Читать книгу Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch - Страница 18

Kapitel 6

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Der immer wiederkehrende Traum, wenn er am Vortag seine Kraft genutzt hatte, weckte Dantra auf. Schmerzen. Das war das Erste, was er wahrnahm. Unerträgliche Kopfschmerzen. Als hätte sich ein Grubentroll mit seinem ganzen Gewicht und dem Ellenbogen voran auf seinen Schädel geworfen.

Sein Geruchssinn war das Zweite, was die Arbeit wieder aufnahm. Der unverminderte Verwesungsgestank ließ ihm keinen Moment der Besinnung. Er holte ihn so schlagartig in die Realität zurück, wie er ihr entkommen war. Dantra riss seine Augen auf und blickte direkt in das aufgedunsene blassblaue Gesicht seines Grabmitbenutzers, von dem er keine Handbreit entfernt lag. Erschrocken und angeekelt zog er seinen Kopf so weit zurück, wie es ihm in dem schmalen Erdloch möglich war. Das bisschen Sonnenlicht, das sein vermeintliches Grab schwach erhellte, ließ die kleinen schneeweißen Maden, die dem Toten aus Mund, Nase und Augen krochen, leuchten, wodurch sie sich auf skurrile Weise von ihrem leblosen Untergrund abhoben. Wenn man sie so betrachtete, wie sie sich wanden und kräuselten, machte es den Anschein, als feierten sie ein großes Festbankett, bei dem nicht nur gut gespeist, sondern auch fröhlich getanzt wurde.

Ein leichtes Kribbeln auf der Lippe ließ Dantra einen Ekelschauer über den Rücken laufen, wie er es noch nie erlebt hatte. Er wischte, fast schon schlagend, aus seinem Gesicht, was dort nicht hingehörte. Schlamm, getrocknetes Blut und Reste seines Erbrochenen, in dem er gerade noch gelegen hatte. Erst als er durch seinen Ärmel atmete, um den Gestank, so gut es ging, fernzuhalten, schaffte er es, sich zu beruhigen und sich auf seine Situation zu konzentrieren. Er lag zusammengekauert unter dem oberen Teil des Stammes, an den er zuvor noch gefesselt gewesen war. Ein großer Brocken, der das Erdloch fast komplett ausfüllte, hatte den Baumstumpf zerbrochen. Erst bei genauerem Hinsehen fiel Dantra auf, dass es sich bei dem Klumpen um ein Pferd handelte. Was er zum einen daran erkannte, dass es nach verbrannten Haaren roch, aber vor allem auch an den zwei Hufen, die neben seinem Kopf herabhingen. Sie waren wohl auch der Grund, warum er sein Bewusstsein verloren hatte und erneut eine mächtige Beule seinen Kopf zierte.

Dantra wusste nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war und wie viel Zeit seit dem Drachenangriff vergangen war. Aber eine Nacht musste dazwischen gelegen haben, sonst wäre er nicht von seinem Albtraum geweckt worden. Da nichts, nicht mal das Zwitschern der Vögel zu hören war, beschloss er, sein stinkendes, ekelerregendes, aber dennoch sicheres Versteck zu verlassen. Mit seiner magischen Kraft katapultierte er das Tier aus dem Loch, wobei er sich bemühte, es schräg zu treffen, damit das Pferd nicht auf dem gleichen Wege erneut auf ihm landete.

Nachdem das Ross mit einem dumpfen Aufprall irgendwo dort oben seine endgültig letzte Ruhestätte erreicht hatte, kletterte Dantra am Stamm vorbei aus der Grube. Die Luft, die er jetzt atmete, war zwar besser, aber bei Weitem nicht geruchlos. Und der Anblick, der sich ihm bot, stand dem, den er gerade eben bei seinem Erwachen vorgefunden hatte, in nichts nach. Die Erde war noch immer brütend heiß. Auf der gesamten Lichtung war kein grüner Halm mehr zu sehen. Stattdessen stiegen dünne graue Rauchschwaden auf und umhüllten dabei die unzähligen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen und Tierkadaver. Es war ein Bild des Grauens, grotesk und unwirklich, als hätte eine Macht jenseits von Menschlichkeit an diesem Ort gewütet und die verdorbenen Seelen eigenhändig aus den nutzlos gewordenen Körpern herausgebrannt.

Dantra fiel auf, dass am Rand der Lichtung - ein Stück, das er, als er noch gefesselt gewesen war, nicht hatte einsehen können - einige Hütten gestanden hatten. Auch sie waren zerstört und fast komplett heruntergebrannt, doch immer noch als solche gut zu erkennen. Das war wohl die Erklärung dafür, warum es viel mehr Leichen gab, als er an lebenden Menschen auf der Lichtung zu Gesicht bekommen hatte. Und nicht nur einige, sondern unglaublich viel mehr. „Und ich habe sie umgebracht“, murmelte Dantra, als könnte er es selbst nicht glauben. „Aber sie waren schlechte Menschen. Sie haben anderen Leid zugefügt und schienen dieses auch noch zu genießen. Sie hatten den Tod verdient. Jeder von ihnen.“ Eine gute Entschuldigung für sein Handeln, die ihn auf lange Sicht allerdings nicht zufriedenstellen konnte. Für den Augenblick jedoch waren sein unbändiger Zorn und gleichzeitig das gute Gefühl, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, so übermächtig, dass sein schreiendes Gewissen nicht dagegen ankam. Aber ein plötzlich aufkommender, winziger Gedankentropfen schwemmte alle diese Überlegungen wie durch eine Flutwelle hinfort.

Tami!!!

Schlagartig wurde ihm bewusst, wenn einer den Feuertod verdient hätte, dann wäre es er selbst. Denn er war der Schlechteste von allen! Er hatte seine eigene Schwester getötet. Nicht indem er den Drachenangriff mit seinen Beschimpfungen provoziert hatte, sondern weil er nicht den Weg verlassen wollte, als sie ihn darum gebeten hatte.

