Читать книгу Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch - Страница 14
Kapitel 4
ОглавлениеDantra fasste sich erst an sein Auge und blickte dann auf seine Hand. Doch es war kein Blut daran, das auf irgendeine Verletzung hindeuten würde. Auch die beiden verloren geglaubten Finger waren dort, wo sie hingehörten. Verblüfft und nicht weniger verwirrt stand er auf. Vor wenigen Augenblicken hatte er noch mit dem Tod gerungen und nun spürte er nicht einmal mehr den geringsten Schmerz. Er konnte wieder fest auftreten und selbst seine Kleidung sah nun wieder genauso aus wie vor seinem Gang in die Finsternis. Es fanden sich weder Risse noch Blutflecken. Nur die abgewetzten Stellen waren zu sehen, die ihn immer wieder daran erinnerten, dass er dringend neue Kleidung brauchte. Ratlos schaute er E’Cellbra an. „Es tut mir leid“, sagte sie und senkte, wenn auch kaum merklich, den Blick.
Jetzt war es geschafft: Das letzte Stück Klarheit in Dantras Kopf war restlos erloschen. Er wusste zwar nicht, was die Hexe gemacht hatte, dass er anscheinend wieder völlig genesen war, jedoch war er ihr dafür sehr dankbar. Aber anstatt dass er seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen konnte, entschuldigte sie sich bei ihm. Er hatte eher damit gerechnet, einen Drachenangriff zu überleben, als dass E’Cellbra jemals für irgendetwas vor ihm Reue zeigen würde. „Was ist passiert? Und was tut dir leid?“, fragte er, nachdem sein Staunen über das Geschehene es zuließ.
„Es tut mir leid, dass ich dich da reingeschickt habe. Ich forsche seit vielen Jahren inner- und außerhalb dieses Waldes. Und dennoch habe ich die Gefahr, die von ihm ausgeht, hoffnungslos unterschätzt. Ich habe dein Leben leichtsinnig aufs Spiel gesetzt. Das war sehr dumm von mir. Durch meine Selbstüberschätzung, für die ich mich schäme, habe ich dich in große Schwierigkeiten gebracht.“
Er blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Zum ersten Mal in seinem Leben war er absolut sprachlos. Und es dauerte eine Weile, bis er sich wieder fing. E’Cellbras Selbstkritik bereitete ihm ein schlechtes Gewissen. Er hatte sie immer für hochnäsig gehalten. Für jemanden, der unter keinen Umständen einen Fehler zugeben würde. Doch nun stand sie da und sah ihn an, als würde ihr eine Prügelstrafe bevorstehen. „Aber sieh mal“, sagte er mit tröstender Stimme. „Du hast mich doch rausgeholt und außerdem bin ich wieder völlig gesund. Selbst wenn ich nicht weiß, warum“, fügte er achselzuckend hinzu.
„Gesund?“, rief sie mit erhobener Stimme, sodass Dantra zusammenzuckte. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, packte sein linkes Handgelenk und zerrte ihn zum Schatten des schwarzen Baumwaldes. In dem Augenblick, in dem sie seine Hand aus dem Sonnenlicht ins Dunkel hielt, waren alle Verletzungen, all das Blut und vor allem das Fehlen der beiden Finger wieder zu erkennen. Und auch wenn Dantra keinen Schmerz spürte, so wurde ihm dennoch bei diesem unerwarteten, unwirklichen Anblick sofort speiübel. Er zog seine Hand ruckartig aus der Umklammerung und damit auch aus dem Schatten des schwarzen Baumwaldes. Entsetzt schaute er abwechselnd von E’Cellbra auf seine Hand, die nun wieder unversehrt aussah.
„Was ist das für ein Teufelszauber? Wie ist so was möglich?“ Sein Gesicht versteinerte, die Farbe wich daraus und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er machte einen Schritt zurück, um den Abstand zwischen sich und E’Cellbra zu vergrößern. „Hast du mich etwa verhext?“ Obwohl er leise sprach, war das Zittern in seiner Stimme deutlich zu hören. Denn mit dieser Frage brachen fast seine gesamten Empfindungen über ihn herein. Von Wut, Enttäuschung und Hass wegen des Vertrauensbruchs, über Angst, Hilflosigkeit und Trauer wegen der nun herrschenden Situation, bis hin zur Verärgerung über seine eigene Dummheit, ihr jemals sein Vertrauen geschenkt zu haben.
