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Jekaterinburg, den 17. April

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»Zeigt uns den Blutigen!«

Es war unmöglich, die Worte nicht zu hören.

Seine Majestät hatte mit ruhigen Bewegungen das Etui hervorgeholt und eine Zigarette angezündet, als gingen ihn die Rufe von draußen nichts an. Die Zarin saß mit zusammengekniffenem Mund bewegungslos da. Die graublauen Augen von Großfürstin Maria waren weit aufgerissen. Nur Fürst Dolgorukow besaß die Geistesgegenwart, die Stille zu brechen:

»Warum halten wir in Jekaterinburg? Warum geht es nicht weiter?«

»Woher wissen sie, dass wir es sind?«, ließ sich die Zarin vernehmen. »Die Vorhänge sind ja zugezogen.«

Ich spürte plötzlich ein Bedürfnis nach frischer Luft, stand auf und blickte hinaus. Am Ende des Waggons war die Tür geöffnet. Ohne eine Erklärung abzugeben, verließ ich das kaiserliche Abteil und schlängelte mich an den Wachen vorbei zum Ausgang. Die Rufe wurden noch deutlicher. Auf der Plattform zum nächsten Wagen war ein Maschinengewehr postiert. Ein Unteroffizier gab mir durch ein Zeichen zu verstehen, dass ich mich nicht in der Tür zeigen dürfe. Ein Seitenblick vermittelte mir gleichwohl ein Bild von der Situation.

Zwischen uns und dem Bahnsteig, auf dem sich eine große und aufgehetzte Volksmenge versammelt hatte, lagen zwei Gleispaare. Die Menschen wurden von einer Reihe von Gardesoldaten zurückgehalten, die zu unserer Besatzung gehörten. Die Volksmenge blockierte nicht nur den Zugang zum Bahnhofsgebäude, sondern konnte in jedem Moment die Wachen zur Seite drängen und über die Bahnsteigkante hinwegquellen, um auf den Zug zuzustürmen. Weder der Anblick der Maschinengewehrposten noch der des Kommandanten vermochte die Gemüter zu beruhigen.

Mit einem Mal durchschnitt ein schrilles Pfeifsignal die Luft. Alle richteten ihre Aufmerksamkeit sofort zur Seite, wo zwischen uns und dem Bahnsteig ein Güterzug herangedampft kam. Die Menge ließ sich instinktiv zurückdrängen. Die Reihe von Güterwagen hielt an und blieb zwischen uns und dem Bahnsteig wie eine Mauer stehen. Ich begab mich eilig ins Abteil zurück. In dem Moment, in dem ich die Tür öffnete, machte der Waggon einen Ruck, und unser Zug, der die ganze Zeit über unter Dampf gestanden hatte, begann sich zu bewegen. Gleichzeitig nahm das Gedränge im Korridor zu, als die Gardesoldaten einen übereilten Rückzug antraten. Erst jetzt begriff ich, dass es sich nicht um einen Güterzug handelte, der zufällig im richtigen Augenblick in der Bergbaustadt Jekaterinburg angekommen war, sondern um ein taktisches Manöver, das auf Befehl von Kommandant Jakowlew inszeniert worden war.

»Das war knapp«, entfuhr es mir, als ich mich in dem dunklen Abteil auf den Sitz sinken ließ. Der Zar setzte eine fragende Miene auf, doch Fürst Dolgorukow kam ihm zuvor:

»Dann verlassen wir Jekaterinburg also.«

Ihre Majestät atmete schwer.

»Es ist der Telegraf«, sagte sie. »Sie telegrafieren von Station zu Station und hetzen den Pöbel auf, wohin wir auch kommen.«

Großfürstin Maria sah die Mutter mit Entsetzen an.

Das Wort Moskau lag mir schon auf der Zunge, als der Fürst eine Hand hob, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Zug schon langsamer wurde. Kurz darauf hielt er ganz. Ich steckte den Kopf aus dem Abteil und erfuhr, dass wir auf einem Güterbahnhof am Rande der Stadt standen.

»Einem Güterbahnhof?«, fragte die Zarin, und ich hatte das Gefühl, tief zu erröten.

»So viel Gepäck haben wir doch gar nicht?«, fragte Seine Majestät.

