Читать книгу Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch - Страница 26

Kapitel 10

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Akinna legte ein Tempo vor, das Dantra ganz stark an E’Cellbra erinnerte. Erst kurz vor Einbruch der Dämmerung blieb Akinna, nachdem sie abermals an einer unscheinbaren Stelle vom Weg ins Unterholz abgebogen war, stehen. Die Baumgruppe, vor der sie sich nun befanden, hatte die Größe einer Scheune und erweckte irgendwie den Eindruck, als wäre sie ein eigener kleiner Wald im Wald. Die Blätter sahen noch wesentlich grüner und kräftiger aus als die der Bäume drum herum. Und der Efeu, der sich um jeden der Baumstämme rankte, bestärkte noch den Eindruck von blühender Frische.

„Dies ist ein magischer Wald“, erklärte Akinna ihnen. „Normalsterbliche fühlen sich in ihm unwohl. Sie verspüren den starken und fast nicht zu bändigenden Drang, diesen Ort umgehend wieder zu verlassen. Doch egal, wie schwer es euch fällt, wir werden dort drin übernachten. Denn hier haben wir die Sicherheit, die für unsere momentane Situation erforderlich ist.“

Sie waren kaum zwei Schritte in den Hain hineingegangen, als Comal brummte: „Das wird nichts.“

„Wie meinst du das?“ Akinna war offensichtlich erstaunt, zuerst von ihm und nicht von Dantra das vorhersehbare Winseln zu hören.

„Hier drin hielte ich es nicht einmal aus, wenn hinter dem nächsten Baum ein Festmahl auf mich warten würde. Und bei dem Hunger, den ich gerade verspüre, hat das echt was zu sagen.“

Dantra sah ihn mitleidig an. „Eigentlich hat doch keiner der Banditen Comal gesehen. Vor allem nicht mit uns zusammen. Von daher dürfte es doch kein Problem sein, dass er draußen schläft.“

Akinna überlegte kurz. „In Ordnung. Aber wenn dir irgendetwas verdächtig erscheint, kommst du und sagst uns Bescheid.“

„Damit ich euch und euer Versteck womöglich verrate? Auf keinen Fall. Wenn mir irgendetwas verdächtig vorkommt, dann sehe ich zu, dass ich verschwinde. Also, solltet ihr morgen früh aus diesem unwirklichen Ort heraustreten und es riecht nicht nach Frühstück, dann ist etwas faul.“ Mit diesen Worten machte Comal auf dem Absatz kehrt und ging zurück.

Akinna und Dantra setzten ihren Weg fort. Nach einigen Schritten kamen sie zu einem kleinen Bach, der sich durch ein einladend aussehendes, weiches Moosbett schlängelte. „Hier werden wir schlafen“, kündigte Akinna an und legte ihre Sachen ab. Dantra tat es ihr wortlos gleich und setzte sich den Rücken an einen Baum gelehnt hin. Nach einem kurzen Augenblick sah Akinna ihn fragend an. „Was ist los? Du sagst ja gar nichts. Ist dir das ungute Gefühl auf die Stimmbänder geschlagen?“

„Ich habe kein ungutes Gefühl. Zumindest nicht wegen dieses Ortes hier“, gab er schroff zurück.

„Du spürst kein Verlangen, das Weite zu suchen?“

„Nein. Warum sollte ich? Du sagtest doch, dass sich nur Normalsterbliche unwohl fühlen. Ist dir entgangen, dass ich eine magische Kraft in mir trage?“

„Nein, natürlich nicht.“ Auch Akinnas Ton wurde nun aggressiver. „Aber du trägst nur eine magische Kraft in dir, nicht aber magisches Blut. Und genau darauf kommt es an.“

„Vielleicht ist ja auch einfach kein Platz mehr in meiner Magengegend für ein solch bedrückendes Gefühl. Ist eben im Moment sehr voll dort. Und das, obwohl ich seit Stunden nichts gegessen habe.“

„Ach, und was liegt dir so schwer im Magen?“

„Eine Frage.“

„Das war mir schon klar.“ Akinnas Stimmlage wurde nun bedrohlich einige Oktaven höher. „Etwas anderes außer Fragen scheint ja nicht in dir drin zu sein. Also mach es nicht so spannend. Was willst du wissen?“

Dantra beugte sich ihr entgegen. „Warum bist du so eine selbstverliebte Xanthippe?“

Akinna hatte wohl mit vielem gerechnet, damit aber nicht. Für einen Moment sah sie zu ihm hinüber, als würde sie an ihren sonst so außerordentlich gut hörenden Ohren zweifeln. Doch plötzlich, wie aus dem Nichts und vor allem schneller, als Dantra es wahrnehmen konnte, hockte sie vor ihm und hielt ihm eine ihrer Pfeilspitzen direkt an seinen Kehlkopf. Erschrocken wollte Dantra zurückweichen, musste aber die schmerzliche Erkenntnis erlangen, dass sie eine zweite Pfeilspitze in ihrer anderen Hand in seinem Nacken postiert hatte. „Nur weil du aus irgendeinem Grund etwas kannst, was andere nicht können, gibt dir das noch lange nicht das Recht, mich zu beleidigen. Denn wer weiß? Vielleicht ist deine magische Kraft ja nur ein vorübergehendes Phänomen. Vielleicht bist du gar nicht so besonders. Also denk erst darüber nach, wie du wen bezeichnest, bevor es dir zum Verhängnis wird. Meine Pfeile mögen es nämlich gar nicht, wenn ich auf diese herablassende Art angesprochen werde.“ Sie hatte gesagt, was zu sagen war, den Rest übernahmen ihre Augen. Dantra erkannte in ihnen genug Zorn, um das Beschriebene in die Tat umzusetzen. Und auch wenn er selbst vor Wut bebte, war ihm doch klar, dass es sein letztes Widerwort wäre, wenn er jetzt den Mund aufmachte. Akinna setzte sich wieder, wenn auch immer noch angespannt. Als sich die Gemüter auf beiden Seiten etwas abgekühlt hatten, ergriff sie erneut das Wort. „Vielleicht komme ich manchmal etwas arrogant rüber, aber dafür gibt es Gründe. Über die ich hier und jetzt allerdings nicht reden möchte.“

„Die Frage stellte ich dir nicht wegen deines allgemeinen Verhaltens“, antwortete Dantra mit ebenfalls ruhiger Stimme. „Schon allein, weil ich glaube, dass es mir gar nicht zusteht, über dich oder über deine Art, wie du mit anderen umgehst, zu urteilen. Denn einerseits gehörst du dem hohen Volk der Elben an und hast sicher schon viele schlechte Erfahrungen mit den aus deiner Sicht einfachen Menschen machen müssen. Und andererseits findet der ein oder andere mich beziehungsweise meine Art sicher auch unerträglich. Niemand ist perfekt. Meine Frage zielte mehr auf dein Verhalten während der Schlacht ab. Ich meine, wegen Peewee.“

Dantra versuchte krampfhaft, weiterhin ruhig zu bleiben. Er wollte es wirklich. Aber seine Worte konnten nur wütend und laut ausgesprochen werden. „Warum durfte ich meine Kraft nicht einsetzen, als ich es für notwendig hielt? Dann würde Peewee jetzt noch leben. Dann wäre Capra nicht von Trauer zerfressen. Aber nein, ich durfte diese stinkenden, feigen Ratten erst aufmischen, nachdem du in Bedrängnis geraten bist. Erst als es dir an den Kragen ging und du um dein Leben gefürchtet hast, da waren bei dir alle Bedenken, meine Kraft einzusetzen, verflogen. Also warum?“

Dantras Zorn hatte sein Höhepunkt erreicht. Aber dennoch schaffte es sein Verstand, seine Nerven an den Zügeln zu halten und seine Anfangsfrage, auch wenn sie hier hervorragend gepasst hätte, nicht noch einmal zu stellen. Stattdessen beendete er seine Anklage nur mit einem „Warum hast du so unbedacht gehandelt?“.

Akinna blieb gelassen. Sie sah ihn nachdenklich an. Was dann folgte, ließ in dem aufgebrachten Dantra sämtliche Anspannung weichen und einen verwirrten Ausdruck auf seinem Gesicht erscheinen. Denn Akinna tat das, was Dantra niemals von ihr erwartet hätte: Sie entschuldigte sich bei ihm. Und nicht etwa widerwillig oder ironisch, sondern wohlwollend und ehrlich.

„Wie meinst du das?“, fragte er sie erstaunt. „Soll das etwa heißen, du gibst zu, einen Fehler gemacht zu haben?“

„Warum nicht? Du sagtest doch gerade selbst: Niemand ist perfekt.“

„Also meinst du auch, es wäre besser gewesen, meine Kraft bereits früher einzusetzen?“ Dantra traute dem Braten nicht. Akinna war keine, die an einer von ihr gefällten Entscheidung auch nur den Hauch von Kritik zuließ. So gut kannte er sie schon. Und vor allem würde sie nie ein Fehlverhalten zugeben. Und mit dieser Einschätzung sollte er recht behalten.