„Du bist jetzt schon mehrere Monate bei mir und hast das Wichtigste immer noch nicht gelernt.“ Ihre Worte klangen ruhig und gelassen. Noch. Denn nachdem sie ihn einen Moment lang schweigend angesehen hatte, verfiel sie wieder in ihre gewohnt herrische und abwertende Art und zog so abermals über seine Unkenntnis her. „Eine Hexe kann nichts verändern, was ist. Weder mit Worten noch mit ihren Gedanken. Das Gleiche gilt für einen Hexer. Wir können nur mit Geschick und Magie Flüssigkeiten zubereiten, deren Einnahme gewisse Veränderungen bewirken kann. Da deine Schwester allerdings für uns beide kocht und du auch sonst keinerlei Kostproben meines Könnens zu dir genommen hast, kann ich also gar nicht auf magische Art für deinen momentanen Zustand verantwortlich sein. Ausschließlich meine Fehleinschätzung über die drohende Gefahr kannst du mir vorwerfen. Aber alles andere ist völliger Unfug!“ Der Schluss des Satzes ließ aufgrund der Lautstärke ein Rebhuhn, das in einiger Entfernung eine Efeuansammlung als Versteck genutzt hatte, unter wilden Flügelschlägen davonflattern.
„Entschuldigung“, sagte Dantra, während Schamröte sein Gesicht überrollte.
„Wofür?“
„Bitte?“
„Ich will wissen, wofür du dich entschuldigst.“ E’Cellbra sprach zwar nun wieder leiser, allerdings hörte sie sich noch gereizter an als vorher.
Dantra dachte fieberhaft nach. „Wie meint sie das, wofür?“ Doch sein Grübeln brachte ihn nicht weiter und in E’Cellbras Miene sah er ihre Ungeduld wachsen. „Ach, mit der Wahrheit kann man ja nicht so verkehrt liegen“, dachte er noch und sagte dann reumütig: „Weil ich an deiner Ehrlichkeit gezweifelt habe.“
Er hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, als ihm die bebenden Nasenflügel E’Cellbras auffielen. Am liebsten hätte er sich sofort die Ohren zugehalten, aber das hätte ihren Wutausbruch sicher nur noch verschlimmert. „Hör auf, dich für dein Misstrauen zu entschuldigen. Gerade in dieser Welt ist es das, was dir dein Leben retten kann. Wenn du dich für irgendetwas entschuldigen musst, dann dafür, dass meine Worte nicht ihr Ziel in deinem Kopf finden konnten. Glaubst du denn wirklich, du bräuchtest nichts lernen, weil du mit deiner primitiven magischen Kraft all die Probleme, die zwangsläufig auf dich zukommen werden, lösen kannst?“
„Nein“, antwortete Dantra leise und mit gesenktem Kopf.
E’Cellbra hakte nach: „Nein?“
Dantra antwortete nun etwas lauter und ihren strengen Blick erwidernd: „Nein.“
Sie fragte abermals: „Nein?“
Nun schrie er: „Nein!“
Doch sie wiederholte unbekümmert ihre Frage.
Nun brüllte Dantra sie an: „Verdammt noch mal! Nein! Ich habe es nie geglaubt, und nach dem, was ich gerade dort drin“, er zeigte auf den schwarzen Baumwald, „erlebt habe, erst recht nicht mehr.“ Er schnaufte und die Röte in seinem Gesicht war wieder zurück. Nur jetzt war es die blanke Wut, die sie dorthin getrieben hatte. E’Cellbras Gesichtszüge hingegen entkrampften sich und mit sanfter, freundlicher Stimme sagte sie: „Gut, dann lass uns nach Hause gehen. Ich habe Hunger.“ Sie drehte sich um und marschierte los. Dantra sah ihr verdutzt hinterher. Da war sie wieder. Die Frage. Sollte er ihr einen dicken Ast an den Hinterkopf werfen oder ihr sogar ins Kreuz springen? Doch die Vernunft ließ ihn wieder einmal einfach nur zu ihr aufschließen.
Nachdem ein frischer, aus Richtung Culter heraufziehender Abendwind sein Gemüt abgekühlt hatte, brach er das Schweigen. „Was ist denn nun passiert? Warum bin ich wieder völlig gesund? Also, ich meine, warum bin ich außerhalb des Schattens gesund?“ Da E’Cellbras Antwort etwas auf sich warten ließ, befürchtete er schon, dass ihr Kontingent an Redebedarf für heute erschöpft sei. Doch einige Schritte später musterte sie ihn kurz über ihre Schulter und machte eine Geste, die ihm wohl sagen sollte, dass sie sich selbst nicht ganz sicher sei.