„Aber vielleicht ist sie ja gar nicht tot. Vielleicht hatte sie ebenfalls so viel Glück wie ich.“ Eine Hoffnung, deren Wurzeln in seinem Kummer lagen, die ihn aber dennoch beflügelte. Er rannte mit aufsteigender Nervosität von einem Loch zum anderen. Er rief den Namen seiner Schwester, wohl wissend, dass sie ihm nicht antworten konnte, selbst wenn sie bei Bewusstsein war und ihn hörte, aber mit der Aussicht, dass sie sich vielleicht irgendwo versteckt hielt. Und wenn sie nun seine Stimme vernahm, würde sie sich sicher trauen herauszukommen.

Er durchsuchte die Hüttenreste und die gesamte Umgebung. Erst grob, dann systematisch und genau. Doch Tami war nirgends zu finden. Nichts. Nicht einmal eine Spur von ihr konnte er ausmachen. Resigniert begann er, mit dem Bestreben, sie wenigstens anständig zu begraben, sich die Leichname genauer anzusehen. Jeden einzelnen untersuchte er nach Anhaltspunkten, die auf Tami hindeuten konnten. Aber es war hoffnungslos. Die einzigen beiden Toten, die er eindeutig erkennen konnte, waren der Zwerg anhand seiner Größe und der Kerl mit der Eisenplatte im Kopf, die nun zwar verformt war, von der aber immer noch eine kleine Lichtspiegelung ausging.

Enttäuscht, niedergeschlagen und zutiefst traurig verspürte Dantra nur noch den Drang, diesen Ort, der sein Leben von Grund auf verändert hatte, zu verlassen. Sein Schwert, das er beim Suchen nach Tami in einer der Hüttenruinen gefunden hatte, baumelte lieblos befestigt an seinem Gürtel, als er die Lichtung verließ. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, in welche Richtung er gehen sollte, oder einen Blick auf die Karte zu werfen, die von den Banditen unentdeckt immer noch in seiner Jacke eingenäht war, trottete er los. In seinem Kopf durchlebte er noch mal das Geschehene. War es die richtige Entscheidung gewesen, den Drachen zu beleidigen? Gab es wirklich keine andere Möglichkeit? Und vor allem: Hätte Tami genauso gehandelt? Fragen, die unmöglich zu beantworten waren. Fragen, die auch keiner Antwort mehr bedurften. Denn eines war unumstößlich klar: Tami war tot. Seine Schwester. Seine Familie. Sein Zuhause. Unumkehrbar, unwiderruflich und unerträglich fühlbar. Er hatte sie verloren. Für immer.

In diesem Moment, als ihm das qualvoll Endgültige bewusst wurde, spürte er eine Träne über seine Wange rollen. Er hatte es in seinem Leben nie einfach gehabt, doch konnte er sich nicht erinnern, jemals geweint zu haben. Aber nun, da ein Verdrängen oder gar Leugnen der Geschehnisse unsinnig war und er die grausame Wahrheit akzeptierend an sich heranließ, durchfuhr ihn ein Schmerz, wie er ihn bisher nicht gekannt hatte. Eine Pein, brennend wie Drachenfeuer, stechend, als würden hundert Schwerter ihn durchbohren, und reißend, als würde man ihn vierteilen. Und diese Qual konzentrierte sich nur auf einen Punkt: seiner Seele.

Nicht selten hatte ihn Schwester Arundel als seelenlos beschimpft. Und es gab Zeiten, in denen er ihr Glauben schenken wollte. Doch hier und heute wurde ihm bitterlich bewusst, wie unrecht sie gehabt hatte. Tief in seinem Innersten war sie verankert. Gefüllt mit Liebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl. Doch der Verlust von Tami hatte ihm ein Stück seiner Seele genommen und dort eine niemals heilende Wunde hinterlassen. Sie würde bluten und schmerzen, bis ihm selbst der Tod begegnen würde, und auch wenn noch so viel Zeit verstrich, sie würde niemals vollständig heilen. Seine bis zum heutigen Tage ungetrübte Lebensfreude war verschwunden, ausgelöscht wie eine Kerzenflamme im Wind. Er verspürte eine große Leere, die in beängstigende Einsamkeit mündete.

Er war schon einige Zeit unterwegs, als der Wald lichter wurde und einzelne Felder, bestellt oder frisch gepflügt, die Landschaft durchzogen. Nach zwei überquerten Hügelketten lag eine kleine Stadt in einer lang auslaufenden Senke vor ihm. Als Dantra durch das Stadttor trat, registrierte er weder die Schilder mit der Aufschrift Für Bettler und Landstreicher gibt es hier nur den Pranger! noch die missbilligenden Blicke einiger ihm entgegenkommender Leute. Immer der breitesten Straße folgend, fand er sich bald auf einem großen Platz wieder. Es war Markttag. Was wohl auch ausschlaggebend dafür war, dass ihn noch niemand trotz verschmutzter und alles andere als ordentlich aussehender Kleidung angesprochen oder gar angepöbelt hatte. An solchen Tagen schien man wohl über optische Unpässlichkeiten bei Fremden hinwegzusehen.

Der Platz war voll von reisenden Händlern, die ihre Ware in den Auslagen präsentierten. Es war ein buntes Treiben, was nun auch Dantra aus seiner Trance holte. Er ging langsam und mit neugierigen Blicken an den zum Kauf angebotenen Sachen vorbei. Es gab Stände mit Kleidung, Schuhen und verschieden großen Decken, aber auch Waffen, Schilde und Rüstungen. Dann wieder meterlange Tische mit Früchten in den verschiedensten Farben und Gemüse von blühender Frische. Auch Fisch, Fleisch, Käse, Eier und Marmelade konnte man käuflich erwerben.