„Nein. Der Zeitpunkt war perfekt. Bis zuletzt herausgezögert, aber dennoch keinen Moment zu spät.“

„Und wofür hast du dich dann gerade entschuldigt?“, fragte Dantra ernüchtert.

„Weil ich versäumt habe, dir meine Entscheidung zu erklären. Ich hätte wissen müssen, dass du sie nicht nachvollziehen kannst.“

„Warum? Weil du glaubst, dass ich zu dumm bin?“ Dantra war bereits wieder im Begriff, in verbale Angriffsposition zu gehen, bevor Akinna ihn erneut beruhigte.

„Nein, weil dir ein gewisses Hintergrundwissen fehlt, das ich dir nun vermitteln möchte.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an.

Doch Dantras Begeisterung, dass sie ihn an ihrem Wissen teilhaben lassen wollte, ohne dass er danach fragen musste, blieb aus. Stattdessen schaute er sie nur skeptisch an. Konnte er sich doch nicht vorstellen, dass sich Peewees nutzloser Tod mit etwas Hintergrundwissen erklären ließ. Aber er wollte Akinna dennoch die Chance lassen, sich zu rechtfertigen. Und natürlich war auch irgendwo in seinem Kopf der kleine wissensdurstige Dantra, der gerade trotz allem anderen begeistert Purzelbäume schlug. Aber er wäre lieber auf der Stelle in einen Zweikampf mit einem Drachen gezogen, als dass er durch sein Verhalten in Akinna auch nur den leisesten Verdacht hervorgerufen hätte, er wäre auf jedes Wort von ihr gierig wie ein Pferd aufs Wasser nach einem dreitägigen Wüstenritt.

„Ich bin auf der Suche nach jemandem“, begann sie ihre Erklärung. „Und vielleicht bist du dieser Jemand. Das endgültig festzustellen ist aber nicht meine Aufgabe.“

„Wer soll ich denn sein?“, unterbrach Dantra sie. „Und wessen Aufgabe ist es festzustellen, ob ich der gewisse Jemand bin?“

„Das erfährst du später“, fuhr ihn Akinna genervt an. „Können wir jetzt vielleicht erst mal bei der Beantwortung deiner ursprünglichen Frage bleiben?“ Dantra nickte resigniert. „Gut. Wo war ich? Ach ja. Wie gesagt, ich suche jemanden, von dem ich allerdings nichts weiß, außer dass er im Besitz einer ungewöhnlichen Kraft sein muss. Jedoch habe ich keine Ahnung, wie diese Kraft aussieht beziehungsweise wie sie sich zu erkennen gibt. Wenn ich aber den Verdacht habe, dass ich dem Richtigen begegnet bin, so überprüfe ich erst einmal seine Glaubwürdigkeit. Und anschließend seine Loyalität gegenüber dem Kampf für die Freiheit. Denn nur wenn ich ihm vertrauen kann, darf ich ihn jemandem vorstellen, der das benötigte Wissen hat, um den Gesuchten zu erkennen.“

„Wer ist ...“ Dantras Fragenberg wuchs zunehmend.

Akinna jedoch duldete keine weiteren Unterbrechungen, was sie ihm mit ihrem Zeigefinger auf dem Mund verdeutlichte. „Mein größtes Problem bei der Suche ist es, auf den eventuell Richtigen erst einmal aufmerksam zu werden. Er trägt ja kein Schild vor sich her, auf dem steht: Achtung, Akinna, ich bin der, den du suchst. In deinem Fall war es auf der einen Seite das Elbenschwert und auf der anderen die Bekanntschaft mit E’Cellbra. Beides keine alltäglichen Gegebenheiten. Womit deine Frage, warum ich meine Marschrichtung geändert habe, nun wohl auch beantwortet sein dürfte. Als wir dann auf Comal trafen und du zugegeben eindrucksvoll deine Kraft zum Besten gabst, war ich mir schon fast sicher, einen prüfenswerten Kandidaten gefunden zu haben.“

„Nur fast?“, warf Dantra ein.

„Deine Glaubwürdigkeit hatte mit der Geschichte vom überlebten Drachenangriff doch sehr gelitten.“

„Wie ich es dir erzählt habe, ist es geschehen. Und ich habe auch nichts zur Verschönerung dazu erfunden“, rechtfertigte sich Dantra erneut.

„Ich weiß, dass du die Wahrheit gesagt hast. Deine Angst hat es bestätigt. Als wir gestern das Stadttor von Blommer passiert haben, war deine Furcht, die Zerrocks könnten dich wegen dieser Sache suchen, zweifellos echt. So etwas kann man nicht vortäuschen. Und ich glaube, du bist auch viel zu stolz, um jemandem Angst vorzuspielen, wenn du sie gar nicht hast. Nun galt es nur noch, dich in deiner Loyalität zu prüfen. Doch die Schwierigkeiten der Falkenfänger hatten Vorrang. Das gab mir allerdings die Gelegenheit festzustellen, ob du überhaupt den Mut hast, für eine gerechte Sache dein Schwert zu führen. Allerdings muss ich mir selbst eingestehen, dass ich mit einem leichten Kampf ohne Verluste gerechnet hatte. Dass das Ganze solch ein Ausmaß annehmen würde, hätte ich nie für möglich gehalten. Das allerdings brachte dir die Gelegenheit, mir die besagte Loyalität mehr als nur zu beweisen. Du hast deine Kraft gebraucht, obwohl dir bewusst war, dass dein Leben, wie du es bis dahin geführt hattest, vorbei sein würde. Dass du ab dem heutigen Tag ein gesuchter Grenzmagier sein würdest.“

„Ein was?“

„Grenzmagier“, wiederholte Akinna. „So nennt man Normalsterbliche, die eine besondere Fähigkeit mit magischen Wurzeln in sich tragen. Aber jetzt zurück zu Peewee und zu dem, was mit ihr passierte. Rückblickend diente die Belagerung der Falkenfänger nur dem einen Zweck: mich gefangen zu nehmen. Das erkannte ich zu meinem Bedauern allerdings viel zu spät. Ansonsten wäre unser Angriff ganz anders abgelaufen.“

„Du meinst also, auch wenn du ihren Plan frühzeitig durchschaut hättest, hätten wir sie angegriffen?“

„Selbstverständlich. Der Belagerung musste ein Ende gesetzt werden. So oder so. In diesem Fall hätten wir sie allerdings mit kleinen gezielten Angriffen in den Wald gelockt. Dort wären unsere Siegchancen wesentlich größer gewesen. Aber wie dem auch sei, wir waren nun im offenen Kampf. Ein Rückzug wäre noch wesentlich verlustreicher geworden. Also tat ich das, was wir alle getan haben. Ich kämpfte mit allen Mitteln und allen Kräften. Denn das Einsetzen deiner magischen Kraft konnte und durfte keine Option sein. Unser zukünftiges Handeln wäre unter dem Deckmantel der Unscheinbarkeit wesentlich einfacher gewesen. Und auch die offensichtliche Übermacht des Gegners sollte kein Anlass sein, unsere notwendige Tarnung aufs Spiel zu setzen.“

„Aber deine Gefangenschaft war Anlass genug?“ Unüberhörbare Empörung durchzog Dantras Zwischenfrage.

„Ja. Aber nicht meinetwegen. Es ging mir dabei um die anderen und vor allem um dich.“

„Um mich? Ich war doch gar nicht in Bedrängnis. Um mich musstest du dir nun wirklich keine Sorgen machen. Wenn es eng geworden wäre, hätte ich auch ohne ein Kommando von dir von meiner Kraft Gebrauch gemacht“, stellte Dantra klar.