„Nach dem, was ich bisher herausfinden konnte, ist der schwarze Baumwald eine ganz eigene Welt für sich. Nichts, was dort drin passiert, steht in Verbindung mit dem, was außerhalb geschieht. Einzig deine Verletzungen, die dich dort drin sicher umgebracht hätten, können nun verheilen. Wenn du also in einigen Wochen noch einmal in den schwarzen Baumwald gehen würdest, wären deine Finger zwar nicht wieder angewachsen, deine Wunden jedoch wären abgeklungen und du hättest wieder die notwendige Kraft, dich zumindest für kurze Zeit zu wehren.“
„Ich werde nie wieder dort hineingehen. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass jede andere Taktik bei meiner vergeblichen Gegenwehr an gleicher Stelle geendet hätte.“
„Da hast du wahrscheinlich recht“, pflichtete ihm E’Cellbra bei.
„Hast du mich eigentlich sehen können, als diese Viecher auf mich losgingen?“
„Nein, aber du warst schon so nah an der Waldgrenze, dass einige der Goracks, die du von dir weggeschleudert hast, aus dem Schatten gewirbelt wurden und sofort zu Staub zerfielen.“
„Du meinst, ich habe einige der Biester getötet?“ Sie sah zu ihm hinüber und nickte. „Ja!“, rief er und reckte dabei seine Faust in den Himmel. Gleich darauf schaute er sie fragend an. „Woher weißt du, dass sie Goracks heißen?“
„Weil ich sie so genannt habe. Wenn man eine Spezies erforscht, dann sollte man ihr doch wenigstens einen Namen geben, oder nicht?“
„Ich finde geflügelte Kakerlaken hätte auch gut gepasst. Wieso haben sie dich eigentlich nicht angegriffen?“
„Ich habe eine Tinktur entwickelt, die sie von mir fernhält. Riechst du sie nicht?“
Dantra atmete tief durch die Nase ein. „Außer Fliederduft riech ich nichts“, sagte er achselzuckend.
„Genau das ist es.“
„Sie haben Angst vor Fliederduft?“
„Ob sie Angst haben oder aus einem anderen Grund fernbleiben, kann ich dir nicht sagen“, erklärte E’Cellbra ihm. „Doch eins ist sicher. Es ist nicht der Flieder, der sie davon abhält anzugreifen. Die Tinktur, die dieses bewirkt, stank nur so abscheulich, dass ich sie selbst nicht ertragen konnte und deshalb Fliedergeruch beigemischt habe. Leider ist die Wirkung nicht von sehr langer Dauer. Irgendwann greifen sie einen doch an. Es ist also nicht möglich, mit der Tinktur beträufelt lange Forschungsreisen in den schwarzen Baumwald zu unternehmen. Und bei diesem Punkt, muss ich ehrlich gestehen, hatte ich auf deine magische Kraft gehofft. Du weißt schon ... dass sie dich vielleicht in Ruhe lassen, wenn sie ihre Chancenlosigkeit erkennen.“
„Es waren einfach zu viele“, begründete Dantra sein Scheitern. „Und ihre Angriffe waren nicht willkürlich, wie man es von einem Tier erwarten würde, sondern taktisch überlegt. Fast so, als wären sie von fremder Hand gesteuert.“
„Leider befürchte ich, dass die Aufklärung dieses unglücklichen Vorfalls noch lange auf sich warten lassen wird. Denn ich habe keine Ahnung, wie man ihn gefahrlos untersuchen könnte.“
Den Rest des schmalen Trampelpfads liefen sie gewohnt schweigend und tief in ihre Gedanken versunken hintereinander her. Die letzten Sonnenstrahlen hatten gerade den Wald verlassen, als sie auf eine Anhöhe gelangten, von wo aus man E’Cellbras Haus bereits sehen konnte. In diesem Moment blieb die Hexe abrupt stehen. Neugierig spähte Dantra an ihr vorbei. Er entdeckte trotz des schwindenden Lichts Tami, wie sie aufgeregt mit den Armen winkend auf sie zurannte. E’Cellbra hatte nun ihren Schritt wieder aufgenommen und beide eilten Tami entgegen. Kaum waren sie bei ihr angekommen, fing diese sofort an, mit einem panischen Blick, wie ihn Dantra bei ihr noch nie gesehen hatte, hektisch und mit unverständlicher Gestik den Grund der Aufregung zu erklären.
