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2 Das Wesen der Schwarzweißfotografie ist grafisch

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Das Wesen der Schwarzweißfotografie ist grafisch. Schwarzweißfotografie ist Abstraktion und Reduktion der manchmal vor Farben schreienden Wirklichkeit. Sie ist Reduktion auf Formen und Tonwerte im Bereich eines umfangreichen Spektrums zwischen Weiß und Schwarz.

Schwarzweißfotografie kann aber auch eine Reduktion sein, bei der Bilder nur aus Schwarz- und Weißtönen bestehen, bei denen die Tonwerte im mittleren Grauspektrum also kaum vorhanden sind. Die meisten klassischen Maler hatten auch ein grafisches Werk: Radierungen, Linolschnitte oder Holzschnitte. Denken Sie an die unglaublich ausdrucksstarken Holzschnitte von Emil Nolde. Das ist Grafik par excellence. In diesem Sinne kann auch die Schwarzweißfotografie eine besonders starke grafische Ausdruckskraft entwickeln.

Hier geht es ganz besonders um das grafische Spiel von Licht und Schatten. Solch ein Spiel kann sowohl gegenständlichen als auch abstrakten Kompositionen zugrunde liegen. Denken Sie an die ausdrucksstarken Fotografien des großen Meisters Henri Cartier-Bresson. Viele seiner Bilder zeigen, abstrakt betrachtet, ein grafisches Spiel von Licht und Schatten, das dann zusätzlich noch inhaltliche Bedeutung bekommt, denn Cartier-Bresson ging es weniger um Abstraktion als um Fotografien mit einer starken Aussage. Aber allen gegenständlichen Fotografien liegt eine abstrakte Kompositionsstruktur zugrunde, und die muss stimmig und spannungsvoll sein, damit ein Bild kraftvoll rüberkommt. Was es genau bedeutet, ein gutes Bild zu komponieren, erfahren Sie im dritten Teil dieses Buches.

Hier lautet der Auftrag für Sie aber erst einmal, besonders grafische Fotos zu komponieren. Wählen Sie also bitte einen Sonnentag, gehen Sie in die nächste Stadt, und gestalten Sie mit Licht und Schatten. Beobachten Sie besonders das Schattenspiel aller Gegenstände, der Architektur, aber auch der Menschen. Begeben Sie sich z. B. auf einen belebten Bürgersteig und wählen Sie Ihre Position so, dass Ihnen die Passanten entweder bei Gegenlicht entgegenkommen oder dass ihre Schatten seitlich fallen. Nun richten Sie Ihren Blick nach unten und fotografieren Sie die Schattenspiele, die die Ihnen entgegenkommenden Menschen auf den Boden werfen. Nachdem Sie hier viele Fotos geschossen haben, gehen Sie weiter bei Gegenlicht spazieren und lassen sich treiben. Achten Sie besonders darauf, wie das Gegenlicht fast alle Gegenstände verfremdet und neue grafische Welten erschafft, die Sie mit Ihrer Kamera in Schwarzweiß umdenken und gestalten können. Lernen Sie, von Anfang an in Schwarzweiß zu sehen, und lassen Sie sich nicht von den vielen Farben ablenken. Wenn Sie lernen, grafisch zu denken und zu gestalten, sind Sie dem Wesen der Schwarzweißfotografie am nächsten.


Dieses Bild ist Ausdruck meiner Empfehlung, bei Gegenlicht durch die Stadt zu laufen und auf die Schatten der Passanten zu achten. Hier kommt zum Schatten der Passanten noch eine interessante Struktur im Pflaster hinzu, die das Bild zu einem grafischen Ganzen macht.

28 mm, Blende 11, 1/250 Sekunde


Bei diesem Bild herrscht dasselbe Lichtprinzip, aber das Sujet ist viel schwieriger, denn es handelt sich um zwei Kinder in einem kleinen Dorf in Indien, die rasend schnell ein so einfaches Spielzeug wie einen Gummireifen an mir vorbeijonglieren. Um dieses perfekt komponierte Bild zu erhalten, bedurfte es mehrerer Versuche. Die Kinder hatten so viel Freude, dass sie bereit waren, mehrfach mit ihren Gummireifen an mir vorüberzuziehen. Auch mir hat diese Situation in einem kleinen Dorf, in das sich wohl nie ein Tourist verirrte, viel Freude bereitet.

20 mm (30 mm im Vollformat), Blende 6,3, 1/1250 Sekunde, ISO 400


Dieses Bild, das eine Straßenszene im indischen Jodhpur zeigt, veranschaulicht noch einmal, was ich meine: eine ganz banale Licht- und Schattensituation zu entdecken und mit Ihrer Kamera so zu gestalten, dass ein Bild entsteht, das das Wesen der Schwarzweißfotografie veranschaulicht – hochgradig grafisch zu sein. Hier habe ich mit Silver Efex noch den letzten Schliff ins Bild gebracht.