„Dir fehlt die Kampferfahrung“, fuhr Akinna unbeirrt fort, „sonst hätte Peewees Schwert nicht dein Leben retten müssen. Nun war aber keine Peewee mehr in deinem Rücken, um auf dich achtzugeben. Wie sollte ich mir also sicher sein, dass deiner Erkenntnis, deine Kraft als letztes Mittel einzusetzen, nicht ein Schwert zuvorkommt? Ich musste dir in dem Moment, in dem ich die Oberhand verloren hatte, die Bürde auferlegen, die anderen zu retten.“

„Also gut, ich verstehe jetzt, warum du den richtigen Zeitpunkt für meinen effektiven Gegenangriff verpasst hast. Aber dennoch verstehe ich nicht, warum du immer von den anderen redest. Du kannst doch gar nicht wissen, ob es ihnen nicht vielleicht gelungen wäre, mit heiler Haut davonzukommen. Zu dem Zeitpunkt waren schließlich noch alle in der Lage zu kämpfen.“

„Aber wie lange noch? Es wurden mehr und mehr Gegner. Und die Berittenen, die ihre Aufgabe, was mich anging, erledigt hatten, waren nun im Begriff, euch niederzureiten. Die Schlacht wäre in jedem Fall kurz darauf zu Ende gewesen. Nur mit einem anderen Ausgang. Sie hätten euch alle getötet. Und das Gehöft der Falkenfänger wahrscheinlich niedergebrannt. Mich hätten sie mitgenommen, aber getötet hätten sie mich nicht. Wie auch? Die einzigen Waffen, mit denen man das könnte, zumindest die einzigen, die ich kenne, sind meine eigenen Pfeile und das Schwert, das du trägst. Aber ich bezweifele, dass ihr Wissen über elbische Waffen so fundiert war, dass sie das erkannt hätten. Mir wäre sicher irgendwann die Flucht gelungen. Oder man hätte mich befreit. Denn unser Vorhaben war natürlich abgesprochen und im Falle einer fehlenden Rückmeldung wären geeignete Maßnahmen getroffen worden. Du siehst also, es ging nicht um mich, als ich dich aufforderte, unseren einzig verbliebenen Ausweg zu beschreiten. Und wenn man es genau betrachtet, ging es auch nicht um die anderen. Sie alle waren sich bewusst, dass ihr Handeln ehrenhaft, aber gefährlich war. Wenn du jedoch der bist, von dem ich glaube, dass du es bist, hätte ich es mir nie verziehen, wenn du in diesem Kampf gefallen wärst. Mit deinem Tod wäre auch der Sinn meines Daseins gestorben. Dessen ist sich auch Capra bewusst und glaube mir, der Stolz auf seine Nichte, dass sie dir das Leben gerettet hat, überwiegt seine Trauer um ein Vielfaches.“

Akinna betrachtete Dantra, der in Gedanken vertieft schien, einen Moment lang schweigend, bevor sie ihn abschließend fragte: „Und? Geht es deinem Magen jetzt besser?“

Er sah hoch, aber statt auf ihre Frage einzugehen, stellte er seinerseits eine weitere. „Mit wem hast du unser Vorhaben abgesprochen?“

„Mit demselben, der beurteilen wird, ob du der Richtige bist oder nicht.“

„Und wann hast du mit ihm gesprochen? Ich meine, als wir aus Blommer herauskamen, war doch von den Falkenfängern noch gar keine Rede. Erst als du für einige Zeit im Wald verschwunden warst, hast du uns von der Not, in der sich deine Freunde befanden, erzählt. Und überhaupt, woher wussten Gennaro und die Übrigen von unserer Absicht, den Falkenfängern zu helfen?“ Sie sah zum Himmel auf, was bei Dantra den Eindruck erweckte, sie sei mal wieder von seinen zahllosen Fragen genervt. „Ja, ja, ich weiß“, brodelte es trotzig aus ihm heraus, „anstatt dankbar zu sein, dass du mir gerade mehr erklärt hast als in den ganzen drei vorangegangenen Tagen, in denen wir uns jetzt kennen, bohre ich noch weiter nach und zerre damit an deinen Nerven.“

„Nein, das ist es nicht“, stellte Akinna ruhig und sachlich fest. „Ich versuche, anhand der Helligkeit die Zeit festzustellen. Aber das ist hier drin, wie du selbst zugeben musst, nicht gerade einfach.“

Da sie es nun sagte, fiel es Dantra auch auf. In dem Moment, als sie den Hain betreten hatten, war es etwas heller geworden. Aber nicht nur das. Seither war auch die Dämmerung nicht weiter fortgeschritten. Es schien, als hätte sich der Lauf der Sonne verlangsamt oder gar seine Bedeutung verloren.

„Egal“, sagte Akinna schließlich und stand auf. „Ich denke, wir können schon mal losgehen.“

„Losgehen?“ Dantra war überrascht. „Aber wohin? Ich dachte, wir hätten hier unser Nachtlager bereits gefunden?“

„Haben wir auch. Daher kannst du deine Sachen auch hier liegen lassen. Wir sind gleich zurück. Aber um dir die Fragen von eben ausreichend zu beantworten, ist es notwendig, dass wir einen bestimmten Ort aufsuchen. Also lass uns gehen. Es ist nicht weit.“ Dantra folgte ihr, wobei er bis auf seine Jacke und sein Schwert alles zurückließ.

Wie von Akinna angekündigt waren es nur wenige Schritte, bis sie innehielten. Sie standen an einer Stelle, die sich durch nichts vom übrigen Wald unterschied. Nur einige große seltsame Blumen wuchsen hier. Sie sahen alle exakt gleich aus. Die einzige Abweichung lag nur in ihrer Größe. Alle hatten einen blauen Stamm, aus dem an kleinen Stängeln sechs gleich große Blüten gewachsen waren. Hinzu kam noch eine siebte größere, die den Stamm nach oben hin abschloss. Die Blüte selbst erinnerte ein bisschen an die einer Sonnenblume. Die Blütenblätter waren ebenfalls gelb, nur war das Innere schwarz und sah vom Muster her aus wie der Panzer einer Schildkröte.

„Weißt du, was das ist?“, fragte Akinna und deutete dabei auf eine der Blumen.

„Das ist eine Salakt-Tren oder auch Nachthimmelblume genannt. So eine steht auf dem Innenhof der Klosterschule. Da es verboten ist, sie zu pflücken oder mutwillig zu zerstören, sind sie nicht gerade selten zu finden.“

„Richtig“, lobte sie ihn, „aber weißt du auch, warum es dieses Verbot gibt?“ Dantra überlegte. Er versuchte, sich den Naturkundeunterricht von Schwester Melk wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber er war sich fast sicher, dass sie darüber nie ein Wort verloren hatte. Akinna bestätigte seine Annahme. „Nach dem, was ich bisher von dir über den Lehrplan im Klosterheim erfahren habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass der Grund für das Verbot in die Rubrik nicht wissenswert abgeschoben wurde. Ich befürchte, alles, was im Entferntesten mit den Drachen zu tun hat, hatte in eurem Unterricht nichts zu suchen.“

Diese Einschätzung der Sachlage brachte es klar auf den Punkt. Dantra hatte sich oft darüber geärgert, dass ihnen über die Herrscher des Landes so wenig beigebracht wurde. Aber auf sein Nachfragen reagierte man nur mit Sätzen wie: „Du musst lediglich ihre Gesetze kennen und befolgen, alles andere ist unwichtig.“

„Sie helfen den Drachen bei der Heilung ihrer Wunden“, erklärte ihm Akinna. „Zwar werden sie nicht oft verwundet - von wem auch? -, aber wenn, dann ist der Heilungsprozess eine langwierige und schmerzvolle Angelegenheit. Und nur der Blütensaft der Salakt-Tren kann diese leidige Phase verkürzen.“

„Ach so?“ Dantra war überrascht. Solch eine Bedeutung hätte er der Blume nie im Leben zugeschrieben. Während er sie sich in Gedanken vertieft ansah, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus eine Gestalt. Sie war urplötzlich direkt neben ihm aufgetaucht. Geistesgegenwärtig zog er sein Schwert und schlug auf sie ein. Die Verletzung wäre sicher tödlich gewesen, denn das Schwert schnellte direkt auf den Hals der Gestalt zu. Aber statt Blut spritzte nur etwas Durchsichtiges durch die Luft. Und anstelle eines toten Wesens lag nur eine der Blumen, die er zwischen der fünften und sechsten Blüte erwischt hatte, vor ihm im Gras.

„Na toll.“ Akinna war nicht begeistert. „Hattest du nicht gerade selbst gesagt, dass es verboten ist, den Blumen irgendeine Art von Schaden zuzufügen?“

„Aber da war gerade eben noch so ein Ding. Ich habe es genau gesehen. Es war nicht höher als meine Hüfte und ich glaube, es trug einen überdimensional großen Hut. Das war sicher wieder so eine hinterlistige Kreatur wie der Hautgnom.“

„Ach, und den Hut hat er getragen, um dir deine Lebensenergie mit Stil zu rauben, oder was?“

„Ja, ja, mach du dich ruhig lustig über mich“, brummelte Dantra zurück. „Aber ich habe gesehen, was ich gesehen habe.“

„Was du gesehen hast, war der Grund, warum wir hier sind. Und jetzt steck dein Schwert wieder weg.“ Dantra sah Akinna skeptisch an, tat aber, was sie sagte.