Hier und da blieb Dantra stehen. Er erinnerte sich daran, wie schlecht das Essen oftmals im Klosterheim gewesen war. Doch selbst mit diesen Köstlichkeiten vor seinen Augen wäre er momentan schon froh gewesen, etwas aus Schwester Cesenas Küche zwischen die Zähne zu bekommen. Nur waren seine Taschen so leer wie sein Magen. Und zu allem Überfluss kam er auch noch an einen Stand mit Bonbons, Zuckerstangen und Honigdrops. Er hatte den Eindruck, als hätte jemand einen Regenbogen vom Himmel geholt, ihn vor ihm ausgebreitet und er dürfe ihn nicht betreten. Für einen kurzen Augenblick befürchtete Dantra, er müsse erneut weinen, hatten ihm doch schon andere Kinder, die nicht im Klosterheim wohnten, so oft von diesem herrlich süßen Geschmack berichtet. Wie er sich paradiesisch, unverwechselbar auf der Zunge ausbreitete. In dem Dorf, in dem er aufgewachsen war, kam es hin und wieder vor, dass ein Händler dieser Art seine Ware zum Verkauf anbot. Aber die sonst eher fehlende Fürsorge der Schwestern war dann besonders ausgeprägt. Keines der Kinder aus dem Kloster durfte an solchen Tagen auf den Markt.

„Es würde euch das Herz brechen, diesen Überfluss an Sünde zu sehen, aber kein Geld zu haben, euch etwas zu kaufen“, hatte Schwester Burgos immer gesagt. Erst jetzt verstand er, was sie meinte.

E’Cellbra!

Wie ein Blitz traf ihn der Gedanke. Sie hatte ihm einen Krato gegeben. Eine prüfende Handbewegung bestätigte ihm, dass neben der Karte und dem Säckchen mit dem Pulver gegen Goracks auch das Geldstück immer noch sicher in seiner Jacke vernäht war. Mit einem wehmütigen Gefühl knibbelte er die fein säuberliche und akkurate Naht von Tami auf. Gerade nur so weit, dass er den Krato durchschieben konnte. Er hielt ihn in seiner offenen Hand und dachte nach. „Gebrauche ihn, wenn du ihn brauchst. Doch nutze deinen Verstand, bevor du ihn benutzt“, hatte E’Cellbra gesagt. Und nun stand er hier und wollte ihn für etwas Süßes ausgeben. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Hexe ihn tadeln würde, wenn sie ihn jetzt sähe. „Was soll’s?“, dachte er. „Sie kann mich ja nicht sehen. Und nun, da Tami tot ist, wofür soll ich da noch sparsam sein? Im nächsten Wald werde ich womöglich wieder überfallen, und es gibt keinen Grund, warum ich mich dann noch wehren sollte. Aber wenn ich schon sterbe, dann wenigstens mit der Gewissheit, dass einmal in meinem Leben etwas Süßes auf meiner Zunge zerging.“

Er ließ erneut seine Augen über die prächtige Auslage schweifen. Nicht lange und er hatte sich für eine äußerst große Zuckerstange entschieden, die himbeerrot, pfefferminzgrün und brombeerblau gesteift war. Ohne einen weiteren Gedanken an E’Cellbras mahnende Worte zu verschwenden, reichte er dem Verkäufer den Krato über den Tisch.

Für einen Außenstehenden gab Dantra sicher ein seltsames Bild ab. Er stand da, inmitten dieser vielen Leute, und hielt sich eine bunte Zuckerstange direkt vor sein Gesicht. Er hatte keine Ahnung, wie man so ein Teil aß. Streckte man die Zunge raus und leckte? Oder nahm man die Süßigkeit in den Mund und drehte sie hin und her? Oder aber biss man gleich ein ganzes Stück davon ab? Und da er sich immer noch nicht entschieden hatte, als er die Zuckerstange bereits zum Mund führte, schlug er sie sich erst einmal vor die Zähne. Der Schmerz war jedoch schnell vergessen. Als der süße Geschmack sein Ziel erreichte, wurde Dantra bewusst, dass er noch nie in seinem Leben mit einer Entscheidung so richtig gelegen hatte. Nicht, dass sich seine Laune besserte, ganz im Gegenteil. Neben der Trauer um seine Schwester plagte ihn nun auch noch das schlechte Gewissen, dass er in den Genuss kam, etwas Süßes zu essen, während Tami wegen seiner Dickköpfigkeit niemals dieses Vergnügen erleben durfte. Doch andererseits betrachtete er die Zuckerstange als seine Henkersmahlzeit und aus diesem Blickwinkel ließen sich die Schuldgefühle ertragen. So schlenderte er schmatzend und im Genuss versunken durch die quirlige Menschenmenge über den angrenzenden Viehmarkt bis zum hinteren Ende des ovalförmigen Platzes.

Hier spielte sich ein Szenario ab, welches Dantras Aufmerksamkeit weckte. Ein Hinkelstein, mit dem spitzen Ende voran in den Boden gerammt, diente offensichtlich als Pranger. Doch das wirklich Skurrile war der Verurteilte, der daran festgebunden war. Er war so groß, dass er wahrscheinlich einem ausgewachsenen Zuchthengst in die Augen schauen konnte. Sein riesiger Kopf war nur mit dichten Haarbüscheln über seinen knorpeligen Ohren bestückt, die sich zum Kinn hin in einem zerzausten Bart trafen. Seine Schultern waren breiter als der wuchtige Hinkelstein, an den er mit einem dicken Tau gefesselt war, das an seinen massigen Handgelenken aussah wie ein Ziegenstrick.