E’Cellbra sah von ihr zu Dantra und wieder zurück. Sie gab dem Ganzen noch einen kurzen Moment, bevor sie den Jungen schließlich fragte: „Und? Was ist los? Was hat sie?“
Dieser schaute sie irritiert an. „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“
Die Hexe hatte ihre sonst übliche Aufwärmphase übersprungen und zischte ihn stattdessen sofort so barsch an, dass er einen halben Schritt zurückwich. „Sie ist deine Schwester und führt sich auf wie eine Henne im Kampf ums letzte Korn. Und du weißt nicht, was sie uns damit sagen will?“
Dantra starrte sie und Tami an, als wären sie Gespenster. Mit mitleiderregender Stimme jammerte er: „Aber nur, weil sie meine Schwester ist, heißt das doch noch lange nicht, dass ich weiß, was sie von uns will.“
Ein tiefes Knurren rollte der Hexe durch die Kehle. In diesem Augenblick krächzte ihr Rabe, der vom Dach des Hauses zu ihnen herübergeflogen kam, wilder und lauter als je zuvor. E’Cellbra sah zu ihm auf. Als er verstummte, blickte sie zurück zu Tami, die nun schuldbewusst und verängstigt ihre Hände vor den Mund nahm, was ihren besorgten Blick noch unterstrich. Die Hexe hastete an ihr vorbei Richtung Hütte und rief dabei: „Kommt mit rein. Schnell!“
Nachdem die schwere Holztür mit ihrem gewohnten Knacken und Quietschen laut ins Schloss gefallen war, deutete die Hexe auf zwei Stühle, die am Küchentisch standen. „Setzt euch“, murmelte sie. Die Geschwister taten wie ihnen aufgetragen. Sie selbst blieb vor ihnen stehen, den Kopf dabei halb gesenkt. „Ich weiß, es ist noch viel zu früh“, sie schaute wieder auf, „aber ihr müsst fortgehen. Und zwar so weit weg von hier wie möglich.“ Es war für Dantra das zweite Mal an diesem Tag, dass er eine neue Seite an E’Cellbra kennenlernte. Nach Reue kam nun Traurigkeit hinzu, denn ihr Gesicht und der Klang ihrer Worte ließen diese, auch wenn sie es zu überspielen versuchte, klar erkennen. Im Augenwinkel sah er, dass auch Tami ihren Kopf hängen ließ, sodass ihre langen goldblonden Haare ihr Gesicht verdeckten. Dantra jedoch hatte das Problem, das die beiden anscheinend bereits gefühlsmäßig verarbeiteten, noch gar nicht erkennen können. Daher fragte er leise: „Was ist überhaupt passiert?“
„Tami war am Heideteich, um Nestelzweige für mich zu schneiden“, erklärte E’Cellbra ihm. „Normalerweise geht niemand von den umliegenden Dörfern so tief in den Wald. Aber gerade heute haben es wohl doch zwei Jäger, vermutlich bei der Verfolgung einer Fährte, gewagt. Und wie es das Schicksal wollte, haben sie Tami dabei entdeckt.“
„Und?“, fragte Dantra immer noch verunsichert.
„Nun, wenn sie dir begegnet wären, dann hättest du sagen können: Hallo. Schöner Nachmittag heute. Ich bin bereits eine halbe Ewigkeit unterwegs und habe noch nicht einmal einen Hasen zu Gesicht bekommen. Habt ihr schon etwas erlegen können? Wenn sie aber jemanden wie Tami sehen, und das an so einem Ort, bei so einer Arbeit, dann kann das für sie nur eines bedeuten: Sie ist eine Hexe. Und damit ist sicher, sie kommen zurück. Aber dieses Mal nicht nur zu zweit, sondern mit ihrem halben Dorf im Rücken.“
Dantra sprang so ruckartig auf, dass sein Stuhl nach hinten umfiel. „Sollen sie doch kommen“, rief er erzürnt, „ich werde sie schon lehren, dass man Tami besser keinem Scheiterhaufen zu nahe kommen lassen sollte, wenn einem der feste Boden unter den Füßen lieb ist.“
Der Anflug eines Lächelns huschte über das versteinerte Gesicht E’Cellbras. „Setz dich wieder hin“, sagte sie ruhig und deutete dabei auf den Stuhl, der hinter Dantra zum Liegen gekommen war. „Beeindruckende Kampfesrede. Und ja, du könntest ihnen sicher die Stirn bieten. Aber wie lange? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dich umzingelt hätten und ein feige abgeschossener Pfeil sich in deinen Rücken bohren würde. Glaubt mir, es ist besser, ihr geht.“
Tami hob ihren Kopf. Ihr Gesicht war weiß wie ein Leichentuch und ihre Augen waren mit Tränen gefüllt. Sie deutete zitternd mit ihrem Zeigefinger auf E’Cellbra.
