Читать книгу Der Leibarzt des Zaren - Tor Bomann-Larsen - Страница 5
Vorwort
ОглавлениеKommandant Jurowskij fand die Pulsader des Zaren und stellte fest, dass der Tod eingetreten war. Es war kurz nach halb zwei in der Nacht zum 17. Juli 1918 (nach der alten russischen Zeitrechnung war es der 4. Juli).
Es war einfach gewesen zu schießen, aber schwierig zu töten.
Russlands letzter Zar, Nikolaj II., war zusammen mit seiner Familie und vier weiteren Personen eine halbe Stunde zuvor in den Keller des Ipatjew-Hauses geführt worden. Es lag in Jekaterinburg unmittelbar östlich des Ural-Gebirges. Man führte sie in einen kahlen Raum von 4 × 4,5 Meter mit einem ovalen Gitterfenster und gewölbter Decke. Für den Zaren wurde ein Stuhl geholt, ebenso einer für die Zarin und einer für den Thronfolger. Die übrigen verteilten sich hinter ihnen mit dem Rücken zur Wand wie bei einem Gruppenfoto.
Draußen sprang der Motor eines Lastwagens an.
Der Kommandant öffnete eine Tür, worauf eine Abteilung Gardesoldaten eintrat, die ihre Waffen diskret auf dem Rücken hielten. Der Kommandant verlas eine Erklärung des Exekutivkomitees des Ural-Sowjets, die in aller Kürze verkündete, der Augenblick sei gekommen, in dem die Anwesenden erschossen werden sollten.
Der Zar fragte:
»Wie bitte?«
Die Zarin bekreuzigte sich. Es fielen Schüsse. Ohrenbetäubender Lärm füllte den Raum, bis die Magazine geleert waren, doch die Schreie verstummten nicht.
Später, als man die Leichen entkleidete, stellte sich heraus, dass die Töchter des Zaren spezialgenähte, mit Edelsteinen gefütterte Korsetts trugen; die Edelsteine saßen so dicht, dass die Kugeln von ihnen abprallten und sogar die Bajonette Mühe hatten, den Stoff zu durchdringen. Bei sechs der Opfer fanden die Gardisten das Medaillon mit dem Porträt eines Mannes, den alle erkannten – Gregorij Rasputin. Weder die Edelsteine noch das Medaillon konnten ihr Leben retten, sondern verlängerten nur ihre Leiden.
20 Minuten nachdem die ersten Schüsse abgefeuert waren, lagen elf Leichen unter der Persenning auf der Ladefläche. Die Toten waren Zar Nikolaj, seine Gemahlin Alexandra, der kaum vierzehnjährige Thronfolger und seine vier älteren Schwestern sowie eine Dienerin und zwei Diener. Das elfte Opfer war der Leibarzt des Zaren, Doktor Botkin.
Jewgenij Sergejewitsch Botkin wurde 1865 als dritter Sohn von Professor Sergej Petrowitsch Botkin (1832–1889) geboren. Der Vater stand als Leibarzt in Diensten sowohl von Alexander II. als auch Alexander III. Der Sohn Jewgenij erhielt seine Ausbildung in St. Petersburg und an den Universitäten von Berlin und Heidelberg. Nach einer Tätigkeit als Oberarzt in einem Krankenhaus St. Petersburgs und als Mitarbeiter bei Sanitätsoperationen des Roten Kreuzes während des Krieges gegen Japan wurde er 1908 zum Leibarzt Nikolajs II. im Rang eines Generals ernannt. Dabei behielt er sein Engagement außerhalb des Hofs bei, unter anderem als Dozent an der Medizinischen Akademie.
Jewgenij Botkin bekam mit seiner Ehefrau Olga vier Kinder: Dimitrij (Mima), Jurij, Tatjana und Gleb, die in den Jahren 1894 bis 1900 geboren wurden. Zehn Jahre nachdem Botkin bei der Zarenfamilie seinen Dienst angetreten hatte, ging die Ehe in die Brüche. Die beiden jüngsten Kinder haben nach der Flucht aus Russland ihre Erinnerungen herausgegeben.
