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1 Befreien Sie sich von Klischeebildern und finden Sie Ihren eigenen Ausdruck

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Dass die Welt von Klischeebildern überschwemmt wird, wissen wir. Es ist deshalb so, weil die meisten Menschen gar nicht über das reflektieren, was sie fotografieren. Ein Klischee ist ja schließlich eine Vorstellung von der Welt, die von anderen vorgegeben wird. Ein Klischee ist vielleicht so etwas wie eine grobe Schablone, die über die unglaublich vielfältige Wirklichkeit gelegt wird. Doch wer gibt diese Schablone eigentlich vor? Wer sagt uns, was fotografierenswert ist und was nicht? Sie sehen schon jetzt, wie wichtig es ist, sich von dem zu befreien, was andere denken und vorgeben.

Ich muss selbst auch immer wieder Klischeebilder produzieren, da ich auch für Kalender fotografiere, und auf Kalender gehören nun mal die Klischeebilder, die jeder erwartet, sonst verkaufen sie sich nicht. In der Wüste sind das vor allem Sanddünen mit Kamelen im frühen Morgenlicht – auch wenn die Sahara nur zu einem relativ geringen Prozentsatz aus Sanddünen besteht. In New York sind es die Freiheitsstatue und die Brooklyn Bridge, Orte, zu denen ich kaum noch gehe, weil sie durch das Massenverhalten, das ich in der Einleitung geschildert habe, entweiht worden sind. Wie also soll man sich von Klischees befreien? Zunächst einmal ist es wichtig, grundsätzlich zu reflektieren und in sich zu gehen. Welche Orte ziehen Sie wirklich an? Wo möchten Sie unbedingt hin? Welche Orte und Sujets üben in Ihrer Vorstellung eine wirkliche Magie aus?

Nehmen Sie sich bitte einmal richtig Zeit, entspannen Sie sich und reflektieren Sie darüber. Was taucht vor Ihrem geistigen Auge auf, was sind die Orte Ihrer Sehnsucht? Diese Orte müssen nicht, dürfen aber weit entfernt liegen.

Welche Qualität hat Ihre Sehnsucht? Was tragen diese Orte zu dem bei, das Ihnen in Ihrem Alltag womöglich fehlt?

Mich zieht es z. B. zum Entspannen an ganz andere Orte als zum Fotografieren. Zum Entspannen liebe ich das Meer. Ich sehne mich nach stillen, einsamen Stränden und harmonischen Orten mit südlichem Flair. Aber auch diese Orte müssen gar nicht sensationell sein, es kann auch ein Strand am Rhein sein, in dem man heute wieder baden kann. Für die Fotografie zieht es mich dagegen immer wieder an Orte, an denen alles so entgegengesetzt zu meinem Alltag ist wie nur denkbar. Schon als ich ganz jung war, zog es mich nach Indien. Noch heute ist Mumbai für mich die interessanteste Stadt, die ich kenne. Ich liebe Orte, an denen die Spuren der Zeit noch sichtbar sind, an denen authentisches Leben stattfindet und von denen ich überrascht werde, weil oft jede Planung durch Unvorhergesehenes durchkreuzt wird. Und ich liebe Orte, an denen ich Abgründiges finde.

Ich schaue gern in Abgründe, denn Abgründe enthüllen mir etwas Verborgenes, das unter einer Oberfläche lauert oder hinter einer Fassade zutage tritt.

In Deutschland finde ich das sehr schwierig. Alle Fassaden sind glatt und gestrichen. Wo ist die Verbindung in die Vergangenheit? Ist die Geschichte noch wirklich spürbar?

Auch hinter die Fassaden von Menschen gelangt man hierzulande schwieriger als beispielsweise in Italien oder in Indien, wo viele Menschen einem schon bei einer kurzen Begegnung das erzählen, was wirklich ihre Seele bewegt.

Denken wir über Klischees nach, sollten wir uns noch etwas anderes vergegenwärtigen. Das, was wir über die Welt in unserem Kopf tragen, unser Weltbild, ist nicht ansatzweise deckungsgleich mit der Wirklichkeit. Unser Weltbild entsteht aus erlerntem Wissen und im besseren Fall aus Erfahrungen oder aus der Summe von beidem. Auch das, was wir über einen Ort zu wissen glauben, denken wir in Begriffen, in Sprache, und dieses vermeintliche Wissen stellt sich oft einer unmittelbaren Erfahrung beim Sehen oder Fotografieren in den Weg. In dem Moment, wo wir über einen Ort schon etwas zu wissen glauben und dieses Wissen reflektieren, steigen wir mit unserem Geist aus dem unmittelbaren Betrachten aus. Der beste Weg aber, um sich von allen Klischees zu befreien, ist das unmittelbare, unvoreingenommene Betrachten der Wirklichkeit. Und genau hier bekommt die Fotografie wieder Tiefe und wird zum echten Erleben: Wenn es uns gelingt, uns zumindest für eine Weile vom begrifflichen Denken über das, was wir sehen, zu lösen und den Geist leer und unvoreingenommen werden lassen, dann sehen wir unmittelbar und geraten in eine neue Qualität des Erlebens.

Bei dieser Qualität des unmittelbaren Erlebens stört auch die Kamera nicht. Sie ist im Gegenteil geeignet, den Geist auf den gegenwärtigen Moment zu richten und somit kreativ zu sein und dabei eine hohe Erlebnisqualität zu behalten. Um sich von Klischees zu befreien, empfehle ich Ihnen also zweierlei:

– Suchen Sie Orte auf, zu denen es Sie wirklich hinzieht, die Ihre Orte sind.