Auch wenn Dantra Kreaturen wie ihn nur von schlecht gemalten Bildern kannte, so war er sich doch sicher, dass es sich hier um einen Nalc handelte. Aber wie konnte das sein? Die Nalcs lebten bekanntermaßen weit unten im Lava-Dron gelegenen Teil von Umbrarus. Dass sie ihre Tiefebene verließen, war sehr ungewöhnlich. Und wenn, dann nur in einer Gruppe, aber niemals alleine und niemals drangen sie so weit in den Culter vor. Im Übrigen waren sie ein Kriegervolk. Eher würden sie sterben, als sich solchem Hohn und Spott auszusetzen. Doch dieses Geschöpf schien anders zu sein. Es machte zwar den Eindruck, als könnte es mit einem Achselzucken den ganzen Steinkoloss aus der Erde ziehen, doch ließ es die Prozedur über sich ergehen, als wäre diese Behandlung selbstverständlich. Und je länger Dantra den Nalc ansah, desto sicherer war er sich, dass von Zeit zu Zeit der Anflug eines Lächelns über sein ansonsten grimmiges, raues Gesicht huschte.

Anders als bei gewöhnlichen Menschen, die am Pranger ihre Strafe entgegennahmen, blieb hier das pöbelnde Volk auf Abstand. Gefesselt oder nicht, man merkte sofort, dass die Leute Angst und Respekt vor dieser bedrohlichen Erscheinung hatten. Wenn sich jemand traute, einen Kohl, eine Kartoffel oder gar ein Ei nach dem Gefesselten zu werfen, passierte das meistens aus der Menge heraus. Es schien, als wollten die Menschen ihren aufgestauten Frust gegenüber einem Volk loswerden, von dem sie wussten, dass es ihnen kriegerisch weit überlegen war, allerdings ohne dabei erkannt zu werden.

Nur ein kleiner, schmächtiger Mann hielt sich für mutiger. Er stand einen guten Schritt vor allen anderen und brüllte lauthals Beleidigungen. Dass das jedoch den Nalc nicht im Geringsten kümmerte, schien ihn noch wütender zu machen. Nach einer kurzen Denkpause ging er schnellen Schrittes auf den Gefangenen zu und Dantra sah, wie sich dabei seine Wangenknochen bewegten, was darauf hindeutete, dass er so viel Speichel in seinem Mund sammelte, wie es nur ging. Kurz bevor der Mann auf Spuckweite an ihn herangekommen war, schien der Nalc zum ersten Mal Notiz von ihm zu nehmen. In dem Moment, als der Mann seine Lippen spitzte, brüllte der Nalc los. Es dröhnte so laut, dass viele, die das Szenario nicht beobachtet hatten, zum wolkenlosen Himmel aufsahen, um nach einem plötzlich aufkommenden Gewitter Ausschau zu halten. Der Nalc riss an seinen Fesseln und der Hinkelstein wackelte instabil hin und her. Der Zerrock, der neben dem Verurteilten Wache stand, wandte sich diesem nur kurz zu, um ihm mit seinem gezogenen Schwert zu drohen. Doch als der Gefesselte ihn gar nicht beachtete, entschied sich der Zerrock, um die Lage zu entspannen, den vor Schreck wie angewurzelt stehen gebliebenen Mann beiseite und damit zurück in die Menge zu schieben. Als die Wache anschließend wieder auf ihren Posten zurückkehrte, hatte der Nalc bereits seine alte teilnahmslose Haltung wieder eingenommen. Dantra hätte am liebsten Applaus gespendet, so fasziniert war er von dem Respekt, den der Nalc trotz seiner Situation ausstrahlte. Da die Vorstellung nun aber wieder mit Gemüseweitwurf aus dem Hintergrund dahindümpelte, beschloss Dantra weiterzuziehen.

Er sah sich die Stadt mit ihren zum Teil zweistöckigen Bauwerken noch ein bisschen genauer an, zog es dann aber vor zu verschwinden. Die Blicke der Leute wurden finsterer, je weiter er sich vom Marktplatz entfernte, und bevor man ihn noch wegen Landstreicherei neben den Nalc stellte, ließ er lieber die breite, lieblos aus bröckeligem Sandstein aufeinandergeschichtete Stadtmauer hinter sich. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung er aus der Stadt verschwand. Und wenn man nicht mit schwarzer Kohle auf das Holztor Danke, dass Ihr Uka endlich verlasst! geschrieben hätte, würde er nicht einmal den Namen des Ortes kennen, den er gerade hinter sich ließ. Da der Tag sich bereits dem Ende zuneigte, beschloss Dantra, sein Nachtlager unter einer außergewöhnlich dicken Kastanie aufzuschlagen. Sie stand etwas abseits des Weges und war von dichten Kirschlorbeerbüschen umgeben, die ihn vor neugierigen Blicken schützten, falls wider Erwarten um diese Tageszeit noch Reisende vorbeikämen. Er setzte sich ins weiche Gras und lehnte sich an den dicken Stamm. Seine Zuckerstange war schon lange verdaut, und auch wenn er noch den süßen Geschmack auf den Lippen hatte, so ärgerte er sich, dass er sich nicht lieber etwas Deftiges gekauft hatte, was seinen Magen länger zum Schweigen gebracht hätte.

„Sei’s drum“, dachte er. „Wenn ich morgen meinem Schicksal gegenüberstehe, ist es völlig egal, ob ich das mit vollem oder leerem Bauch tue.“ Er war davon überzeugt, dass diese Welt oder zumindest diese Gegend, in der er sich befand, so gefährlich war, dass es sicher nicht lange dauerte, bis er erneut auf übles Gesindel traf. Und wenn dieses sich aus seinem Tod keinen Spaß machen wollte, sondern seine Ermordung nur als lästige Notwendigkeit ansah, an der man sich ungern lange aufhielt, würde er keinerlei magisches oder mit dem Schwert geführtes Argument dagegen vorbringen. Seine Lebensfreude, sein Wissensdurst und seine unerschöpfliche Neugierde auf alles Unbekannte hatten sich nur noch einmal mühselig aufgebäumt, als er auf dem Marktplatz den Süßwarenstand erblickt und das Verhalten des Nalcs beobachtet hatte. Nun, da er zur Ruhe kam und seine Gedanken wieder um Tami und ihren Tod kreisten, waren all diese Charaktereigenschaften verschwunden wie das Wasser in einem ausgetrockneten Flussbett. Sicher hätte Dantra noch Spuren von ihnen entdecken können, wenn er genau hingesehen hätte. Aber wollte er das überhaupt?