Doktor Botkin lehnte es ab, sich mit dem großen Günstling des Hofs zu befassen, dem Wundertäter Gregorij Rasputin (1869–1916), was ihn in einen gewissen Gegensatz zu Zarin Alexandra brachte. In einem Brief an den Zaren, datiert vom 30. August 1915, schreibt sie: »Ich habe Botkin eine Menge erzählt, um ihm die Dinge klarzumachen, da er sich nicht immer so verhält, wie ich es mir wünschen würde ...«
Alexandra Fjodorowna war eine geborene Prinzessin von Hessen, wuchs jedoch nach dem frühen Tod der Mutter bei ihrer Großmutter auf, Königin Viktoria von England. 1894 ging sie im Alter von 22 Jahren nach Russland, wo sie den orthodoxen Glauben annahm und den jungen Herrscher des Landes heiratete, Nikolaj II. Das Ehepaar bekam insgesamt fünf Kinder, die im Alexanderpalast des »Zarendorfs« Zarskoje Selo in der Nähe von St. Petersburg aufwuchsen. Außerhalb der Parkanlage des Palasts wohnte der Leibarzt mit seiner Familie.
»Seitdem die Hofverpflichtungen den größten Teil der Tage mit Beschlag belegten, war er gezwungen, seine persönliche Arbeit nachts zu erledigen«, schreibt Gleb Botkin von seinem Vater. »Er ging nie vor vier oder fünf Uhr morgens schlafen, um dann um acht Uhr wieder aufzustehen.«
Der Leibarzt hielt seine nächtlichen Gewohnheiten auch nach der Deportation nach Jekaterinburg aufrecht. In ihren Erinnerungen hat die Tochter einen Brief wiedergegeben, den sie von der Tochter des Zaren erhielt, der Großfürstin Olga: »Ihr Vater verbringt einen Teil seiner Nächte damit, zu schreiben. Einmal soll er sogar in der Badewanne eingeschlafen sein!«
Der Mord an Nikolaj II. und seinen engsten Angehörigen gehörte zu einer Reihe geheim gehaltener Aktionen, die von den Bolschewiken in Moskau gesteuert wurden, wobei Mitglieder des Zarenhauses ohne gesetzliches Verfahren hingerichtet wurden.
Die Dynastie der Romanows hatte 1913 ihr 300-jähriges Jubiläum als Russlands regierendes Fürstenhaus gefeiert. Die letzten Herrscher (nach Katharina der Großen) waren:
Paul I. (1796–1801)
Alexander I. (1801–1825)
Nikolaj I. (1825–1855)
Alexander II. (1855–1881)
Alexander III. (1881–1894)
Nikolaj II. (1894–1917)
Das Massaker in Jekaterinburg zog nicht nur einen Schlussstrich unter ein altes Regime; vielmehr sollte sich das Gewölbe in Ipatjews Keller als Ausgangspunkt politischer Lösungen einer neuen Zeit erweisen.
Die wichtigsten Quellen, die das Ende der Dynastie beleuchten, sind die eigenen Briefe und Tagebücher von Zar und Zarin. Mehrere Menschen in ihrer Umgebung haben ebenfalls ihre Erinnerungen geschrieben, unter anderem: Großfürst Alexander Michailowitsch, Großfürstin Maria Pawlowna, Fürst Roman Romanow, Fürst Felix Jusupow, die Hauslehrer Pierre Gilliard und Sidney Gibbs, die Hofdamen Anna Wyrubowa und Baronin Sophie Buxhoeveden, der Hofmarschall Paul Graf Benckendorff und der Befehlshaber der Leibgarde, Alexander Graf Grabbe. Überdies sind uns Beschreibungen von Minister Alexander Kerenskij, dem Botschafter Maurice Paléologue, dem Dichter Alexander Blok, dem Journalisten Robert Wilton und der Fürstin Catherine Radziwill überliefert. In den letzten Jahren und ganz besonders nach der Öffnung der Archive in Russland sind eine lange Reihe geschichtlicher Bücher veröffentlicht worden, Biografien und Dokumentensammlungen, die den Sturz des Zarentums erhellen. Diese Werke stammen sowohl von russischen als auch westlichen Schriftstellern und Historikern.
Doktor Botkins Tagebuch ist nie gefunden worden.