Читать книгу Der Leibarzt des Zaren - Tor Bomann-Larsen - Страница 14
24. April
ОглавлениеBis jetzt Plusgrade. Ihrer Majestät wurde das Mittagessen von Sednjew in ihrem Zimmer serviert, eine Portion Makkaroni, als Wiedergutmachung für die mangelnde Spezialverpflegung des gestrigen Tages. (Es war der Namenstag der Zarin, der Tag der heiligen Märtyrerin Alexandra.)
Spaziergang mit dem Zaren, 40 Schritt vor, 40 zurück.
Man hat nach dem Essen begonnen, Karten zu spielen. Wir sind so wenige, und es ist hier schwieriger als im Gouverneurspalast, die Gespräche in Gang zu halten. Sobald die fehlenden Ereignisse des Tages kommentiert sind, kehren die Gedanken nach Tobolsk zurück. Wir haben zwar genügend Fragen, aber immer noch keine Antworten. Das Hauptthema ist selbstverständlich der Gesundheitszustand des Zarewitsch. Heute wie in all den Jahren, in denen ich dem Zaren gedient habe.
Auf Aufforderung Ihrer Majestät unternahm ich einen neuen Versuch, mir darüber Klarheit zu verschaffen, was mit Fürst Dolgorukow geschehen ist.
»Da mischen Sie sich besser nicht ein, Doktor«, entgegnete Awdejew recht brüsk, als ich durch die Tür getreten war.
Im Büro hängen ein Edelhirsch und einige andere von Ipatjews Jagdtrophäen. Außerdem fielen mir einige Gruppenbilder auf, die etwas mit den Jahren des Ingenieurs in der russischen Armee zu tun hatten. Awdejew hat sich nicht die Mühe gemacht, diese Reminiszenzen an die Zarenzeit zu entfernen, genauso wenig, wie er daran gedacht hat, das Bett zu machen, den Aschenbecher zu leeren oder die Flaschen vom Schreibtisch wegzuräumen.
»Herr Kommandant«, sagte ich, »der Fürst hatte in seiner Eigenschaft als Hofmarschall des Zaren ...«
Im Nachhinein sehe ich ein, dass dieser Satz oder vielmehr der Anfang dessen, was ein Satz werden sollte, nicht weniger als drei unverhüllte Provokationen enthielt, die sich direkt gegen Seine Hoheit den Kommandanten richteten. Awdejew zögerte denn auch keinen Augenblick, in die Offensive zu gehen:
»Der Fürst?! Wir leben in einer Republik, bester Mann, haben Sie das nicht gewusst? Und in einer Republik gibt es weder Fürsten noch einen Hof, und ohne Hof gibt es auch keinen Hofmarschall. All das sind wir losgeworden!«
»Nun ja«, versuchte ich es erneut.
»Und noch eine Kleinigkeit: In einer Republik gibt es keinen Zaren. Man hat uns aufgetragen, auf einen gewissen Oberst aufzupassen, Oberst Nikolaj Romanow, und diese Aufgabe werden wir auch ohne Einmischung Ihres Freundes, des Hofmarschalls, voll und ganz erfüllen.«
»Wie Sie wollen«, erwiderte ich. »Könnte der Herr Kommandant mich in dem Fall über Herrn Wassilij Alexandrowitsch Dolgorukow aufklären?«
»Das war schon besser, Doktor, das war wirklich schon besser. Nein, ich kann Ihnen keine Auskünfte geben. Sind Sie eigentlich so sicher, dass es einen Mann mit diesem Namen gibt?«
»Nein.«
Ich verbeugte mich förmlich und zog mich zurück. Äußerst unangenehm berührt. Darauf ein möglichst kurzer Bericht bei Ihren Majestäten: »Keine neuen Auskünfte.«
»Wie ich mir dachte«, sagte die Zarin.
Der Zar rauchte eine Zigarette und blickte aus dem Fenster.