Teilnahmslos zog er die Landkarte von E’Cellbra aus der kleinen Öffnung seiner Innentasche, aus der er auch schon den Krato geangelt hatte. Er brach das Siegel und warf einen Blick darauf. Doch als er die vielen Namen und verschiedenen Zeichen sah, siegte sofort wieder das Desinteresse an allem. Dantra rollte die Karte wieder zusammen und verstaute sie. Dabei weckte irgendetwas Kleines, Hartes, das ebenfalls in der Innentasche lag, seine Aufmerksamkeit. Er zog es mit zwei Fingern durch die schmale Öffnung und zu seiner großen Verwunderung hielt er wieder den Krato in seiner Hand.

Wie konnte das sein? Hatte er vergessen zu zahlen? Unmöglich. Bei Fremden, die aussahen wie er, warteten die Leute nur darauf, dass sie ihm etwas anhängen konnten, um ihm seine gerechte Bestrafung zukommen zu lassen. Wahrscheinlich hatte nicht nur der Händler akribisch darauf geachtet, dass er sein Geld bekam, auch sämtliche Leute um ihn herum konnten, wenn auch nur widerwillig, sicher bezeugen, dass er bezahlt hatte. Aber wie war es dann möglich, dass er das Geldstück in seiner Hand hielt? Je länger Dantra darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er, ob er nicht vielleicht zwei Geldstücke von E’Cellbra bekommen hatte. Ungläubig drehte er die Münze in seiner Hand und versuchte, sich abermals zu erinnern, was die Hexe alles über den Krato gesagt hatte.

Das laute Knacken und Brechen von Ästen ließ ihn aufschrecken. Noch bevor er überhaupt in irgendeiner Weise reagieren konnte, stand schon der Nalc vom Pranger in seiner vollen Lebensgröße vor ihm und blickte nicht weniger erstaunt auf ihn herunter. Sein Gesichtsausdruck wechselte allerdings ziemlich schnell in ein grimmiges, missbilligendes Mustern. Nach einem kurzen dunklen Knurren ließ das Wesen den Sack, den es über seinen breiten Schultern trug, zu Boden fallen und ging auf die andere Seite des Baumes.

Dantra, der kurzzeitig befürchtete, dass sein erlösendes Ende ihn schneller heimsuchte als vermutet, drehte sich nun langsam und ohne mehr Bewegungen als unbedingt nötig herum, um den Nalc und sein Treiben besser beobachten zu können. Dieser hatte seinen Arm in eine tiefe Baumspalte, die Dantra bis dahin gar nicht aufgefallen war, versenkt und zog einen zweiten etwas größeren Sack aus einem hohlen Teil des Stamms. Er legte ihn neben den anderen, wobei das Klappern und Scheppern von Metall zu hören war. Nach einem erneut argwöhnischen Blick auf Dantra, entfernte sich der Nalc kurz und nach einigem Ästebrechen kehrte er mit einem Bund Brennholz in seinen Pranken zurück. Er entstammte einem Volk, das den Kampf liebte. Die Schmach, die er in der kleinen Stadt über sich ergehen lassen hatte, war in Dantras Augen schon mehr als seltsam. Doch was jetzt passierte, warf seine Vorstellung von den im ganzen Land gefürchteten Nalcs vollends über den Haufen.

Nachdem der Koloss ein Feuer entzündet hatte, baute er eine Konstruktion aus Eisenstangen über den Flammen auf und hängte einen mit Wasser gefüllten Kupferkessel daran. Danach zog er den aus der Stadt mitgebrachten Sack zu sich heran, holte Möhren, eine Steckrübe und einige andere Gemüsesorten daraus hervor und begann damit, sie zu schälen und zu schnippeln. Kurz, er begann zu kochen. Er machte eine Arbeit, die in der Welt, wie Dantra sie kannte, Frauen und nur Frauen vorbehalten war. Selbst wenn es nur die Vorspeise werden sollte und er ihm anschließend den Kopf abriss, um ihn als Hauptgericht über dem Feuer schmackhaft zuzubereiten, hatte sein ansonsten angsterregendes Auftreten in Dantras Augen doch arg durch dieses Verhalten eingebüßt. Der Zweifel, ob die Dinge, die er bei den Schwestern über Jahre gelernt hatte, der Richtigkeit entsprachen, war stets groß gewesen. Nun nahmen diese aber ganz neue Dimensionen an.

Dantra war sich nicht sicher, was er tun sollte. Der Nalc hatte sich mit dem Rücken zu ihm gedreht. Sollte er versuchen, ihn von hinten zu überwältigen? „Er würde mich wahrscheinlich abschütteln wie eine Fliege“, überlegte er. Aber die Gelegenheit zur Flucht war gut. „Sicher bin ich ihm körperlich unterlegen, aber im Weglaufen hätte ich die gleiche Chance wie ein Hase, der vor einem alten Wolf flieht. Ein paar Haken im richtigen Moment geschlagen und ich könnte ihn sicher abhängen.“

Ein erneutes lautes Knurren ließ Dantra aufhorchen. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Magen so laut grummeln konnte. Vor allem nicht sein eigener. Der Nalc drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an. „Du bist ja immer noch hier!“ Seine Stimme hatte erschreckende Ähnlichkeit mit Dantras Bauchgeräuschen. Das Geschöpf drückte sein Kreuz durch und hob die Schultern. „Ich bin ein Nalc! Töten ist meine Bestimmung.“ Es verlieh seinen Worten einen bedrohlichen Unterton. „Also lauf, so schnell du kannst, nach Hause zu Mama und Papa. Bevor ich dir dein dürres Genick breche und dir die Haut vom Leib ziehe.“