»Nein, wo sollten wir mit dem Gepäck auch hin«, sagte der Fürst. »Schließlich reisen wir mit 160 Rotgardisten durch die Gegend.« Er überspielte die Ironie mit seinem traurigen schiefen Lächeln.

Die Äußerung hatte die beabsichtigte Wirkung. (Fürst Dolgorukow ist ein sehr erfahrener Hofmann.) Die Zarin gab dem Gedanken an die Rotgardisten den Vorzug vor den Stichwörtern »Güterbahnhof« und »Gepäck«. Es ging um mehr als eine Bahnfahrt zwischen den Provinzstädten Tobolsk und Jekaterinburg. Die Gardesoldaten waren nicht nur unsere Gefangenenwärter, denn sie garantierten nicht nur unsere Sicherheit, sondern auch unsere Bedeutung.

Gleichwohl brachte niemand den Mut auf, die Hauptstadt beim Namen zu nennen. Vor uns lagen die Berge des Ural, und auf der anderen Seite waren es immer noch mehrere Tagesreisen bis zum Zentrum der Macht.

Es verging eine Stunde, vielleicht waren es auch zwei, bevor man uns befahl, den Zug zu verlassen. Offenbar war zwischen unserem Kommandanten Jakowlew und den örtlichen Kommissaren des Ural-Sowjets eine Abmachung getroffen worden. Auf dem Güterbahnhof wimmelte es von bewaffneten Gardisten und mehreren Würdenträgern der neuen Zeit. Überdies waren kein Hund zu sehen und keine Beschimpfungen zu hören.

Man holte uns der Reihe nach ab, erst das Zarenpaar und die Tochter, Großfürstin Maria, in einem offenen Automobil, das von einem mit Maschinengewehren und bewaffneten Gardesoldaten vollgestopften Lastwagen eskortiert wurde. Zwanzig Minuten später wurde ich zusammen mit dem Fürsten und unseren drei Dienern in einen geschlossenen Wagen gedrängt. Wir erhaschten ab und zu einen Blick auf die Stadt, jedenfalls genug, um zu sehen, dass Jekaterinburg bedeutend größer ist als Tobolsk. Es hat mehr hohe Gebäude und recht starken Verkehr auf den Straßen. Schließlich kämpfte sich der Wagen röchelnd einen langen Berg hinauf. Wir hielten auf der Hügelkuppe. Es roch nach Harz und frischem Baumsaft. Man hätte meinen können, man hätte uns in einem Wäldchen hinausgelassen.

Vor uns stand eine dichte, grob behauene Palisade aus schlanken, frisch ausgeästeten Baumstämmen von etwa vier Meter Höhe. Dahinter überragten weiße Dachgesimse und ovale Bodenfenster ein niedriges, gemauertes Haus.

Hierher sollte man uns bringen.

Man führte uns zum Eingang, wo jeder von uns den Passierschein vorzeigen musste, den wir von den Kommissaren in Tobolsk erhalten hatten. Als Arzt wurde ich schnell durchgelassen, Fürst Dolgorukow hielt man dagegen zurück, obwohl die Papiere zeigten, dass er der Hofmarschall des Zaren war.

Oder vielleicht gerade deshalb?

Es ist Mitternacht. Wir lassen den Dienstag nach Palmsonntag hinter uns, den Tag, an dem Nikolaj II. in Jekaterinburg Einzug hielt. Endlich Ruhe nach mehreren Tagen unterwegs, jedoch ohne unseren wirklichen Bestimmungsort zu kennen.

Ich habe zur Feder gegriffen. Vielleicht kann das Schreiben auf dem weiteren Weg als Hilfe und Stütze dienen, als Anhaltspunkt für Daten und Orte, jetzt, wo ich nicht einmal mehr den Fürsten Dolgorukow zum Gedankenaustausch habe.

Diese Entscheidung traf ich, als mir die Bedeutung des Tages aufging, nicht die offenkundige, aber die dahinterliegende. Nicht einmal der Zar erinnerte sich am 17. April daran, dass wir unser neues Gefängnis am 100. Geburtstag des Zaren betraten, den man den Befreier nennt.

Niemand erinnerte sich an den Geburtstag Alexanders II.

An seinen Todestag erinnert sich jeder.

Der Leibarzt des Zaren

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