Sie deutete mit ihrem Finger auf etwas hinter ihm. Als er sich umdrehte, stand ein kleines, alt wirkendes Wesen vor ihm, das ihn mit hinter dem Rücken verschränkten Armen von oben bis unten musterte. Es hatte eine blasse Haut, die das einzig leicht rosa Gefärbte in seinem Gesicht noch größer erscheinen ließ, als es sowieso schon war: seine Nase. Die Augen waren zu Schlitzen verengt, als würden sie gegen die Sonne gucken. Einige graue Haare lugten unter dem besagten, unglaublich großen Hut hervor. Sie fielen aber nicht in die Stirn, sondern drehten sich nach oben, sodass sie sich unter die breite Hutkrempe drückten. Er trug einen dunkelgrünen Mantel, der ihm einen Tick zu groß war, ein Hemd in Moosgrün und eine Hose in Hellgrün. Der Hut hatte dieselbe Farbe wie der Mantel und an dessen spitzem Ende hingen drei Kugeln nach hinten herunter, von denen jede einen Durchmesser so groß wie sein Kopf hatte. Zwei waren von demselben Grün wie das Hemd und die mittlere in dem Farbton der Hose. Dantra war davon überzeugt, dass, selbst wenn die Kugeln nur aus Filz gefertigt wären, ihr Gewicht eigentlich den Hut nach hinten herunterziehen müsste. Doch dieser schien sicher auf dem mondrunden Kopf zu sitzen.

Dantra war gerade im Begriff, den Mund aufzumachen, um sich sein Gegenüber von Akinna erklären zu lassen, als das Männchen ihn ansprach: „Ist es nicht verboten, diese Blumen zu zerstören?“ Es war zwar eine Frage, aber es hörte sich doch eher an wie eine Ermahnung. Die Stimme war für so eine kleine Person überraschend dunkel und hatte sogar etwas Erhabenes an sich. Was allerdings Dantra nicht daran hinderte, genauso patzig, wie er es auch bei jedem anderen in dieser Situation getan hätte, zu antworten: „Ja, es ist verboten. War ein Versehen. Aber bei dem, was heute passiert ist, macht das den Kohl wohl auch nicht mehr fett, oder?“

„Passiert? Akinna?“ Er sah die Elbin auffordernd an.

„Ist das der Grund, warum ich ihn schon jetzt mitgebracht habe?“, begann Akinna zu erläutern. Dantra verstand nicht ganz, was sie damit sagen wollte. Beziehungsweise warum sie seine Frage, anstatt sie zu beantworten, mit einer Gegenfrage konterte. „Ist es nicht so gut gelaufen? Und war es doch nicht so leicht wie gedacht?“, fuhr Akinna fort.

„Nein, es war nicht wirklich leicht und es lief beschissen“, warf Dantra ungehalten dazwischen. „Ich dachte, du wärst dabei gewesen. Wieso stellst du denn jetzt alles hier infrage?“, fügte er noch hinzu.

Akinna sah ihn mahnend an. „Schweig! Auch wenn es dir schwerfällt. Ich erkläre es dir später.“

Sie wandte sich wieder dem erwartungsvoll dreinblickenden Männchen zu und erzählte, was geschehen war. Wie sich die Schlacht als Hinterhalt herausstellte. Dass Peewee im Kampf gefallen war. Dass Dantra die aussichtslose Situation mit seiner magischen Kraft bereinigt hatte. Und selbst dass Comal bei all dem im Wald geblieben war und nicht am Kampf teilgenommen hatte. Aber alles das tat sie ausnahmslos in Form von Fragen.

Dantra hielt sich währenddessen zurück, so wie es Akinna verlangt hatte. Zumindest bis zu dem Punkt, als der kleine Mann ihn wieder ansah und Akinna skeptisch fragte: „Hattest du ihn dir nicht auch anders vorgestellt?“

Und sie antwortete: „Ja, habe ich das?“

„Wieso?“, zischte Dantra sie beleidigt an. „Was ist denn an mir nicht, wie es sein sollte? Fehlt vielleicht irgendetwas?“ Missmutig sah Dantra an sich herab. Er hatte einen Kopf, einen Rumpf, vier Glieder und ein fünftes, das ihn zum Mann machte. Also was war es, das sie vermissten? Er hatte keine Ahnung, was oder wen sie suchten. Was den, der der Richtige wäre, ausmachte. Er wusste ja nicht einmal, wofür der Gesuchte der Richtige sein sollte. Fakt war aber, dass es sich bisher anhörte, als würden sie einen Mann mit einer oder mehreren besonderen Fähigkeiten suchen. Und so einer war er. Und wenn sie noch länger über ihn redeten, als wäre er gar nicht anwesend, dann würde er ihnen gleich seine besagte Fähigkeit um die Ohren hauen. Doch das sollte nicht nötig sein. Er hatte nur kurz genervt in den immer noch viel zu hellen Abendhimmel geschaut und schon war das Männchen so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Also trottete Dantra schlecht gelaunt hinter Akinna her, zurück zu ihrem Nachtlager. Dort angekommen ließen sie sich wieder ins weiche Moos fallen.

Akinna war natürlich aufgefallen, dass Dantra wegen ihrer offenkundigen Enttäuschung über sein Erscheinungsbild etwas geknickt war. „Du musst mich verstehen“, fing sie entschuldigend an, „ich suche jetzt schon seit über eineinhalb Jahren. Das mag in Anbetracht dessen, wie alt ich als Elbin werden kann, vielleicht nicht lang sein, wenn man sich jedoch Tag für Tag Fragen stellt wie Hast du ihn vielleicht schon getroffen, aber ihn nicht erkannt? oder Bin ich dieser Aufgabe überhaupt gewachsen?, dann kommt einem jeder Tag wie ein Monat vor. Wenn man dann bemerkt, dass man möglicherweise, ja, sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit den Richtigen gefunden hat und es ein sehr junger Mann ist, dem noch unglaublich viel Wissen und Erfahrung fehlen, wofür er zwar nichts kann“, warf sie schnell ein, da Dantra gerade im Begriff war, sich zu rechtfertigen, „und er dieses fehlende Wissen auch nicht mit einem breiten Kreuz und einem Schlachtherz in der Brust wettmacht, dann kann das schon enttäuschen. Und genau das war auch der Grund, warum ich von Anfang an etwas grob zu dir war. Ich wollte mir einfach nicht eingestehen, dass das Bild des Wegbegleiters an meiner Seite falsch sein könnte. Verstehst du das?“ Akinna sah ihn erwartungsvoll an.

Nach einer kurzen Denkpause schaute Dantra zu ihr auf. „Also, wenn ich das richtig sehe“, jammerte er etwas wehleidig, „bin ich in deinen Augen nichts weiter als ein unwissender Hungerhaken, bei dem es reicht, wenn er sein Kinn in den Wind hält, um sich zu rasieren?“

„Quatsch!“, gab sie entschieden zurück. Wobei sie allerdings froh war, dass er erneut seinen traurigen Blick auf seine Füße gelenkt hatte. Denn ein vergeblich unterdrücktes Grinsen über seine amüsante Selbstbeschreibung zierte ihr Gesicht. „Du bist einfach nur nicht das, was ich mir in diesem konkreten Fall vorgestellt habe. Hätten wir uns unter anderen Umständen kennengelernt, hätte ich wahrscheinlich gesagt: Hey, ich glaube, du bist ein echt netter Kerl.“ Dantra sah auf. Akinna schaute nun wieder ernst und entschlossen. Aber dennoch nahm er nichts von dem, was sie gerade gesagt hatte, für bare Münze. „Ja, ja. Und gleich willst du mir noch weismachen, dass Drachen Eier legen“, brummte er sie an.

„Äh ...“

„Was?“

„Na ja, Drachen legen Eier. Genauer gesagt legt jeder Drache ein Ei in seinem Leben.“

„Na toll!“ Nun schien die Stimmung bei Dantra vollends im Keller zu sein. „Nicht einmal das habe ich gewusst.“

„Und damit sich das ändert, machen wir nun eine Fragerunde.“ Akinnas Aufheiterungsversuch war erfolgreicher, als sie es sich gewünscht hatte.

Dantras Gesicht hellte sich schlagartig auf, als hätte er nur darauf gewartet, dass sie genau das zu ihm sagte. Und schon brodelte es aus ihm heraus. „Warum habt ihr gerade nur fragend miteinander gesprochen? Was war das überhaupt für ein Ding? Gehört der zur Gattung der Zwerge oder eher zu den Gnomen?“

Akinna hob ihre Hand, um auf sich aufmerksam zu machen, und Dantra schwieg, wobei er jedoch seinen Mund geöffnet ließ, als wollte er nur kurz ihren Einwand abwarten, um anschließend sogleich fortzufahren. „Fragerunde heißt nicht, dass du ohne Unterbrechung Fragen stellen sollst“, erklärte sie ihm, „sondern dass du nach einer gestellten Frage immer erst einmal die Antwort abwartest, bis du die nächste an mich richtest. Ansonsten macht die Sache ja wohl wenig Sinn, oder?“

„Hast ja recht“, gestand Dantra ein, „ich versuche mich zu zügeln. Ich hab eben lange auf so eine Gelegenheit warten müssen“, fügte er noch entschuldigend hinzu.