Der Hüne vor ihm schien zu allem entschlossen, und Dantra hatte Bedenken, ob seine magische Kraft ausreichen würde, um diesen Muskelberg umzustoßen. Daher stand sein Entschluss fest. Wenn er irgendetwas aus dem Tod seiner Schwester gelernt hatte, dann, dass es Momente im Leben eines Mannes gab, in denen man laufen sollte. Aber beim Nachdenken, in welche Richtung er die Flucht antreten sollte, übernahm sein Magen die Kontrolle über seine Zunge. „Ich habe Hunger!“ Sie sahen sich verdutzt an, denn für beide kam die Aussage überraschend, und irgendwie war sie auch fehl am Platz.

Der Nalc wandte sich wieder seinem Topf zu und fiel zurück in seine geknickte Haltung. „Na, dann setz dich zu mir, die Suppe ist gleich fertig.“ Dantra war jemand, der immer eine Antwort, eine Ausrede oder ein Gegenargument parat hatte. Jetzt jedoch ging sein Mund zwar auf, heraus brachte er aber keinen einzigen Ton. Er zweifelte an seinem Gehör, seinem Verstand, der ganzen surreal wirkenden Situation. Als hätte sein Magen nun auch noch seine Beine unter Kontrolle gebracht, stand er auf und setzte sich dem Nalc gegenüber. Er sah durch den herrlich duftenden Dampf, der aus dem Kessel aufstieg, in das Gesicht seines Gegenübers. Das Flackern des Feuers verlieh ihm einen roten Schimmer und die Hitze ließ es unkontrolliert zucken. Ein Umstand, der seine grimmige und zerknautschte Miene nicht gerade freundlicher machte. Doch in seinen Augen, die starr auf die Suppe gerichtet waren, während er sie umrührte, war kein Krieger oder gar Mörder zu erkennen. Sie sahen traurig aus. Irgendwie hilflos. Dantra brauchte einen Moment der Suche, bis er die richtige Beschreibung gefunden hatte. „Gebrochen! Eine Statur, bedrohlicher als die eines Bären, aber seine Seele ist gebrochen“, deutete er, was er sah.

Die Dämmerung war nun schon so weit vorangeschritten, dass die ersten Fledermäuse ihre Bahnen zogen. Der Nalc hatte eine zweite Holzschale aus seinem übergroßen Baumwollsack gezogen und sie bis zum Rand gefüllt. Als er sie anschließend Dantra reichte, entschuldigte er sich dafür, dass er keinen zweiten Löffel hatte. „Hab bisher nur selten oder besser gesagt noch nie einen Gast zum Essen gehabt.“

Nachdem Dantra die Hälfte der außerordentlich leckeren Suppe geschlürft hatte, fasste er den Entschluss, seine immer noch vorhandene Befürchtung vorübergehend beiseitezuschieben, er könnte doch noch selbst als Hauptgericht in diesem Kupferkessel enden, verfeinert mit Rosmarin und Petersilie. Stattdessen brach er sein ihm mittlerweile selbst peinliches Schweigen. „Schmeckt sehr gut“, sagte Dantra so leise, dass er es fast selbst nicht gehört hätte.

Der Nalc sah auf und nach einem verblüfften Blick folgte ein breites Grinsen. Seine daumendicken Zähne schienen dabei links und rechts an den Ohren anzuschlagen. „Danke“, erwiderte er leicht verlegen. „Die nächste Suppe mache ich mit Fleisch. Dann schmeckt sie noch besser.“ Sofort kehrte Dantras Befürchtung wieder zurück. „Aber die wirst du leider nicht mehr schmecken können“, fuhr der Nalc fort, „bist dann ja nicht mehr da.“

Dantra sprang auf und schrie ihn an: „Du wirst mich nicht fressen!“ Er schleuderte dem Geschöpf eine Salve seiner magischen Kraft entgegen, die nicht nur den Topf wegschleuderte und das Feuer löschte, sie warf tatsächlich sogar den Riesen schlagartig auf den Rücken. Selbst den unerschütterlich wirkenden Baum drückte es mit einem lauten Knacken leicht nach hinten und mit demselben Ächzen kehrte er wieder in die ursprüngliche Position zurück. Dann geschah das anscheinend Unvermeidliche: ein brachialer Schmerz in Dantras Schädel. Und wieder wurde es schwarz um ihn herum.

Von irgendwoher brummte eine Stimme: „Bist du tot?“

Ein merkwürdiger Geruch stieg Dantra in die Nase, sodass er kurzzeitig das Gefühl bekam, er wäre immer noch in dem Loch auf der Lichtung, in dem er nach dem Drachenangriff aufgewacht war. Der erste Blick, nachdem er seine Augen geöffnet hatte, ließ diese unangenehme Befürchtung allerdings ganz schnell in eine ausgewachsene Panik münden. Der Nalc hatte sich eine Handbreit über sein Gesicht gebeugt und der ekelhafte Geruch stammte eindeutig aus seinem Mund, aus dem nochmals die Worte kamen: „Bist du tot?“

Dantra rollte sich unter ihm weg, sprang auf und fiel zurück auf seinen Hintern. Die Bilder vor seinen Augen drehten sich. „Ich bin es so leid!“, murmelte er vor sich hin und rieb sich dabei die Stelle an seinem Schädel, wo er den Schlag abbekommen hatte.

„Was bist du leid?“, fragte der Nalc.