„Ich?“, fragte diese nur wenig überrascht. „Ich muss hierbleiben. Ich bin zu alt zum Reisen. Aber vertraue mir, ich habe für solche Fälle vorgesorgt. Ich werde mich für einige Zeit unsichtbar machen. Leider vermag die Menge an Vorräten, die ich habe, nur einen und nicht drei so lange zu ernähren, bis man sich hier wieder gefahrlos bewegen kann.“
Nachdem E’Cellbra Dantra und Tami einen Becher Wasser eingegossen und diesen vor sie hingestellt hatte, riet sie ihnen, beim ersten Morgengrauen aufzubrechen. Den ganzen Abend und die Hälfte der Nacht erklärte sie ihnen, was sie auf ihrer Reise beachten mussten. Es gab unzählige Gefahren und damit auch Gelegenheiten, die falsche Entscheidung zu treffen. Sie berichtete von ihren Erfahrungen, die sie im Laufe vieler Jahre in der Welt da draußen gemacht hatte. Aber vor allem erzählte sie ihnen von einem gar nicht so weit entfernten Ziel, das sie auf ihrer Reise anstreben sollten. „Es gibt eine kleine Insel namens Meridies. Sie liegt etwas weiter draußen, vor der Gehoraen-Küste. Zur Mittagszeit erstreckt sich der Schatten des Insula-Berges, eines längst erloschenen Vulkans, um den sich viele Mythen der alten Tage ranken, über die gesamte Insel. Das gewöhnliche Volk sieht dieses natürlich als schlechtes Omen. Und da es dort ohnehin nicht viel zu holen gibt, ist die Insel auch nicht bewohnt. Zumindest nicht von Menschen, die euch gefährlich werden könnten. Denn sie ist Zuflucht für alle, die nicht in dieser Gesellschaft geduldet werden.“
Dantra fühlte das erste Mal seit ihrer Rückkehr wieder so etwas wie Hoffnung. Von dem Moment an, als ihm klar wurde, dass sie nicht länger bei E’Cellbra bleiben konnten, kreiste das eine Wort unaufhörlich um alle anderen offenen Fragen: Wohin? Er hatte zwar keine Vorstellung davon, wie weit sie laufen mussten, um diesen Ort zu erreichen, aber das war ihm egal. Wenn Tami dort sicher wäre, würden sie dort hingehen. Ganz egal, wie lange es dauerte oder welche Strapazen diese Reise mit sich bringen würde.
Nach einer viel zu kurzen Nacht wurden die Geschwister von E’Cellbra geweckt. Sie war hierfür eigens die Treppen in den Keller hinuntergestiegen und hatte sie sanft wach gerüttelt. Dantra bedauerte, dass anscheinend immer erst etwas Unvorhergesehenes passieren musste, damit E’Cellbra ihre stets verborgen gehaltene freundliche Seite zeigte. Nach seinem schaurigen Besuch im schwarzen Baumwald am Tag zuvor hatte er diese zum ersten Mal kennenlernen dürfen und auch jetzt, nachdem ihr Fortgehen in unmittelbare Nähe gerückt war, hatte sie sie wieder gezeigt. Denn für gewöhnlich wurde die Bodenluke von ihr nur kurz angehoben, um ihn mit einem erschreckend lauten Zuruf und einer anschließenden Beleidigung aus seinen Träumen zu reißen. So weit geöffnet, dass man hätte hindurchsteigen können, hatte sie die Luke nur, wenn Dantra nicht sofort aus seinem Tiefschlaf erwacht war. In diesen Fall hatte sie die Luke nämlich mit Schwung von oben herabknallen lassen.