„Also gut“, begann Akinna. „Wir haben gerade nur in der Frageform miteinander geredet, da es natürlich immer möglich ist, selbst an einem Ort wie diesem, dass irgendjemand einen belauscht. Aber da fast alle Spione der Drachen nur auf eine mangelnde Intelligenz zurückgreifen können, verstehen sie den Sinn eines Gespräches nicht, wenn sie nur Fragen, aber nie Antworten hören. Und in diesem Fall verliert das Gehörte an Wert und wird gar nicht weiter beachtet.“ Akinna kam ansatzlos zur nächsten Antwort. „Zu der Frage, wer das gerade gewesen ist, mit dem wir uns unterhalten haben. Sein Name ist Nomos. Er gehört keiner der dir bekannten Gattungen an wie den Zwergen oder Gnomen. Er ist seine eigene Spezies. Man nennt ihn einen Zlif oder auch Begleiter. Früher gab es viele von ihnen. Aber nach der Machtübernahme durch die Drachen und die damit verbundene ethnische Säuberung von magischen Geschöpfen wurden sie mehr als nur selten.“

„Sind sie so was wie Zauberer?“

„Nein, aber die Drachen stuften sie als genauso gefährlich ein. Zu jedem großen Zauberer, Magier oder auch zum Hofe des Königs gehörte ein Zlif. Sie waren die allwissenden Begleiter, die mit ihrer fast endlosen Erfahrung und dem Wissen über die Vergangenheit Entscheidungen für die Zukunft treffen konnten. Zudem hatten sie ab und an Visionen. Mal kleine unbedeutende, aber auch große richtungsweisende für ein ganzes Volk. Und da man ihnen in ihren Fähigkeiten bedingungslos vertraute, hatten sie eine unglaublich große Macht. Aber gerade das war es, warum sie von den Drachen als zu gefährlich eingestuft wurden. Wenn ganz Umbrarus sich geschlossen gegen die Feuerspucker erheben würde, dann hätten sie ein Problem, das sie wahrscheinlich nicht lösen könnten.“

„Aha, und wie hat er das gemacht, dass er gerade urplötzlich vor uns stand?“

„Das ist ihre dritte und faszinierendste Gabe, mit der sich zudem der Kreis zu den Drachen schließt. Egal, wo sie sind, sie können sich zu jedem beliebigen Ort begeben. Allerdings nur ihren Geist. Dafür projizieren sie ihren Körper in eine Salakt-Tren, und zwar wirklich nur in diese spezielle Blume. Das ist es, was die Drachen so ärgert. Um die Gefahr, die von einem Zlif für sie ausgeht, zu unterbinden, müssten sie sämtliche Salakt-Tren-Blumen vernichten. Da sie aber keinerlei Schmerzen gewohnt sind, wollen sie sich selbst nicht die Möglichkeit nehmen, jederzeit an den für sie so wertvollen Blütensaft zu kommen.“

„Also haben sie alle Zlif, die sie kriegen konnten, umgebracht“, stellte Dantra fest.

„Richtig“, pflichtete ihm Akinna bei, „aber zumindest einer hat das Massaker überlebt. Und das ist das, was zählt, denn er hält den Widerstand zusammen. Er war es auch, der mich auf diesen Weg brachte, und er ist es, der uns zu unserem Ziel führen wird.“

„Was ist unser Ziel?“

„Wie meinst du das? Was ist unser Ziel?“ Sie imitierte seine Stimme, machte seinen fragenden Blick nach und sah ihn dann verständnislos an.

Dantra ärgerte es zwar, dass sie ihm nicht sofort antwortete und ihm stattdessen das Gefühl gab, eine sehr dumme Frage gestellt zu haben, aber ihm war auch klar, dass er nun Fingerspitzengefühl beweisen musste, damit Akinna nicht wieder aus der Haut fuhr. „Na ja, ich weiß ja, dass du jemanden suchst. Und natürlich nicht zum Spaß. Irgendetwas soll derjenige wohl auch machen. Und da ich allem Anschein nach der Gesuchte bin, muss ich doch wissen, was das ist. Bis jetzt hat es mir noch keiner gesagt.“

„Für deine Unwissenheit bin ich vielleicht bedingt verantwortlich. Aber versuch mir jetzt nicht auch noch deine Begriffsstutzigkeit anzuhängen.“

Nun wurde auch Dantra ungeduldiger. „Was hat das mit Begriffsstutzigkeit zu tun, wenn einem das Wichtigste bisher vorenthalten worden ist?“

„Was denkst du denn, was unser Ziel ist?“ Der Ton verschärfte sich zunehmend.

„Keine Ahnung. Vielleicht sämtliche Banditen von Umbrarus das Fürchten lehren?“

„So ein Quatsch! Es geht um die Freiheit. Um die Freiheit aller. Um die Freiheit von Umbrarus. Es geht darum, dass wir den Drachen und ihren Schergen den Garaus machen. Und zwar ein für alle Mal.“

Dantra sah sie an wie ein Fuchs, der von einem Hasen gejagt wurde. „Du meinst, du hast mich gesucht, damit ich gegen die Drachen kämpfe?“

„Nein! Ich habe dich gefunden, damit du die Drachen besiegst!“

Dantra zweifelte an dem Gehörten. Wollte sie ihn einmal mehr zum Narren halten oder war sie größenwahnsinnig und es fiel ihm erst jetzt auf? Schließlich tippte er sich mit seinem Finger an die Stirn und sagte: „Du spinnst doch! Du und dein abgebrochener Blumenbesteiger sind doch völlig übergeschnappt. Die Drachen besiegen? Ich? Was kommt als Nächstes? Buddeln wir den alten König wieder aus und hauchen ihm mit einem Tritt in seinen Hintern neues Leben ein?“

„Weißt du was? Du hattest recht. Du bist ein unwissender Hungerhaken. Und du bist noch sehr weit davon entfernt, diese Tatsache zu ändern. Und damit ist die Fragerunde beendet.“ Akinna wandte sich von ihm ab und fing an, ihren Schlafplatz herzurichten.

„Jetzt sei doch nicht gleich wieder beleidigt“, maulte Dantra genervt. „Es hört sich nun einmal sehr unrealistisch an, was ihr da vorhabt. Und ich wollte damit auch nur zu bedenken geben, dass ich vielleicht doch nicht derjenige bin, für den ihr mich haltet.“ Von Akinna kam keine Reaktion. „Also gut. Wenn du schmollen willst, bitte. Dann schlafen wir jetzt eben.“

„Du Hornochse“, warf sie ihm unvermittelt an den Kopf. „Kannst du nicht einmal einfach nur deinen Mund halten?“

„Was hab ich denn jetzt schon wieder Falsches gesagt?“

„Dass du schlafen willst.“

„Und?“ Dantra wusste nicht, was sie von ihm wollte.

„Na das, und ...“, sagte sie, während aus dem Nichts mit einem jeweiligen leisen Plopp kleine schwebende Elfen erschienen.

Es war unmöglich, genau zu bestimmen, wie viele es waren, denn hier und da verschwand mal wieder eine, um kurz darauf irgendwo anders erneut aufzutauchen. Dantra schätzte sie auf mindestens zwölf, wobei die eine Hälfte bei ihm war und die andere um Akinna kreiste. Sie sahen mit ihren schnell flatternden Flügeln aus wie kleine Engel. Ihre Gewänder hatten die unterschiedlichsten Farben, wobei die unzähligen glitzernden Pailletten bei jeder gleichsam verzaubernd funkelten. Ihre lieblichen Gesichter hüllten sich in schüchternes Lächeln und Staunen. Sie kamen vereinzelt näher und säuselten Dantra etwas Unverständliches, aber zuckersüß Klingendes in die Ohren. Bei Akinna taten sie dasselbe. Aber im Gegensatz zu Dantra, der das verbale Liebkosen mit einem breiten Grinsen zu genießen schien, verscheuchte sie die Elfen wie Pferde Fliegen mit ihrem Schweif. Beleidigt verschwanden die zierlichen Geschöpfe wieder mit einem Plopp, um kurz darauf bei Dantra zu erscheinen und dort in das Zirpen der anderen mit einzusteigen.

„Verjag die Viecher“, forderte Akinna ihn auf.

„Warum denn? Das ist doch schön.“

„Wieso kannst du nicht einfach auf mich hören, ohne es infrage zu stellen? Verjag sie und zieh dir deine Decke über den Kopf.“

„Nur weil du das Leben ernster nimmst, als es ohnehin schon ist, und dir nichts Schönes gönnen willst? Das kannst du aber vergessen.“ Dantra mummelte sich in seine Decke ein und ließ seinen Kopf bewusst im Freien, sodass die Elfen mit ihren traumhaften Klängen ungehindert um ihn herumschwirren konnten. Akinna ließ sich ebenfalls nieder, wobei sie ein besonders lautes, entnervtes Knurren von sich gab, und verschwand dann wie gewohnt komplett unter ihrem Umhang.