„Na, was wohl?“, brüllte Dantra ihn an. „Ich habe keine Lust mehr auf Schmerzen in, an und um meinen Kopf herum. Oder darauf, mich in der Dunkelheit zu verlieren, um anschließend beim Öffnen meiner Augen den Tod vor mir zu sehen. Also reiß mir meinen Kopf von den Schultern, aber hör auf, auf ihn draufzuschlagen!“ Die letzten Worte schrie er so laut in den Abendhimmel, als wollte er die ganze Welt ermahnen, davon Abstand zu nehmen.

Der Nalc sah ihn traurig und gebrochen an. „Es war mein Schwert, das dich am Kopf getroffen hat“, entschuldigte er sich bei Dantra. „Ich hatte es oben im Baum versteckt. Und als du diesen Wind gemacht hast, ist es heruntergefallen. Aber gib mir ruhig die Schuld. Ist schon in Ordnung. Hab es sicher nicht besser verdient.“ Er ging zurück zum Baum, legte sich hin und drehte Dantra dabei den Rücken zu. Dass es eine Steigerung von Fassungslosigkeit gab, war Dantra nicht bekannt gewesen. Doch es musste sie geben, denn das hier war nicht möglich. Es ließ sich nicht mit dem, was er bis zum heutigen Tage gelernt, gelesen, ungesehen geglaubt, befürchtet oder gedacht hatte, vereinbaren. Eine Kreatur, die mehr als das Doppelte seiner eigenen Körpermaße besaß, deren Volk auf seine Gewissenlosigkeit und blutrünstige Gewalt stolz war und die er gerade unvermittelt angegriffen hatte, entschuldigte sich bei ihm für etwas, wofür sie eigentlich gar nichts konnte. Dantras schlechtes Gewissen war im Begriff, ihn zu erdrücken. Und auch wenn er nicht wissen konnte, ob ihn der Nalc vielleicht doch nur zum Narren hielt, beschloss er, die scheinbar albernen Gedanken an sein Ende im Suppentopf endgültig fallen zu lassen und seinem bisher durchweg freundlichen Gastgeber genauso respektvoll zu begegnen, wie er es selbst von diesem erfahren durfte.

Dantra suchte die weit verstreuten Sachen des Nalcs zusammen und richtete die Kochstelle wieder so her, wie sie vor seinem Ausbruch ausgesehen hatte. Danach entzündete er erneut das Feuer mithilfe der letzten noch verbliebenen Glut und setzte sich davor.

„Entschuldige“, sagte er reumütig zu dem immer noch abgewandt liegenden Nalc. Dieser jedoch reagierte nicht. „Ich habe deine Gastfreundschaft für unehrlich gehalten“, fuhr Dantra fort. „Ich dachte, es wäre nur eine List, um mich in Sicherheit zu wiegen. Dann habe ich wohl die Nerven verloren und überreagiert. Das ist eigentlich unverzeihlich, aber ...“

Er verlor sich in der Vergangenheit, und ohne es wirklich wahrzunehmen, erzählte er die ganze bittere Wahrheit. Von seinen von ihm viel zu überschätzten Fähigkeiten mit dem Schwert und von seiner Naivität, seine magische Kraft für unbesiegbar zu halten. Dass er sich hilflos und verloren fühlte, als man mit Pfeilen auf ihn schoss. Dass das Blut seiner Schwester an seinen Händen klebte, auch wenn es natürlich die Banditen waren, die ihren Tod letztendlich zu verantworten hatten. Und dass ihn dennoch im Nachhinein sein Gewissen plagte, wenn er an die vielen Leichen zurückdachte, die der Drachenangriff mit sich gebracht hatte. Von seiner Sorge, nicht nur ein dummer Mensch zu sein, sondern viel schlimmer noch, möglicherweise ein Herz in sich zu tragen, das von Boshaftigkeit getrieben wurde. Oder gar eine schwarze Seele zu besitzen so wie die von ihm gehassten Zerrocks.

„Willkommen in meiner Welt!“

Die dumpfen Worte ließen Dantra aufschrecken. Sein Blick war so in den vor ihm lodernden Flammen versunken gewesen wie seine Gedanken in der Erzählung. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sich der Nalc ebenfalls am Feuer niedergelassen hatte.

Und auch er schien mit halb gesenktem Kopf der Vergangenheit nachzuhängen. „Man sprach mir einst eine große Aufgabe zu“, berichtete er Dantra, wobei auch sein Blick am Feuer haftete. „Ein Dienst im Namen meines Volkes. Und trotz ihrer hohen Bedeutung war sie nicht einmal schwer zu erfüllen.“

Der Nalc verfiel in Schweigen, sodass Dantra vorsichtig nachhaken musste. „Was ist passiert?“ Der Riese hob seinen bulligen Kopf und Dantra sah in zwei dunkelbraune Augen, die nicht nur leicht rot und mit Wasser unterlaufen waren, sondern auch so viel Verzweiflung widerspiegelten wie die eines Verurteilten auf dem Scheiterhaufen, der die Fackeln anstarrte, die herangetragen wurden, um das trockene Holz unter seinen Füßen zu entzünden.