Es war gut, dass Dantra und Tami nicht viel Kleidung oder andere Habseligkeiten besaßen. So mussten sie nicht entscheiden, was sie zurücklassen würden, um das Gewicht des Gepäcks klein und erträglich zu halten. Nach einem ungewohnt mageren Frühstück waren beide, mit Verpflegung für fünf Tage, ausreichend Wasser und ihren persönlichen Sachen bepackt, abmarschbereit. Mit einem schon fast ausgesprochenen Lebewohl auf den Lippen beobachtete Dantra, dass E’Cellbra noch irgendetwas im hinteren Teil der Küche suchte. Sie kam mit zwei Säckchen in der Hand, die aus dunklem Leder gefertigt waren, zu ihnen zurück. Sie gab Dantra zuerst das größere der beiden und erklärte: „Hier drin habe ich etwas Pulver, das du brauchst, um dir die Goracks vom Leib zu halten. Wenn ihr aus irgendeinem Grund vor den Zerrocks oder irgendeinem anderen Gesindel fliehen müsst, könnte dieses Zeug sehr nützlich sein. Denn in den schwarzen Baumwald hinein verfolgt euch sicher keiner. Sollte es also so weit kommen, dann vermischt das Mittel einfach mit etwas Wasser aus eurem Trinkschlauch. Durch diese letzte Zutat wird es zu der Tinktur, die ihr zur Abwehr braucht. Verteilt diese gleichmäßig auf eurer Kleidung.“ Nun nahm die Hexe Dantras noch freie Hand und drehte sie so, dass die Handfläche nach oben zeigte. Sie ließ aus dem kleineren Säckchen eine Münze in seine Hand fallen. Es war ein Kupferstück mit einer Eins und einem K für Krato darauf. Es war nicht viel, aber auch nicht wenig. Mit etwas Glück reichte es für einen ganzen Laib Brot. Und in jedem Fall war es mehr, als Dantra bis dahin je besessen hatte. „Gebrauche ihn, wenn du ihn brauchst. Doch nutze deinen Verstand, bevor du ihn benutzt“, sagte sie und sah dabei in ein Gesicht, das Bände sprach. „Deine Schwester erklärt dir, was ich meine, wenn es so weit ist. Wir haben vor einiger Zeit schon einmal darüber geredet.“
Als Dantra das Geldstück zurück in das kleine Säckchen gleiten lassen wollte, das ihm die Hexe ebenfalls in die Hand gelegt hatte, fiel ihm auf, dass auf der Rückseite ein Kelch mit einem Halbkreis am oberen Gefäßrand abgebildet war. Er ließ beide Säckchen in der extra von Tami angenähten Innentasche seiner Jacke verschwinden. Als er erneut aufschaute, stand E’Cellbra bereits wieder vor ihm. Dieses Mal hatte sie jedoch einen Blick aufgesetzt, an dessen Ernsthaftigkeit es keinen Zweifel gab. Sie hielt ein Schwert in ihrer Hand, das in einer kaum drei Finger breiten Scheide steckte. Diese sah aus, als wäre sie vor langer Zeit aus einem Stück Holz gewachsen. Allerdings waren hier und da bereits Moosansätze auf dem ansonsten ungewöhnlich glatt wirkenden, armlangen Holz zu erkennen. In der Mitte, wo man den Klingenschutz umfassen würde, wenn man das Schwert herausziehen wollte, war die grobe Rinde, die einen festen und sicheren Halt gewährleistete, in ihrem etwa handbreiten Urzustand belassen worden. Der Griff des Schwertes war ebenfalls von dieser ungewöhnlich dicken Rinde umschlossen. Der nach links und rechts abstehende Handschutz war, genau wie der Griffknauf auch, aus einem bereits verwitterten und rostigen Metall gefertigt. Die drei Enden waren alle abgerundet und jeweils mit einem anderen Zeichen versehen. Am Handschutz war auf der einen Seite eine Sonne und auf der anderen ein Mond eingearbeitet.
Im Knauf war eine Abbildung zu sehen, die Dantra nicht richtig zuordnen konnte. Was nicht nur an dem schlechten Zustand lag, sondern das Zeichen erinnerte ihn auch an keine ihm bekannte Form. Es waren viele schmale Striche, die wie Sonnenstrahlen von oben in der Mitte zusammentrafen. Und von dort aus schien nur eine Linie weiterzuführen. Sie war länger als die anderen und verlief in Richtung Klinge. Das wirklich Interessante aber war, dass vom Knauf zwei Spitzen, die die Rundung unterbrachen, auf die eckigen Kanten zeigten, die sich jeweils an einem runden Ende des Handschutzes herausbildeten. Wären sie nur eine Daumenbreite länger gewesen, hätten sie sich berührt.