Befreien Sie Ihren Geist von Klischeevorstellungen über den Ort.

– Steigen Sie aus der Begrifflichkeit aus, die mit diesem Ort verbunden ist, und tauchen Sie ohne störende Gedanken mit Ihrer Kamera in den unmittelbaren Moment ein.

Ich bin sicher, Sie werden sich selbst überraschen und Ergebnisse mit nach Hause bringen, mit denen Sie nicht gerechnet haben.


Venedig gilt als die schönste Stadt der Welt. Aber auch bei solchen Vorgaben ist es wichtig, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Ich liebe Venedig vor allem deshalb, weil die Spuren der Zeit an den meisten der wunderschönen Häuser noch abzulesen sind. Ist man in Venedig, so kann man natürlich auch einmal ein paar Klischeebilder schießen. Hier handelt es sich um den Blick auf St. Giorgio Maggiore – und dies bei Vollmond. Abends sind die Touristenfluten aus der Stadt verbannt und so gewinnt Venedig seinen ursprünglichen Zauber wenigstens ein Stück weit wieder zurück.

40 mm, Blende 9, 15 Sekunden, ISO 100


Das kleine Bild zeigt die Skyline von New York mit der Brooklyn Bridge, so wie man sie kennt: das Klischeebild von New York. Das große Bild zeigt, dass es auch anders, und zwar deutlich besser geht: Regen ist die einzige Situation, in der die Brooklyn Bridge nicht überlaufen ist. Und wenn sich dann noch eine Szene wie diese ergibt, hat man sich von der Klischeeansicht befreit. Die Ausleuchtung ist perfekt, und so wird diese Szene – obwohl der Mann das tut, was alle tun, nämlich ein Foto mit dem Handy knipsen – zu einer ganz besonderen Szene. Hier kam ich bei der offenen Blende 4 des Canon 16–35-mm-Zoom bei einem ISO-Wert von 1600 nur auf eine Verschlusszeit von 1/13 Sekunde. Der Bildstabilisator und eine ruhige Hand haben es möglich gemacht, dass das Bild nicht verwackelt ist. Ein Stativ ist auf der Brooklyn Bridge wegen der starken Schwingungen der Brücke nicht einsetzbar.

30 mm, Blende 4, 1/13 Sekunde, ISO 1600


Zurück nach Venedig: Dieses Bild vom Canal Grande entfernt sich auch schon ein wenig vom Klischee, weil es mit einem Neutraldichtefilter (siehe Seite 342) fotografiert wurde, was eine Langzeitbelichtung auch am Tag ermöglicht. Bei der Belichtungszeit von 8 Sekunden erscheint der Canal Grande fast wie eine Fläche aus Samt, und die in Unschärfe getauchten Schiffe wirken ein wenig geisterhaft. Der mit der Gelbfilterfunktion von Silver Efex herausgearbeitete Himmel (siehe Seite 42) tut ein Weiteres, um dem Foto eine geheimnisvolle Magie zu verleihen, und diese Magie ist es, die das Bild über ein Klischeefoto hinaushebt.

16 mm, Blende 8, 8 Sekunden, ISO 100


Ist nicht ganz Venedig wie eine Konkubine, die zur Sinneslust verführt? Etwas entfernt vom Markusplatz gibt es noch Viertel, die ein wenig vom Massentourismus verschont sind. Hier fand ich diese Spiegelung eines Gemäldes mit den Häusern der Stadt. Mit Spiegelungen weben wir zwei Welten ineinander. Um Schärfentiefe zwischen dem nahegelegenen Bild und dem Hintergrund zu erlangen, war hier bei 35 mm Brennweite Blende 18 nötig.

35 mm, Blende 18, 1/40 Sekunde, ISO 400


Eine ganz andere Möglichkeit, um den Klischeeansichten eines Ortes zu entrinnen, besteht darin, in Viertel zu gehen, die kaum bekannt sind, in denen sich aber authentisches Leben abspielt, wie z. B. im New Yorker Viertel Bushwick. Künstler wurden in New York aufgrund immer höherer Mieten zunehmend weiter an den Stadtrand gedrängt: von Greenwich Village über Soho auf die andere Seite des East Rivers nach Williamsburgh und jetzt ins noch weiter entfernte, ehemals heruntergekommene Viertel Bush-wick. Die New Yorker Hochbahn liefert einen grafisch interessanten Hintergrund.

28 mm, Blende 7,1, 1/1000 Sekunde, ISO 800


Im Istanbuler Viertel Balat scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Aber oft sind gerade solche Viertel vom Abriss bedroht: Erdoğan plante, ganze Straßenzüge abreißen zu lassen und durch Neubebauung zu ersetzen. Dabei sind solche Viertel doch häufig die schönsten, in denen nicht jede Fassade aussieht, als könne man sie ablecken wie die Kruste eines Himbeereises. Versuchen auch Sie bei einer Reise in unbekannte, vom Reiseführer verschwiegene, Viertel zu gehen. Sie werden entdecken, wie viel Freude es macht, sich überraschen zu lassen, einmal nicht auf das vorbereitet zu sein, was kommt.

16 mm, Blende 13, 1/500 Sekunde, ISO 400

Die Magie der Schwarzweißfotografie

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