war noch nicht eisfrei, deshalb musste die Reise über Land erfolgen. Doch mussten wir in der Zeit der Eisschmelze drei Flüsse überqueren, Irtysch, Tobol und Tura. Allein am ersten Tag wurden die Pferde vier- oder fünfmal gewechselt, und das Rumpeln in den gefrorenen Radspuren war entsetzlich.

Die Flüsse waren angeschwollen, und das Wasser reichte den Pferden bis unter den Bauch, als wir den Irtysch überquerten. Am Ufer des Irtysch hatte der verbannte Dichter die Bürde seiner Ziegelsteine geschleppt. Ich erinnere mich an die Passage in Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, weil er dort trotz der Zwangsarbeit Freiheit fühlte; nur am Flussufer konnte er den Blick von der Festung und den Palisaden abwenden, die ihn sonst zu jeder Stunde des Tages umschlossen. Der Irtysch fließt nach Nordosten und passiert als erste größere Stadt Omsk, wohin Dostojewskij als Strafgefangener verbannt worden war, nachdem er gegen den Zaren konspiriert hatte.

Die erste Nacht verbrachten wir in dem Dorf Jewlewo, in dem wir in einem stillgelegten Landhandel auf die primitivste Weise untergebracht wurden. So reisten die Verbannten in der Zeit vor der Eisenbahn, so zogen die Karawanen aus Mördern, Trunkenbolden und Oppositionellen durch dieses unendliche, trostlose Land. Unendlich und trostlos nicht aufgrund der Landschaft, sondern wegen der Gefangenschaft, aufgrund des Zwangs inmitten der Unendlichkeit.

Bevor es hell geworden war, hatten wir Jewlewo verlassen. An solchen vergessenen Orten geschah es, dass die Bauern ihren Arzt aus reinem Aberglauben erschlugen. Wenn das Land von einer Cholera- oder Typhusepidemie getroffen wurde, konnte es geschehen, dass ein freiwilliger oder abkommandierter Mediziner auch in den abgelegensten Dörfern auftauchte, um den Schaden zu begrenzen. Die Bauern kombinierten die beiden Ereignisse, die tödliche Epidemie und den merkwürdigen Fremden mit seinen noch merkwürdigeren Instrumenten und Flakons. Folglich zogen sie daraus den unglückseligen Schluss, dass es der Doktor war, der die Krankheit gebracht hatte. In einer betrunkenen Nachtstunde konnte es geschehen, dass die Bauern von dem Gedanken besessen waren, das Lazarett in Brand zu stecken, die teuflischen Instrumente zu zerschmettern und den Arzt zu ermorden. Den russischen Bauern hat es schon immer zum Feuer hingezogen, zu der verzehrenden Macht der Flammen, zu der flackernden Schönheit des Lichts.

Wir erreichten den Tobol, bevor die nächtliche Kälte ihren Höhepunkt erreicht hatte, trotzdem wurde die Karawane aus Furcht vor einem Aufbrechen des Eises aufgelöst. Uns wurde befohlen, einzeln über einen schmalen Pfad aus ausgelegten Planken zu gehen. Der Zar bot seiner Gemahlin die Hand. Sie hatte den Pelzmantel abgelegt und trug einen dünnen Persianer. Gleich dahinter folgte Fürst Dolgorukow. Der Hofmarschall stützte Großfürstin Maria mit seiner rechten Hand, ganz Weltmann, als führte er sie bei der Polonaise über das Parkett des Winterpalais. Unter der spröden Eisdecke strömte der Tobol dahin; im Verlauf von Tagen, vielleicht nur Stunden, würde das Eis aufbrechen und mit den Wassermassen stromabwärts verschwinden. Nachdem die Frauen hinübergebracht worden waren, folgten die Diener und Soldaten mit Taschen und Koffern; die Kavalleristen führten ihre Pferde bei der Hand, und am Ende zogen die Soldaten die leeren Karren hinüber.