E’Cellbra zog das Schwert heraus, wobei ein grauenhaftes Geräusch die alten Mauern des Hexenhauses erzittern ließ, das Dantra an das Quietschen einer Ratte erinnerte, die Zuflucht unter einem Scheiterhaufen gesucht hatte und nicht mehr rechtzeitig vor dem Entzünden fliehen konnte. Die Klinge war nicht nur in dem gleichen freudlosen Zustand wie der Rest des Schwertes, sie war auch enttäuschend unspektakulär. Sie wirkte, als würde sie bereits abbrechen, wenn man sich mit ihr lediglich einen Weg durch hohes Gras schlagen wollte. Dantra hoffte, dass E’Cellbra es ihm nicht schenken wollte. Es wäre ein absolut überflüssiger Ballast. Und diesen wollte er, gerade im Hinblick auf ihre sicher kraftraubende Reise, so gut wie möglich vermeiden. Doch ein Ablehnen käme nicht infrage. Nicht nur, weil es sehr unhöflich wäre, vor allem, wenn man sich gerade in tiefer Dankbarkeit verabschieden wollte, auch seine Unsicherheit wegen dieses vorher noch nie von der Hexe zur Schau getragenen ernsten und zugleich traurigen Blicks spielte dabei eine große Rolle.
Nachdem E’Cellbra das Schwert unter ihren leicht glasigen Augen einige Male langsam gedreht hatte, so als würde sie eine Botschaft unter all dem Rost suchen, schob sie es mit demselben Gänsehaut erzeugenden Geräusch zurück in die Holzscheide. „Es bringt nichts, es noch länger aufzubewahren“, murmelte sie. „Nimm du es.“ Sie streckte ihre Arme aus und hielt es Dantra mit so viel Ehrfurcht entgegen, dass dieser das Geschenk zwar annahm, aber es dabei so weit von sich weghielt, als befürchtete er, dass eine todbringende Seuche daran kleben würde.
Sein ungutes Gefühl und die Irritation darüber, dass E’Cellbra ein Schwert, welches allem Anschein nach zu nichts mehr zu gebrauchen war, mit so viel Respekt und Bewunderung behandelte, verschwanden schlagartig, als sie mit ungewohnt rauer Stimme kundtat: „Das ist ein Elbenschwert. Es trägt den ehrwürdigen Namen Pakator.“
In der Klosterschule hatte man ihnen nicht sehr viel über die anderen Völker von Umbrarus beigebracht. Ihre Namen wurden meist nur kurz am Rande einer Zeitalterstunde erwähnt. Aber gerade die Völkerkunde war es, die Dantra schon immer interessiert und fasziniert hatte. Leider war jenes wenige Hintergrundwissen, das er besaß, lediglich aus den spannenden Geschichten von Schwester Cesena übernommen. Dabei war er sich allerdings nicht sicher, wie viel von ihren Erzählungen der Wirklichkeit entsprach oder nur zur Verschönerung der Geschichte diente.
Eines aber war ganz sicher: Die Elben waren ein großes und mystisches Volk, das schon lange vor den Menschen, Nalcs und sogar den Drachen hier lebte. Dantra hatte noch nie einen von ihnen gesehen oder überhaupt irgendetwas, das mit ihnen in Verbindung stand, zu Gesicht bekommen. Und nun hielt er eine ihrer Waffen in der Hand. Ein Schwert, das optisch die lange Zeit, seitdem es die Hand seines Schmiedes verlassen hatte, eins zu eins widerspiegelte, aber dennoch so viel Wert für Dantra hatte, als wäre es aus purem Gold und mit Edelsteinen besetzt.
Während er die Scheide an seinem Gürtel befestigte, brannten ihm wieder einmal zahllose Fragen auf der Zunge. Wieso besaß E’Cellbra ein Elbenschwert? Woher hatte sie die Waffe? Und sahen alle Elbenschwerter so schäbig aus? Aber noch bevor er eine seiner Fragen stellen konnte, stand die Hexe, die für einen kurzen Moment in dem hinteren Raum verschwunden war, erneut vor ihm und hielt ihm eine Pergamentrolle unter die Nase. Sie war mit einem weißen Siegel verschlossen, auf dem man ein Einhorn erkennen konnte.