Haben Sie ihn freigelassen oder eingesperrt? Beides ist möglich. Doch über den Fürsten Dolgorukow lässt sich keine Antwort geben, es ist unmöglich, eine Antwort zu erhalten. Nur Fragen, die man unmöglich stellen kann.
Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass es mir nicht gelingen wird, alle Gedanken und alle Erinnerungen in den neuen Kalender zu übertragen. Der Verlust der Assoziationen wird unerträglich sein. Wir sind die Geiseln des Julianischen Kalenders. Wenn wir hier nur sitzen blieben, zwischen den Mauerwänden, hinter dem Zaun. Vergessen. Auch Nikolaj Alexandrowitsch hat sich von der Zeit abgekoppelt.
Es geschah am 19. März nach der alten Ordnung. Erst hatte er sich einer doppelten Tagebuchführung zugewandt, autoritätsgläubig, wie er nun mal ist. 47 Tage lang hielt der Zar den Kontakt mit der neuen Zeitrechnung aufrecht. Dann erhielten wir (ziemlich verspätet) die Meldung, das Bolschewikenregime habe die Friedensbedingungen der Deutschen in Brest-Litowsk akzeptiert. Das Reich befand sich in Auflösung, und das stolze Zarenwort »Kein Friede, solange ein feindlicher Soldat auf russischer Erde steht« hatte seine Bedeutung verloren. Die Kapitulation war eine Tatsache, das war noch das Wenigste; Russland hatte seine Ehre verloren, der Zar sein Wort, das war das Entscheidende.
Das Handeln Nikolaj Alexandrowitschs wurde weder durch die Macht noch durch den Thron bestimmt, sondern durch den Krieg, nicht durch die Existenz der Dynastie, sondern durch das Überleben des Vaterlandes, Russlands Erde. Erst als Kommissar Lenin Land abtrat (nicht weniger, wie ich glaube, als ein Drittel vom Territorium des Reichs), um sein eigenes Regime zu retten, hatte der Zar seine historische Rolle verloren. Die Abdankung war als heroische Tat gescheitert, als Strategie für eine Fortsetzung des Krieges. Von diesem Datum an gab »Oberst Romanow« seine parallele Zeitrechnung auf.
Er fuhr mit seiner Arbeit fort, Holz zu sägen, auch an jenem Tag in Tobolsk, als der 19. März nur noch der 19. März war. Er genoss diese Arbeit, schlanke Birkenstämme in annähernd gleich große Teile zu zersägen, meist stand Fürst Dolgorukow auf der anderen Seite des Sägebocks, eine mechanische Bewegung, keine individuelle Leistung; die schwarz gefleckten Holzklötze, die in den Schnee fielen, von denen jeder einzelne eine Garantie gegen den kommenden Frost war. Jetzt hatte er nur seine Zigaretten, solange man sie ihm lässt, ebenso lange, wie sich schlanke Birkenklötze halten, ebenso lange wie der Tagesanbruch.
Ich mag es nicht, Parallelen zur Französischen Revolution zu ziehen. Dazu war das Schicksal von Ludwig XVI. allzu grauenvoll, aber auch die französischen Aufrührer führten eine neue Zeitrechnung ein und schafften es so, die Vergänglichkeit der Revolution zu demonstrieren.
Der Tag, an dem der König abdankte, der 22. September 1792, wurde als Tag eins im Jahr eins verkündet – welch eine fabelhafte Egozentrik! Die neue Ordnung konnte natürlich nichts anderes mit sich bringen als Chaos und Anarchie, in der weltlichen Welt wie im kirchlichen Leben. Die Zeitrechnung währte 14 Jahre. Dann folgten die Napoleonischen Kriege, bis schließlich die Bourbonen wieder auf den Thron gesetzt wurden. Das eröffnet eine Perspektive, wirft ein Licht weit in das undurchsichtige Gestrüpp künftiger Daten.
Es ist eine Frage von Zeit. Aber Fürst Dolgorukow wird wohl nie zurückkehren, weder zum Gregorianischen noch zum Julianischen Kalender.