Dantras Erwachen am nächsten Morgen war das genaue Gegenteil von dem berauschenden Einschlafen am Abend zuvor. Wieder war es der Traum mit dem abschließenden gellenden Schrei, der ihn weckte. Er setzte sich ruckartig auf. Als seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten und er zu dem gemächlich vor sich hin plätschernden Bach sah, kniete dort Akinna und wusch sich gerade ihr Gesicht. Anschließend strich sie sich mit den Händen über die Haare und hielt sie zum Zopf geflochten fest. Sie hob ein Band, das neben ihr lag, auf und zwirbelte es um die Haare. Nun waren ihre nach obenhin spitz zulaufenden Ohren für Dantra erstmals richtig zu erkennen. Sie waren das Einzige, was Akinna von den Mädchen, wie Dantra sie kannte, unterschied. Zumindest wenn man sich ihre Waffen und den entschlossenen, allzeit zum Kampf bereiten Gesichtsausdruck einmal wegdachte. Und doch waren es gerade ihre Ohren, die sie so einzigartig und besonders machten.

„Wenn du genug geglotzt hast“, sagte sie streng, ohne sich dabei umzuschauen, „solltest du zusehen, dass du deine Sachen zusammenpackst. Und füll vor unserem Weitermarsch deinen Wasserschlauch bis obenhin voll. Du wirst es heute brauchen.“ Dantra wusste zwar nicht, was sie damit meinte, aber da es ihm sehr unangenehm war, dass sie ihn beim Betrachten ihrer Ohren ertappt hatte, ließ ihn die Scham schweigen und nicht nach dem Grund fragen. Er tat wortlos wie ihm geheißen.

Als sie den magischen Hain wieder verließen, waren Dantra zwei Sachen auf Anhieb klar. Es bestand keinerlei Gefahr, dass man sie entdeckt hatte, denn es roch verführerisch nach Comals Wurzelgemüsesuppe. Und dass Akinna recht hatte. Er hätte die Elfen verjagen sollen. In dem Moment, als sie das magische Umfeld hinter sich ließen, schmerzte sein Schädel, als wäre ein berittener Trupp Zerrocks über ihn hinweggaloppiert. Aber das Schlimmste daran war, dass er wieder die Stimmen der Elfen hörte. Allerdings nicht mehr flüsternd zart, sondern schreiend grell. Während sie die Quelle des wundervoll duftenden Geruchs ansteuerten, drückte sich Dantra die Hände an den Kopf, als wollte er verhindern, dass er auseinanderbrach.

„Was ist los?“, fragte Comal ihn besorgt, als sie bei ihm ankamen. „Alles in Ordnung?“ Dantra schüttelte nur vorsichtig den Quell der Schmerzen. „Was ist denn passiert?“

„Er hat nicht auf mich gehört“, kommentierte Akinna die Situation. „Trink das Wasser“, forderte sie Dantra auf. „Je mehr du zu dir nimmst, desto schneller vergehen die Schmerzen. Aber mach dir keine Illusionen. Bis heute Abend dauert es in jedem Fall. Ach, und um noch einmal auf das zurückzukommen, was du gestern gesagt hast. Ich bin sehr wohl in der Lage, mir etwas Schönes zu gönnen und es in vollen Zügen zu genießen. So wie gerade jetzt deinen Gesichtsausdruck. Herrlich!“

Nach dem Frühstück, bei dem Akinna zum ersten Mal mehr Freude empfand als Dantra, brachen sie auf. „Wo gehen wir jetzt hin?“, wollte Comal wissen.

„Wir müssen jemanden aufsuchen. Leider können wir nicht auf direktem Weg zu ihm gehen, da wir ab jetzt jede Nacht ein sicheres Versteck aufsuchen müssen. Des Weiteren sollten wir nicht mehr die Straßen nutzen, auf denen uns eine Menge Leute begegnen würde. Wir gehen lieber abseits, die kleineren Wege. Die sicheren Städte und Dörfer müssen wir auch weiträumig umgehen. Das jedoch bedeutet, dass du auf deine Art, an Gemüse heranzukommen, für einige Zeit verzichten musst. Ich meine, wenn du uns überhaupt weiter begleiten willst. Was ich aber sehr begrüßen würde.“

Comal strahlte sie an. Nichts lag ihm ferner, als diese Einladung auszuschlagen. „Natürlich komme ich mit. Wenn es etwas Wichtigeres gibt als gutes Essen, dann ist das eine gute Gesellschaft.“ Akinna lächelte zurück und so starteten zumindest zwei von ihnen gut gelaunt in den Tag. Um die Mittagszeit lichtete sich der dichte Wald um sie herum und schon bald prägten Heide und endlose Wiesen die Landschaft. Hier und da durchbrachen Ansammlungen von Holunder- und Brombeerbüschen die Eintönigkeit. Gegen Nachmittag wurde das Gelände zunehmend hügeliger. Ab dem Moment zog Akinna das Tempo merklich an. Die Zeit bis zum Sonnenuntergang wurde knapp und sie hatten ihr Tagesziel noch nicht erreicht.

In der Ferne entdeckte Dantra einen dunklen Punkt. Erst als sie näher herangekommen waren, konnte man diesen als unbewachsenen Hügel ausmachen. Ihr weiterer Weg steuerte direkt auf diesen zu. Akinna blieb stehen und wandte sich an Comal. „Ich denke, unsere Nachtunterkunft ist auch heute wieder nicht für dich geeignet. Und es wäre ferner für uns von Vorteil, wenn wir ab hier alleine weitergehen. Dort vorn ist eine Abzweigung.“ Akinna zeigte den Weg entlang. „Diese ist von unserer Unterkunft bereits einsehbar. Gib uns daher bitte einen kleinen Vorsprung. Dann folgst du dem Weg nach rechts. Nicht weit und du gelangst an einen kleinen Tümpel. Dort treffen wir uns morgen wieder.“

„Alles klar“, brummte der Nalc verständnisvoll.

Akinna war bereits einen Schritt weitergegangen, als sie Comal noch fragte: „Ach, hast du vielleicht einen Salatkopf oder etwas Ähnliches für uns?“

Er kramte in einem seiner beiden Seesäcke und zog einen kleinen Kohlkopf heraus. „Tut mir leid, aber Salat ist aus“, sagte er achselzuckend.

„Macht nichts“, erwiderte Akinna, „der erfüllt auch seinen Zweck.“ Sie nahm ihm den Kohl aus der Hand, bedankte und verabschiedete sich mit einem Nicken und marschierte dann weiter auf den Hügel zu.

Comal griff abermals in den Sack und holte einen Viertellaib Brot heraus, welchen er Dantra gab. Dieser bedankte sich ebenfalls mit einem Kopfnicken und setzte Akinna nach.

„Seit wann interessierst du dich für Essen?“, fragte er sie, nachdem er zu ihr aufgeschlossen hatte.

„Oh, lassen deine Schmerzen nun endlich wieder das Fragenstellen zu? Hallt deine eigene Stimme nun nicht mehr in deinem Kopf nach wie eine Trompete?“

„Du kennst dich aber gut mit den Leiden aus, die so ein einlullendes Elfenkonzert mit sich bringt. Bist wohl selbst schon auf sie reingefallen, was?“

„Ja, bin ich“, gab Akinna offen zu. „Aber im Gegensatz zu dir hatte ich niemanden, der mich vor ihren Gesängen gewarnt hat.“ Mit einem hämischen Grinsen schloss sie die Nachbesprechung des Elfenvorfalls ab. „Aber um deine Frage zu beantworten, ich interessiere mich nicht für diesen Kohlkopf, wohl aber für die kleinen Gesellen, bei denen wir uns für die nächste Nacht einen Schlafplatz erkaufen müssen.“

„Und was sind das für Gesellen? Sind es auch magische Wesen, die mir Kopfschmerzen bereiten können? Wenn ja, sag es lieber gleich. Dann schlaf ich nämlich bei Comal.“

„An ihnen ist gar nichts magisch. Keine Sorge. Sie heißen Tibboh, umgangssprachlich auch Schneckenwichtel genannt. Sie haben den Vorteil, dass sie die Drachen nicht mögen und erst recht keine Fledermäuse. Dennoch haben sie nichts zu verschenken. Daher auch der Kohlkopf. Denn sie bekommen nur das zwischen die Zähne, was die Umgebung hier hergibt. Mit etwas, das sie nicht alle Tage bekommen, und ein wenig Fingerspitzengefühl kann man sie gastfreundlich stimmen.“

„Fingerspitzengefühl?“, fragte Dantra nach.

