Читать книгу Die Magie der Schwarzweißfotografie - Torsten Andreas Hoffmann - Страница 7
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Wie viele Milliarden Fotos werden wohl täglich auf die Sensoren von Kameras und Smartphones gebannt? Im Jahr 2017 wurde weltweit etwa 1,2-billionenmal (in Zahlen: 1.200.000.000.000-mal) auf den Auslöser gedrückt. Das entspricht in etwa 3,2 Milliarden Fotos täglich.
An den berühmten Höhlen der indischen Insel Elephanta zeigt sich das, was überall in der Welt abermillionenfach geschieht: ein Handyfoto vor der Berühmtheit, um dann den schwachen Abglanz der Wirklichkeit nach Hause zu tragen und sich dort womöglich zu wundern, dass man die Wirklichkeit gar nicht richtig erfahren hat.
18 mm (27 mm Vollformat), Blende 3,5, 1/10 Sekunde, ISO 3200
Heute ist die Zahl noch höher. Davon werden etwa 85 % der Bilder mit dem Smartphone geschossen, etwas über 4 % mit dem Tablet und nur noch etwas mehr als 10 % aller Aufnahmen mit der Digitalkamera.
Als ich 2007 mein erstes Buch über digitale Schwarzweißfotografie schrieb, steckte die digitale Entwicklung noch in den Kinderschuhen: Smartphones lieferten noch keine tollen Fotos, Facebook war gerade mal drei Jahre alt, Instagram gab es noch gar nicht, und die Fotografie begann erst, sich in ein Massenphänomen zu verwandeln. Auf Berliner Hauswänden war noch zu lesen: »Shoppst Du noch oder fotografierst Du schon?«
Inzwischen finden wir eine Weltverdoppelung vor: Die echte, analoge Welt existiert noch, wird aber zunehmend beschädigt – Klimawandel, Artensterben und Rodung der Urwälder drücken dies aus. Die künstliche, digitale Welt hingegen wächst immer weiter und schneller. Mit der Fotografie bewegen wir uns in beiden Welten; wir streunen mit unseren Kameras oder Smartphones durch die echte Welt und erzeugen ihren Nachhall in der digitalen, stellen Fotos milliardenfach auf Instagram oder Facebook, um ... ja, warum eigentlich? Hier sind wir bei einer sehr grundlegenden Frage, der Frage nach der Motivation.
Warum um alles in der Welt wird heute soo viel fotografiert? Hat das nicht schon etwas Pathologisches? Trifft nicht genau das zu, was der Religionsphilosoph Alan Watts in seinem Buch »Der Lauf des Wassers« geschrieben hat: Es ist so, als gingen wir zu einem Fluss, verweilten dort aber nicht, füllten das fließende Wasser in einen Kunststoffbehälter, trügen ihn nach Hause und wunderten uns dann, dass das Wasser gar nicht mehr fließt (sinngemäße Wiedergabe).
Wenn ich auf der Brooklyn Bridge in New York, dem Eisernen Steg in Frankfurt, auf dem Markusplatz in Venedig oder vor dem Heidelberger Schloss stehe, dann tun dort alle dasselbe: mit dem Smartphone Fotos machen. Und wenn ich die Menschen beobachte, fällt mir auf, dass sie gar nicht mehr genau hinschauen. Verpasst man nicht gerade so das echte Erleben des Moments? Selbst in Kirchen oder sakralen Räumen, auf Konzerten oder vor der Mona Lisa macht diese »Klickomanie« nicht halt. Walter Benjamin sprach schon lange vor Beginn der Digitalisierung davon, dass im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit Objekte ihre Aura verlieren. Heutzutage haben nicht nur die Mona Lisa oder der Kölner Dom ihre Aura eingebüßt, inzwischen erfahren die schönsten, verborgensten Küsten, Berggipfel oder weltberühmte Gebäude wie der Petersdom auf diese Weise ihre Entweihung. Entweihung deshalb, weil ihnen nicht mehr der genügende Respekt, die echte Bewunderung, das schweigende Staunen entgegengebracht werden, sondern weil sie Opfer einer Haltung werden, die in etwa nichts weiter besagt als: »Schaut mal, ich war dort! Bin ich nicht toll?« Diese Motivation – zu beweisen, an welch berühmten Orten man gewesen ist, und sich so selbst aufzuwerten – liegt ganz gewiss zu einem großen Teil diesem Massenphänomen zugrunde.
Sie, liebe Leserin, lieber Leser, empfinden das, was ich soeben kurz geschildert habe, gewiss ähnlich, sonst hätten Sie dieses Buch nicht gekauft. Sie wollen genau wie ich etwas anderes. Sie wollen sich von dieser oberflächlichen Herangehensweise befreien, bei der die Fotografie das wirkliche Leben, das echte Erleben eines Moments ersetzt, ja, noch schlimmer, bei der man das wirkliche Erleben womöglich verpasst.
Ich habe vor über 30 Jahren, als es um meine Berufswahl ging, lange gezögert, bevor ich mich endgültig der Fotografie gewidmet habe, weil ich genau diese Befürchtung hatte: die Fotografie könne zu einer Art Ersatzleben werden.
An meinem 30. Geburtstag hatte ich die Gelegenheit, Karlfried Graf Dürckheim kennenzulernen, einen großartigen Philosophen, der die japanische Zen-Philosophie nach Europa gebracht hatte. Er war damals schon über 80, konnte kaum noch sehen, ergriff aber meine Hand, um mich zu fühlen, und hörte mir bei meinen Abwägungen verschiedener möglicher Lebenswege intensiv und einfühlsam zu. Zum Schluss sagte er mir, ich solle mir keine Sorgen machen, denn das Stärkste werde sich von allein durchsetzen.