„Ich habe versagt!“ Den Blick nun komplett gesenkt, als wollte er die Tränen verbergen, berichtete er leise: „Ich habe die Aufgabe tadellos und mit voller Hingabe zwei Jahre, zehn Monate und sechs Tage erfüllt. Aber an jenem siebten Tag waren mir unsere Vorfahren nicht wohlgesinnt. Ich schaffte es nicht, ihn davon abzubringen. Ich war einfach machtlos. Ich habe versagt.“ Nach einer weiteren kurzen Pause sah er Dantra erneut an. „Aber weißt du, was das Schlimmste war?“ Dantra schüttelte stumm den Kopf. „Dass sie mich nicht bestraft haben.“

„Aber“, Dantra war etwas irritiert, „das ist doch gut, oder nicht?“

„Du hast mir gerade erzählt, dass du einen riesengroßen Fehler gemacht hast. Glaube mir, wenn dich jemand dafür bestrafte, würdest du dich besser fühlen. Du wüsstest zwar immer noch, dass dein Handeln verkehrt war, jedoch würde die Strafe die schwere Last, die auf deinen Schultern liegt, mindern. Buße hilft einem mehr als nur Reue. Mich aber haben sie lediglich fortgeschickt. Und das ohne irgendeinen abfälligen oder tadelnden Kommentar. Sie haben ihre verzweifelten Gesichter nicht einmal zu einer missbilligenden Miene verzogen. Und dabei habe ich sie angefleht, mich zu bestrafen. Mich einzusperren oder mir Schmerzen zuzufügen, wenn sie es als angemessen für mein Scheitern ansahen. Ich wusste, ich hatte es verdient. Aber sie wandten sich nur ab und überließen mich der Einsamkeit. Wo sollte ich denn nun hin? Zurück zu meiner Familie? Ich wäre vor Scham gestorben. Und wenn nicht, hätte mein Vater sicher nachgeholfen. Was im Nachhinein gesehen gar keine so schlechte Option gewesen wäre.“

Der Nalc schluckte, sammelte sich und fuhr fort: „Auch wenn meine Meinung über unsere Art zu leben mir häufig Ärger eingebracht hat und ich öfter wegen meiner Ablehnung der uralten Traditionen meines Volkes aneckte, so vermisse ich es dennoch. Die Sagen, die Feste, die Freundschaften. Hier, außerhalb meines Landes, ist man als Nalc auf ewig allein. Niemand will etwas mit einem zu tun haben. Ich bin seit langer Zeit unterwegs, aber du warst der Erste, der mich nicht mit Gemüse beworfen, sondern es mit mir zusammen gegessen hat. Und eines kann ich dir versichern: Das war mir viel unheimlicher als dir.“

Dantra überdachte das Gehörte. „Das ist also der Grund, warum du in der Stadt warst und dich an den Pranger stellen ließest“, schlussfolgerte er. „Du brauchst die Bestrafung, um deinen Fehler zu verarbeiten.“

„Eine wirklich tiefsinnige Verhaltenserklärung“, antwortete der Nalc nachdenklich. „Aber das ist nicht ganz richtig. Ich liebe es, Fleisch zu essen. Ob gekocht, gebraten oder geröstet. Aber das, was ein wirklich gutes Essen ausmacht, ist die Beilage. Und da ich keine Arbeit bekomme, um mir das nötige Geld für diese Gaumenfreuden zu verdienen, lasse ich sie mir eben schenken.“

Bei dem Wort schenken erhob der Nalc je zwei Finger seiner wuchtigen Hände und deutete damit Anführungsstriche an. Die Geste ließ Dantra ein verwundertes „Du kannst schreiben?“ ausstoßen, für das er sich sofort schämte. „Warum sollte er es nicht können?“, dachte er zerknirscht. „Kaum mache ich den Mund auf, schon beleidige ich ihn wieder.“

Aber noch bevor Dantra die Möglichkeit bekam, sich zu entschuldigen, antwortete der Nalc mit genauso verwunderter Stimme: „Du etwa auch?“ Dann grinste er breit und beide fingen laut an zu lachen.

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, stellte Dantra die wohl bis dahin intelligenteste Frage: „Wie heißt du eigentlich?“

„Comor Matal-Lis.“

„Ziemlich komplizierter Name“, musste Dantra feststellen. „Gibt es dafür auch eine Kurzform?“

„Für gewöhnlich rufen sich die Nalcs untereinander immer mit ihrem vollen Namen. Auf dem Schlachtfeld jedoch könnte es schon zu spät sein, wenn dich jemand vor einem Angreifer warnen will und er erst deinen ganzen Namen aussprechen muss. Daher gibt es in der Tat eine Kurzform. Die setzt sich aus einigen der Anfangsbuchstaben einer jeden Einzelbezeichnung zusammen. In meinem Fall sind es Co, Ma und L, also zusammengenommen Comal.“

„Ist es wohl in Ordnung, wenn ich dich Comal nenne, auch wenn wir uns nicht in einer Schlacht befinden?“

„Klar“, antwortete der Nalc. „Ich führe ohnehin an jedem Morgen eine Schlacht.“

„Gegen wen?“, fragte Dantra erstaunt.

„Gegen die Gleichgültigkeit. Soll ich aufstehen und leben oder bleib ich einfach liegen, bis mich der ewige Schlaf heimsucht?“ Dem Nalc fiel wohl auf, dass er mit dieser Aussage die bei Dantra gerade aufgeflammte gute Laune im Keim erstickte, denn er wechselte sofort das Thema, wobei er sich bemühte, möglichst ausgelassen und fröhlich zu klingen. „Sag mal, wie heißt du denn?“

„Dantra.“

„Dantra, aha. Ist ja ziemlich kurz. Hat es irgendeine Bedeutung?“

„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete dieser achselzuckend.

„Schade. Leichte Brise hätte gut gepasst“, sagte Comal und erneut trat ein breites Grinsen in sein Gesicht. Auch Dantra musste lachen, nachdem er begriffen hatte, dass der Nalc mit Leichte Brise die magische Kraft meinte, mit der er zuvor ungebeten Bekanntschaft gemacht hatte.

Sie redeten und scherzten die halbe Nacht lang. Und Dantra bedauerte es, als die Müdigkeit ihn besiegte und er seine Augen nicht mehr offen halten konnte. Kurz vor dem endgültigen Einschlafen wurde ihm noch der harte Kontrast klar: Der Tag hatte mit dem Tod begonnen, um nun mit dem Leben zu enden.

***

Es knackt. Es bricht. Endlich!

Endlich frei. Oder?

Egal. Strecken. Unbedingt strecken.

Was auch immer das ist, ich muss es tun.

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster

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