„Es ist eine Karte von Umbrarus“, erklärte E’Cellbra. „Ich habe sie vor sehr langer Zeit von einem alten Freund bekommen. Er ist ...“ Sie stockte. Ihr Blick verlor sich im Nichts und flüsternd, mehr zu sich selbst als zu Dantra, fuhr sie fort: „... wenn er noch lebt ...“ Nach einem weiteren schweigenden Zögern sah sie ihn wieder an und redete weiter, als hätte es diese kleine Unterbrechung nie gegeben. „... ein Zauberer. Er hat sie mit einer Formel so bearbeitet, dass sie sich selbst immer wieder aktualisiert. Das Siegel verschließt sich ebenfalls stets aufs Neue und lässt sich nur von dem öffnen, der die Erlaubnis des Besitzers hat. Und da ich sie dir hier und jetzt schenke, hast du ab sofort die alleinige Macht über die Karte.“
Dantra konnte es nicht fassen. Er lebte nun schon fast ein Jahresviertel in diesem Haus. Alles, was er über Magie und mystische Völker erfahren hatte, konnte er an einer Hand abzählen. Das hatte er sich damit erklärt, dass E’Cellbra eine Hexe war, die entweder schon eine sehr lange Zeit hier allein lebte, oder gar noch nie aus diesem zwar sehr schönen, aber dennoch stinklangweiligen Stück Wald herausgekommen war. Doch nun, da keine Zeit mehr für Antworten blieb, obwohl ihn sein Wissensdurst beinahe dahinraffte, musste er erfahren, dass es hier anscheinend Kenntnisse über Zauberei und fremde Kulturen in Hülle und Fülle gab. Über die Dantra allerdings zu seinem unendlichen Bedauern nun höchstwahrscheinlich niemals mehr etwas erfahren würde. Wut und Enttäuschung mischten sich daher in die aufgekommene Freude über die neuen Erkenntnisse und die geheimnisvollen Geschenke.
Aber Dantra wusste, es war nun nicht die Zeit für Dickköpfigkeit und kindliches Trotzverhalten. Sie würden sich vielleicht nie wiedersehen. Nie wieder E’Cellbras alte und knochige, aber ungewöhnlich starke Hand schütteln, so wie er es gerade zum Abschied tat, nachdem er die Karte ebenfalls in der Innentasche hatte verschwinden lassen, die Tami in kürzester Zeit geschickt angenäht hatte.
„Grey wird euch über Schleichwege zum großen Wall führen.“ Sie standen nun bereits vor der Hütte. In einiger Entfernung stand der Wolf und scharrte mit einer seiner wuchtigen Vorderpfoten im Waldboden, als würde er nach Würmern graben. „Aber ab dort seid ihr auf euch allein gestellt“, ermahnte E’Cellbra die Geschwister. „Geht am besten ein Stück in den Wald hinein und dann parallel zum Wall. Wegelagerer und Räuber sind dort leider keine Seltenheit. Sie warten nur darauf, Reisende zu überfallen, die ohne Zerrocks und damit ohne Drachenschutz unterwegs sind. Und nun geht, meine Freunde. Ich wünsche euch beiden alles Gute. Und hoffe, der behütende Einhornbann umschließt und begleitet euch.“ Mit ihren letzten Worten machte die Hexe eine Handbewegung, die sie dazu bewegen sollte, sich zu beeilen.
Hundegebell und vereinzelte noch nicht zu verstehende Rufe durchbrachen die morgendliche Stille.
„Sie werden dich finden“, sagte Dantra besorgt zu der Hexe. „Du musst dich irgendwo verstecken.“
„Oh, das tue ich, glaub mir. Hier findet mich niemand.“ Sie ging einige Schritte zurück in Richtung Haus und blieb kurz vor dem Blumenbeet stehen, das rings ums Haus herum angelegt war und das Dantra schon so oft bei der mühseligen Gießarbeit verflucht hatte. Dann überquerte sie dieses, aber nicht mit einem großen Schritt, so wie sie alle drei es bisher immer getan hatten, sondern indem sie auf die lockere Erde trat, als wäre es selbstverständlich.
Noch während E’ Cellbra sich umdrehte, um ihnen ein Abschiedslächeln zu schenken, welches ihr faltiges und kantiges Gesicht ungewohnt freundlich erscheinen ließ, sprossen kleine grüne Knospen aus dem Boden. Sie wuchsen in unglaublicher Geschwindigkeit mehrere Fuß hoch, wobei sie sich ineinander verschlangen und ihre Äste mit spitzen Dornen, so groß wie Nähnadeln, spickten. Zum Schluss entfalteten sich große ovalförmige Blätter, die mit ihrem saftigen Grün etwas auffällig aus dem bereits bunten Imberwald herausstachen. Doch nach einem weiteren kurzen Augenblick der Bewegungslosigkeit verfärbten sie sich zu einem saftigen Dunkelrot. Von dem Hexenhaus war nun nichts mehr zu sehen.
Dantra und Tami standen mit offenen Mündern staunend da und regten sich erst wieder, als Grey ein kurzes, leises Aufheulen verlauten ließ. Sie wandten ihm ihre Blicke zu. Er drehte sich um und lief ohne weitere Verzögerung los.