Und das wurde bei mir trotz mancher Zweifel die Fotografie. Und meine lebenslange Motivation war und ist es heute noch, einen Ausdruck zu finden, einen Ausdruck für meine inneren Empfindungen und vor allem aber einen Ausdruck für meine Empfindungen über diese Welt. Sie werden sich vielleicht wundern, dass ich in einem Lehrbuch über Fotografie mit dieser Welt und ihrer in meinen Augen teilweise dekadenten Erscheinung kritisch ins Gericht gehe. Dies tue ich deshalb, weil ich der Meinung bin, dass wir als Fotografen Sehende sind, die die Aufgabe haben, sehr genau hinzuschauen und auch dort hinzuschauen, wo die meisten lieber wegschauen. Deshalb möchte ich Sie in diesem Buch auch zu einem kritischen Blick auf diese in höchstem Grade unvollkommene Welt anleiten. Ich möchte Sie aber vor allem dazu inspirieren, Ihre eigenen Empfindungen zu entdecken und auszudrücken – ja, sogar sehr emotional auszudrücken, denn Bilder haben per se eine starke emotionale Kraft. Wenn Sie dieses Buch aufmerksam lesen, werden Sie am Ende ein Stück weit gelernt haben, wie Sie Fotografien so gestalten, dass Ihre eigene Weltsicht und Schaffenskraft in diesen Bildern steckt und auf andere Menschen wirken kann.
Ich möchte Sie also zu einer anspruchsvollen Herangehensweise an die Fotografie anleiten, selbst wenn Sie dies nur mit einem Smartphone tun.
Im Übrigen wurde ich, während ich dieses Buch schrieb, von der Corona-Krise überrascht. Ich bin sehr gespannt, ob und wie sich die Welt danach verändern wird. Im Moment ist der Ausgang dieser Krise für mich völlig ungewiss. Vieles, was ich in diesem Buch z. B. über das Massenverhalten an Touristenorten schreibe, ist momentan ins Gegenteil verkehrt. Ob all das genauso wiederkehrt, wie es vorher war, weiß ich nicht. Ich befürchte es aber schon. Gern werde ich mich eines Besseren belehren lassen. Vielleicht kehrt ja doch so etwas wie Demut vor der Schöpfung in die hochmütige Gemüter vieler Menschen ein. Ich wünsche es uns sehr.
Warum schwarzweiß fotografieren?
Auch hier haben wir es mit einem Zeitphänomen zu tun. Der weitaus größte Teil der Bilderflut findet in Farbe statt, und selbst bei Zeitschriften wie Merian oder Geo beobachte ich, dass die Regler für Kontrast und Farbsättigung meist ein wenig zu weit nach rechts geschoben werden: Die Farben wirken häufig zu grell und unnatürlich. Mancher Kollege hat dies schon optische Umweltverschmutzung genannt. Ist das ein Zeichen von Desensibilisierung? Sind die Sinne vieler Menschen heutzutage abgestumpft? Muss man deshalb immer dicker auftragen?
Eine Redakteurin sagte mir einmal, die Farbfotografie sei so geschwätzig. Nun, da ist etwas Wahres daran. Die Schwarzweißfotografie ist das Gegenteil, sie ist im positiven Sinne asketisch, sparsamer mit Sinnesreizen. Sie ist also geeignet, wieder zu sensibilisieren. Und sie ist per se schon eine Abstraktion, denn Farben werden in Tonwerte von Tiefschwarz bis Weiß übersetzt. Und diese Abstraktion macht die Schwarzweißfotografie in meinen Augen künstlerischer und damit interessanter als die Farbfotografie.
Leider hat die Schwarzweißfotografie Marktanteile verloren. Eine Geo-Redakteurin erklärte mir das damit, dass die Leser glauben, bei Schwarzweißbildern bekämen sie weniger für ihr Geld. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Bei Schwarzweißbildern bekommt man mehr für sein Geld, denn auch digital fotografierte Schwarzweißbilder müssen sorgfältig am Computer erarbeitet werden, und dafür muss der Fotograf bzw. die Fotografin mehr Zeit aufwenden als für die Erarbeitung eines Farbfotos. Wie man das am besten macht, schildere ich übrigens im letzten Teil dieses Buchs.
Schwarzweißfotografie entfaltet oft eine stärkere Magie als die Farbfotografie, besonders beim Himmel. Diese besondere Magie in Ihre Bilder zu bringen, ist die Kunst, die ich Sie lehren möchte.
Hauptsächlich möchte ich Sie mit meinen Texten und Bildern in diesem Buch anregen, Ihren eigenen Weg, Ihre eigenen Sujets und Ihre eigene Ausdrucksform zu finden, um zu entdecken, wie Sie diese Welt empfinden, und um Ihre Empfindungen in eine Bildsprache zu kleiden, die auch anderen Menschen etwas »rüberbringt«. Natürlich können Sie Ihre Bilder auch auf Facebook oder Instagram teilen, doch Ihre Motivation ist tiefer: Sie werden die Fotografie dazu nutzen, hinter die Oberfläche zu schauen – hinter Ihre eigene, hinter die Ihrer Mitmenschen und hinter die der Welt, in der Sie sich bewegen. Dabei wünsche ich Ihnen viel Freude und neue Erkenntnisse!