„Sie hassen Arroganz und Hochnäsigkeit. Aber wenn man ihnen keinen Grund für Misstrauen gibt und sich mit ihnen auf eine Ebene stellt, gibt es eigentlich keine Probleme.“ Als sie unmittelbar vor dem Hügel standen, wusste Dantra, woher ihr Name stammte. Der Steinhaufen war so aufgebaut, dass er aussah wie ein riesiges Schneckenhaus. Der Ausgangspunkt der Windungen lag oben, so wie man es von einer Schnecke kennt. Die Öffnung war halb im Boden versenkt und gerade groß genug, dass sich Dantra hindurchzwängen konnte. Einige für diese Gegend ungewöhnlich hoch gewachsene Nadelbäume standen vereinzelt drum herum. Einer von ihnen fiel gleich ins Auge. Halb entwurzelt hatte er sich bereits bedrohlich in Richtung steinernes Schneckenhaus geneigt. Er wurde nur noch von einem wesentlich kleineren Baum, in den er hineingefallen war, davon abgehalten, das letzte Stück zum Steinhaufen zurückzulegen. Es war offensichtlich, dass es nur noch eines starken Imberwinds bedurfte, damit das ganze instabile Gebilde endgültig zusammenstürzte.

Akinna kniete sich einige Schritte vor dem Hügeleingang auf den Boden und zog Dantra am Hosenbein zu sich herunter. „Hallo, wir kommen mit einer Bitte und dies ist unser Dank, auch wenn unser Gesuch abgelehnt wird.“ Sie legte den Kohlkopf vor sich ins Gras.

Ein kleiner Wichtel mit schmalem Gesicht und Pausbäckchen, einer Nase, die von zwei viel zu dominanten Löchern beherrscht wurde, und dichten Augenbrauen, die von demselben grau melierten Schwarz waren wie der Ziegenbart am Kinn, trat heraus. Auf seinem Kopf trug er eine aus Gräsern gefertigte Dreiecksmütze. Seine Bekleidung bestand nur aus einer Art Kartoffelsack, in den aufgrund seiner Größe allerdings nicht mehr als zwei Handvoll hineinpassen würden. Eine Kordel um seine Hüfte raffte diesen zusammen. Seine knochigen braunen Füße erinnerten an Wurzeln und seine Finger waren wie lange, blätterlose Äste, die in einer viel zu kleinen Handfläche zusammenliefen.

Er stand mit einem nachlässig angespitzten Stock in seiner Hand da, mit dem er auf sie zielte. Sein Auftreten, als wäre er der größte Krieger, den Umbrarus je gesehen hatte, kampfbereit und ohne Furcht, ließ Dantra ein zu halbherzig unterdrücktes Glucksen entweichen. Was er noch als rücksichtsvoll ansah, denn er hätte sich am liebsten vor Lachen auf dem Boden gekugelt, empfand Akinna schon als unhöflich, was sie durch einen Ellenbogenstoß in seine Rippen deutlich machte. Während Dantra noch darüber nachdachte, ob seine Taktlosigkeit ihm einen Rippenbruch eingebracht hatte, war der Tibboh bereits so nahe gekommen, dass er nun direkt vor dem Kohlkopf stand und an ihm roch. Sein grimmiges Gesicht verflog und ein grinsendes, fast schon sabberndes erschien dafür. Er setzte seine Mütze ab und verbeugte sich vor ihnen. Ein kahler Schädel, nur mit einem Haarhalbkreis am Hinterkopf bestückt, kam zum Vorschein. „Was ist Euer Begehr?“, quiekte er mit so einer hohen Stimme, dass Dantra froh über die Schmerzen in seiner Seite war. Denn spätestens jetzt hätte er sich vor Kichern nicht mehr halten können, wenn Akinna seinen Lachreiz nicht schon im Keime erstickt hätte.

„Wir brauchen einen sicheren Schlafplatz für eine Nacht. Könntet Ihr uns Einlass in Euer ehrenwertes Heim gewähren?“, fragte sie höflich. Der Wichtel ließ mit einer Antwort nicht lange auf sich warten. „Ihr gerne“, lächelte er Akinna an. „Aber der bleibt draußen.“ Er hatte seinen Miniaturspeer wieder hochgenommen und zielte nun direkt auf Dantras Gesicht. „Er hat sich über mich lustig gemacht. Ich hab es genau gehört!“, zischte er und setzte nun wieder sein drohendes Gesicht auf.

Dantra schaute fragend zu Akinna, doch sie sah ihn mit genau demselben grimmigen Blick an wie der Wichtel. Es war also an ihm, eine Lösung zu finden. „Was habe ich, das ich ihm anbieten könnte?“, dachte er. „Meinen Krato vielleicht? Ach was. Der wird wohl kaum auf den nächsten Markt gehen können, um sich eine Kiste Kohlköpfe zu kaufen. Meine Karte? Bisher habe ich sie noch nicht einmal gebraucht. Und so wie es aussieht, laufe ich ohnehin die nächste Zeit nur hinter Akinna her. Aber der Tibboh erweckt nicht gerade den Anschein, als wäre er jemand, der gerne auf Wanderschaft geht. Und mit meinem Beutel voller nach Flieder riechendem Pulver kann er wohl auch nichts anfangen.“ Dantra zermarterte sich das Hirn. Er sah sich suchend nach etwas um, das der Tibboh brauchen konnte. Dabei fiel sein Blick auf den Baum, der nur noch auf eine ausgewachsene Windböe wartete, um seine letzten noch verbliebenen Wurzeln aus dem sandigen Boden zu reißen. „Wenn ich Euch bei Eurem Problem helfe, nehmt Ihr dann meine Entschuldigung an und gewährt mir Unterschlupf?“

„Welches Problem? Ich habe kein Problem.“ Der Wichtel drückte sein kleines Kreuz durch, um sich zu seiner vollen Größe aufzurichten.

„Ich meine den Baum dort. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass so ein schlauer Anführer, wie Ihr es seid, nicht die Gefahr erkennt, die von ihm für Euer imposantes Heim ausgeht.“

Dantra sah mit einer großen Portion Genugtuung, wie der kleine Wichtel hin und her gerissen war. Welche Antwort sollte er ihm nun geben? Dass er Dantras Hilfe nicht brauchte, um sich damit als dumm abstempeln zu lassen? Denn jeder Hornochse konnte erkennen, dass die Gefahr für sein Heim immens war und er selbst niemals imstande wäre, diese eigenhändig abzuwehren. Oder sollte er annehmen, damit er die Sorge um den Baum endlich vergessen konnte, dafür jedoch die Schmach akzeptieren, dass Dantra ihn, wenn auch kaum merklich, ausgelacht hatte. Die Vernunft besiegte schließlich den Stolz und er willigte in Dantras Angebot ein. Der warf erst noch einen Kontrollblick auf Akinna. Nachdem sie sein Vorhaben mit einem Nicken abgesegnet hatte, ließ Dantra den Baum mit einem lauten Knarren in sicherer Entfernung zum Steinhügel endgültig zu Boden gehen. Der Wichtel konnte sein Staunen nicht verbergen. „Ich schätze, die Frage, wie Ihr das gemacht habt, kann ich mir sparen, oder?“, fragte er wissensdurstig, wie es Dantra von sich selbst kannte, und blickte dabei staunend zu ihm auf.

„Ja, könnt Ihr“, antwortete Dantra wahrheitsgemäß, „allerdings nicht, weil es ein Geheimnis ist, sondern weil ich es selbst nicht genau weiß.“

Der Wichtel schien über seine Antwort nachzudenken. Als er sie schließlich als akzeptabel einstufte, sagte er mit einer erneuten tiefen Verbeugung: „Tretet ein in mein bescheidenes Heim.“

Noch bevor Dantra und Akinna seiner Aufforderung nachkommen konnten, nahm er zwei Finger in den Mund und pfiff. Erst waren nur leises Gebrabbel und Gejauchze zu hören, dann kamen mehr als drei Dutzend Wichtel aus dem Steinhaufen. Sie waren alle nur halb so groß wie derjenige, der sie gerade willkommen geheißen hatte.

„Unsere Kinder“, grinste dieser stolz. „Ich heiße übrigens Gismo der Einhunderteinundzwanzigste.“ Akinna und Dantra stellten sich ihm ebenfalls vor. Es kamen noch unzählige weitere Wichtel durch das Loch, um Dantras Werk staunend zu bewundern.

Akinna und er nutzten die Gelegenheit, als der Wichtelstrom kurz abriss, und krochen durch den zwei Schritte langen Tunnel, der schräg nach unten in den Steinhaufen hineinführte. Während Akinna mühelos hindurchglitt, hätte für Dantra das Loch nicht enger sein dürfen.

Sie gelangten in einen Raum, der ungefähr die Größe der Schülerstuben im Klosterheim hatte. Von diesem gingen circa zwanzig weitere Tunnel ab, die allesamt noch tiefer ins Erdreich hineinführten. Aus ihnen strömten immer mehr Wichtel. Einige schauten sie erschrocken an, andere nickten mit ihrem Kopf zur Begrüßung und wieder andere beachteten sie gar nicht, während sie die Höhle verließen oder aber in einem der anderen Gänge verschwanden. Diese weiterführenden Korridore waren jedoch alle so schmal gebaut, dass nicht einmal ein Kind in sie hineinkriechen konnte. Das wirklich Interessante an dem Raum war aber die Rinne. Sie kam aus einer der oberen Ecken und teilte sich so oft auf dem Weg nach unten, dass jeder der Gänge mit einer eigenen Rinne versorgt wurde. In dieser fausttiefen Furche strömte eine dickflüssige Masse dahin, die türkisfarben leuchtete und damit den steinernen Raum in ein warmes Licht tauchte. Dantra sah Akinna, die sich bereits auf die Nacht vorbereitete, fragend an.