18 mm (27 mm im Vollformat), Blende 4,6, 1/1250 Sekunde, ISO 400, Silver Efex


Das Bild rechts zeigt ein interessant ineinandergeflochtenes grafisches Muster, Ergebnis eines Licht- und Schattenspiels in New York. Analysiert man die Form, so greifen hier viele große und kleine optische Dreiecke ineinander. Das i-Tüpfelchen des Bildes ist natürlich der Mensch, der in diese grafische Konstruktion eingebettet ist. Es handelt sich um das Eisengerüst, das eine der großen Brücken in New York, die Queensboro Bridge, trägt.

28 mm, Blende 11, 1/250 Sekunde


Ebenfalls sehr grafisch ist diese Komposition von den Säulen der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main. Hier ist die grafische Komposition viel strenger und einfacher zu erfassen. Dominant sind auf dem Bild die vertikalen Säulen und ihre Schatten, zu denen rechts oben die horizontalen Linien der Treppe korrespondieren. Ohne den Menschen würde der Komposition das gewisse Etwas fehlen. Auf den richtigen Menschen musste ich lange warten, aber so fügt er sich perfekt in die grafische Komposition ein.

200 mm, Blende 11, 1/500 Sekunde


Die beiden Bilder dieser Doppelseite sind wieder bei Gegenlicht fotografiert, so wie ich es Ihnen empfohlen habe. An einem banalen Ort in Lanzarote entdeckte ich diese Strom-leitungen, die zusammen mit Hauswand, Laterne, Stoppschild und Agave eine interessante Bildkomposition ergeben. Mit Lightroom habe ich so gut wie alle Zwischentöne herausgenommen, sodass wir nur drei Tonwerte haben: einen Weißton, einen Schwarzton und einen mittleren Grauton in den Bergen. Einen leichten Grauverlauf habe ich noch in den oberen Teil des Himmels gelegt, damit er sich besser vom Hintergrund abhebt.

153 mm, Blende 20, 1/640 Sekunde, ISO 200


Eine alte, zerstörte Windmühle, ebenfalls auf Lanzarote, wirft ein ähnliches Licht- und Schattenspiel. Hier stehen die linienförmigen Strukturen den kräftig schwarzen Balken gegenüber und ergeben eine interessante grafische Bildspannung.

141 mm, Blende 18, 1/500, ISO 200


Bei diesem Bild in der Nähe der Istanbuler Galatabrücke ist vor allem die Spiegelung das Interessante am Bild. Die Menschen im Vordergrund sind Silhouetten und die Menschen im Spiegel oben sind ebenfalls Silhouetten. Auch wenn das Bild inhaltlich nichts weiter als Alltäglichkeit zeigt, lebt es von seinem starken grafischen Charakter – und das ist das Wesen der Schwarzweißfotografie!

93 mm, Blende 9, 1/200 Sekunde, ISO 250


Ein wunderschönes grafisches Spiel zeigen die New Yorker Feuertreppen im Viertel SoHo bei Gegenlicht. Die sich klar abzeichnende Feuertreppe im rechten Bildteil schafft eine formale Spannung zu den hinteren Feuertreppen im linken Bildteil. Zwischen die beiden Bildteile sind die Silhouetten von zwei Menschen eingebettet, auch wieder zwei kleine Rädchen im großen Getriebe von New York. Versuchen auch Sie, Menschen bei Gegenlicht in grafische Kompositionen zu betten.

155 mm, Blende 10, 1/800 Sekunde, ISO 250


Bei dem ging es um die Einheit von Architektur und moderner Kunst. Im Foyer des Frankfurter TaunusTurms fand die Ausstellung des Gegenwartskünstlers Michael Beutler statt. Die Formensprache seiner modernen Skulpturen ordnet sich wunderbar in die moderne Glasarchitektur des Foyers ein. Das Foto zeigt die Verbindung von beiden und entfaltet auch bei Gegenlicht sehr schöne Licht- und Schattenspiele.

26 mm, Blende 11, 1/320 Sekunde, ISO 200


Blickt man von oben auf den Eingangsbereich der Deutsche-Bank-Hochhäuser in Frankfurt am Main, so lässt sich mit einer Telebrennweite auch ein sehr grafisches Bild komponieren. Die Grundstruktur der Architektur sind kleine Rechtecke, die aber in ein sehr abwechslungsreiches Formenspiel einschließlich seiner Spiegelung gekleidet sind. Mit Silver Efex habe ich noch eine leichte Vignette eingebaut, sodass das Bild eine Konzentration zur Mitte hin erfährt.

128 mm, Blende 9, 1/125 Sekunde, ISO 250

Die Magie der Schwarzweißfotografie

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