Gegen zwölf kamen wir in Pokrowskoje an, wo ein Teil der Gardesoldaten abgelöst werden sollte. Im August hatten wir das Dorf auf dem Fluss aus der Ferne passiert, jetzt blieb die Karawane direkt vor einem zweistöckigen Haus stehen, einem herrschaftlichen Wohnsitz, der in starkem Gegensatz zu den nachlässig zusammengezimmerten Holzbauten stand, die diesen Typus von Orten kennzeichnen. Der Fürst kam schnell zu dem Schluss, dass dies Rasputins Wohnhaus sein musste. Nein, man kann nicht zählen, wie viele Prophezeiungen entweder telegrafisch aus diesem schmutzigen Dorf im Gouvernement Tobolsk oder telefonisch von der stets ebenso überfüllten Wohnung in Petrograd ausgegangen waren, Prophezeiungen von Tod und Genesung, von Untergang und Auferstehung. Von hier stammte die Zeile, die Ärzte sollten den Patienten in Spala nicht »quälen«.

Während der Kommandant neue Mannschaften organisierte, saß die Zarin auf dem Boden ihres Bauernkarrens. Damit befand sie sich, für alle gut sichtbar, unzweifelhaft an einer erhöhten Stelle. Hinter den Fensterscheiben in dem niedrigen Erdgeschoss und der hochgelegenen ersten Etage standen Menschen, alte und junge, und starrten uns stumm an; Vater Gregorijs nächste irdische Angehörige. Man hatte einen hohen, soliden Zaun errichtet, der den Blick auf das übrige Grundstück versperrte; von den Nebengebäuden des Hofs waren nur die Dächer zu sehen. Am allerwenigsten konnten wir einen Blick auf Rasputins heiligen Keller erhaschen, den er in seinen jungen Jahren unter dem Kuhstall gegraben haben soll und der später so vielen Gerüchten und obszönen Fantasien Nahrung gegeben hat.

Hier wurde mir die unheimliche Parallele bewusst: Auch Marie-Antoinette wurde auf einem Bauernkarren zum Schafott gefahren. Das war mein letzter klarer Gedanke auf der ganzen Reise. Als wir unseren Weg fortsetzten und immer mehr durchgeschüttelt wurden, bekam ich fürchterliche Nierenschmerzen, die so schlimm waren, dass ich mich kaum an die weitere Fahrt erinnere, nur daran, dass wir um Mitternacht den Zug in Tjumen erreichten. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, wie Alexandra Fjodorowna die Strapazen aushalten würde, doch wie sich zeigte, war der Arzt das schwächste Glied des Transports. Von Tjumen (Palmsonntag) konnten wir mit der Bahn weiterfahren, während der ganzen Fahrt von schwerbewaffneten Soldaten umgeben. Der Zug fuhr zwischen den Bahnhöfen hin und her, erst nach Westen, dann nach Omsk im Osten und wieder zurück. Der Fürst nahm an, wir seien Opfer eines Tauziehens geworden.

Persönlich hatte ich keine bestimmte Vorstellung vom Reiseziel, wenn ich von der einen absehe, dass hinter allem eine Absicht stecken musste. Alle, auch ich, waren dennoch von dem Befehl überrascht, die Gardinen herunterzuziehen, als der Zug vor fünf Tagen im Hauptbahnhof von Jekaterinburg angekommen war.

Was denkt die Zarin heute Nacht über die Unterschrift des Zaren? Wie hat es die Sowjetmacht geschafft, auf die Hand des Selbstherrschers zu verzichten?

Weiß die Welt, wo wir uns befinden? Gibt es überhaupt jemanden, der diese Frage stellt, so wie wir nach Fürst Dolgorukow fragen?

Nikolaj Alexandrowitsch hat mir erzählt, dass der Name Ipatjew zu Beginn der Geschichte der Romanows schriftlich festgehalten worden sei. Der Stammvater des Zaren, Michail I., sei in einem Kloster gleichen Namens zum Zaren gekürt worden. Der Unterschied zwischen einem Kloster und einem Gefängnis ist vielleicht gar nicht so groß?

Er ist auferstanden! Zeit, das Licht auszumachen.

Der Leibarzt des Zaren

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