„Das ist Aloc“, sagte sie, ohne aufzuschauen. „Eine Flüssigkeit, für die man sehr tief graben muss, um sie zu fördern. Die Tibboh machen das, da es ihre Hauptnahrungsquelle ist. Sie essen zwar auch Wurzeln, Beeren und so etwas, aber alles, was ihr kleiner Körper wirklich braucht, steckt in diesem Zeug. Tu das nicht!“ Sie sah ihn strafend an.

Dantra war gerade im Begriff, seinen Finger in die Flüssigkeit zu stecken, um sie zu probieren. Er hielt inne. „Warum? Es ist doch genug da.“

Akinna erklärte nichts, sondern ermahnte ihn aufs Neue: „Tu es nicht!“ Dantra versuchte, ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten. Wollte sie nur prüfen, ob er aus seinem Fehler von letzter Nacht gelernt hatte? Oder aber war es wirklich nicht gut, aus welchem Grund auch immer, die Flüssigkeit zu probieren? Er konnte sie zwar nicht durchschauen, jedoch fand er, nicht auf sie zu hören und eine Dummheit zu begehen, war schlimmer, als ihr das Gefühl zu geben, sie hätte eine gewisse Autorität über ihn erlangt. Er nahm also seinen Finger wieder zurück und konnte sich über Akinnas Reaktion freuen. Denn anstatt eines befürchteten hämischen Blickes sah sie eher erleichtert aus und fing nun doch noch an zu erklären.

„Aloc ist für den Menschen ungenießbar. Wenn es dir tatsächlich gelingt, davon etwas in den Mund zu nehmen, würde dich ein Brechreiz, wie du ihn sicher noch nie hattest, am Hinunterschlucken hindern. Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass es überhaupt so weit kommt. Denn das Zeug brennt wie Feuer auf der Haut. Und selbst wenn du deinen Finger sofort in einen Kübel mit eiskaltem Wasser hieltest, würden die Schmerzen erst einige Tage später abklingen.“

„Hast du diese Erfahrung etwa auch selbst machen müssen?“, fragte Dantra sie mitfühlend.

„Nein. Bevor ich das erste Mal in einer Tibbohhöhle geschlafen habe, hat mich Nomos gewarnt.“

„Und wieso zweigt in jeden dieser Gänge eine Rinne ab?“

„Anhand der abzweigenden Schächte kannst du genau sehen, wie viele Tibbohfamilien hier zusammenleben und -arbeiten. Jede Familie hat ihren eigenen Schacht. Und jede von ihnen wird natürlich gleichermaßen mit dem Aloc versorgt. Wobei das, was nicht benötigt wird, tief unter uns wieder zusammenfließt und zurück ins Erdreich gelassen wird. Dadurch sichern sich die Tibboh ihr Alocvorkommen für lange Zeit.“

„Und wie lang ist so eine Zeitspanne?“

„Aufgrund ihrer Sparsamkeit können das viele Jahre sein. Je nachdem, wie groß das Vorkommen ist.“

„Und was machen sie, wenn die Quelle von einem Tag auf den anderen versiegt?“

Akinna atmete mit einem Seufzer aus, worin Dantra das baldige Ende ihrer Antwortbereitschaft erkannte. „Jede dritte Generation zieht aus, um nach neuen Vorkommen zu graben. Wenn es also so weit ist, dass sie hier nicht mehr satt werden, kannst du dir sicher sein, dass es schon irgendwo anders eine neue Quelle gibt, an der sie sich nähren können. So, und nun ist es Zeit zu schlafen. Wir haben morgen wieder einen langen Marsch vor uns. Und die Nacht wird schon unruhig genug. Da sollten wir nicht die wertvolle Schlafenszeit mit Fragen vergeuden.“

„Unruhig? Wieso unruhig?“

„Weil die Tibboh nachtaktiv sind. Also, bis morgen.“ Akinna verschwand wie gewohnt komplett unter ihrem Umhang.

„Bis morgen?“, murmelte Dantra vor sich hin. „Hört sich ja an, als würde sie wie Comal ganz woanders schlafen.“ Er wickelte sich in seine Decke, mümmelte noch das trockene Brot weg, das er von Comal bekommen hatte, und schlief bald darauf ein.

Allerdings hatte Akinna nicht übertrieben. Je später es wurde, desto mehr Trubel entstand um sie herum. Alle hier lebenden Tibboh mussten, um ihre Höhle zu verlassen oder in eine der anderen zu gelangen, diesen Hauptraum nutzen. Die kleineren von ihnen waren so leicht, dass Dantra sie kaum spürte, wenn sie über ihn hinwegliefen. Ihr Geschnatter und Gekicher allerdings nervte ihn schon nach kürzester Zeit. Die Erwachsenen hingegen schwiegen weitestgehend, wenn sie den Raum passierten. Aber auch sie gaben sich nicht viel Mühe, um sie herumzugehen. Ständig kletterte einer über Dantra hinüber, was sich jedes Mal anfühlte, als würde eine Katze auf zwei Pfoten über ihn hinwegspazieren.

Jedoch sollte auch diese Nacht ihr Ende finden. Allerdings nicht wie sonst, wenn Dantra seine magische Kraft am Vortag genutzt hatte, durch den immer wiederkehrenden Albtraum, sondern durch Akinnas barschen Tritt gegen seinen Fuß. „Wir müssen los“, flüsterte sie, „aber sei leise. Wir wollen niemanden wecken.“

„Sehr witzig“, brummte Dantra zurück. Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugemacht und nun sollte er auch noch auf diese Krawallmacher Rücksicht nehmen. Die Tatsache, dass er nicht durch den Albtraum geweckt worden war, konnte sich Dantra nur damit erklären, dass er in dieser Nacht nicht so tief geschlafen hatte, wie es nötig gewesen wäre, damit sich der Traum vollends entfalten konnte.

Als er sich durch den Tunnel wieder zurück in die Heidelandschaft gezwängt hatte, nahm Akinna bereits Abschied von Gismo dem Einhunderteinundzwanzigsten. Der Vorfall vom Vortag schien für den Tibboh vergessen zu sein, denn auch Dantra wurde mit einer tiefen Verbeugung verabschiedet. Sie gingen zurück zum Weg, dem sie folgten, bis sie Comal am verabredeten Punkt trafen. Das Frühstück fiel eher mager aus, wofür sich Comal mehrmals entschuldigte. Aber seine Vorräte hatten sich schneller dem Ende zugeneigt als von ihm erwartet. Bis auf ein paar Pilze, die er gesammelt hatte, und das Fleisch eines kleinen Karnickels, das am Vorabend von einem lauten Krachen aufgeschreckt direkt in sein Schwert gelaufen war, welches er zum Polieren gerade in der Hand hielt, konnte er ihnen nicht viel mehr anbieten.

„Das macht nichts“, beruhigte ihn Akinna. „Wenn wir heute die Strecke schaffen, die ich mir vorgenommen habe, dann bekommen wir heute Abend mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit etwas serviert.“

„Ich etwa auch?“, fragte Comal erstaunt.

„Vor allem du“, versicherte ihm Akinna.

Wenn es etwas gab, von dem sie noch weniger hatten als Frühstückszutaten, dann war es die Zeit, die man für genau solch ein Frühstück benötigte. Zumindest vertrat Akinna diesen Standpunkt.

„Essen kann man auch, während man geht“, sagte sie und eilte voran.

„Geschmorte Pilze mit Fleischbrocken? Wie soll das denn gehen?“, rief Dantra ihr hinterher.

„Wenn du unbedingt frühstücken musst, dann lass dir was einfallen!“, forderte sie ihn auf, ohne dafür stehen zu bleiben.

Comal schob indessen die Hälfte des Pfanneninhaltes in eine Schale, die er anschließend Dantra gab. Er selbst nahm die gusseiserne Pfanne, schulterte seine beiden Seesäcke und ging mit großen Schritten Akinna nach. Dantra schlang das Essen hinunter, während auch er den beiden folgte. Mit dem Gesicht fast in der Schüssel dauerte es allerdings nicht lange und er stolperte. Zwar konnte er sich abfangen und fiel somit nicht hin, jedoch lag sein mageres Frühstück nun zum größten Teil im Dreck. Er war so wütend, dass er kurz davor war, Bäume zu entwurzeln. Jedoch war der Schlafmangel der letzten Nacht so groß, dass er nur einige Flüche in sich hinein brummelte, anstatt seiner Kehle die Kraft zu geben, die ganze Umgebung an seinem Frust teilhaben zu lassen.

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster

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