Читать книгу Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch - Страница 8

Kapitel 1

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Halb dunkel und erdrückend eng zog sich der Tunnel dahin. Nur kleine, sporadisch angebrachte Luftschächte ließen ein paar wenige Sonnenstrahlen in den staubigen Gang fallen. Das gebündelt eintretende Licht verdeutlichte das Herabrieseln loser Erde von der niedrig hängenden Stollendecke. Zu einer anderen Zeit wäre selbst hier unten die Luft klar und rein gewesen, doch irgendetwas ging dort oben vor sich. Irgendetwas Großes, Schweres brachte die Erde zum Erzittern. Dröhnen und Krachen vermischten sich mit einem bedrohlichen Brüllen. Je weiter man den Tunnel entlangging, desto lauter wurde es. Und je lauter es wurde, desto deutlicher bogen sich die in regelmäßigen Abständen angebrachten Stützbalken mit äußerst beunruhigenden Geräuschen von brechendem Holz durch. Was auch immer dort vor sich ging, man war gut beraten, sich fernzuhalten.

Doch der eigene Wille war ohne Bedeutung. Es ging weiter, immer weiter, immer näher an das Nerven zermürbende Szenario heran. Der Lärm wurde so durchdringend, dass es in den Ohren schmerzte. Doch nun hörte man noch etwas anderes. Erst bruchstückhaft und kaum wahrzunehmen, dann aber zunehmend klarer und deutlicher. Es war ein Mann.

Er schrie aus Leibeskräften. Er fluchte und drohte, er schimpfte und verhöhnte. Aber in einigen unregelmäßigen Abständen unterbrach er sein Geschrei und schwieg. Kurz darauf flammte das Getöse, das sich an der Oberfläche abspielte, unheilvoll auf. Das Gebrüll war eindeutig der Ausdruck unbändiger Wut, dem jedes Mal ein Fauchen folgte, ähnlich dem einer Katze, nur weitaus lauter und bedrohlicher. Anschließend quoll ein warmer, stickiger und nach Schwefel riechender Gestank den Stollen hinauf.

Da! Ein Huschen am Ende des Ganges. Der Mann, nun laut geifernd, lief den Querstollen entlang. In dem kurzen Moment seines Erscheinens ertönte ein Schrei, lauter und schriller als alles vorher Gehörte. Es war ein Name, das war sicher, doch lagen so viel Angst und Panik in der Stimme, dass er nicht deutlich zu verstehen war. Wieder brüllte irgendetwas an der Oberfläche auf, was nun schon so nah war, dass man die in der Luft liegende Schallvibration selbst hier unten spüren konnte. Doch dieses Mal war es nicht nur ein brüllender Aufschrei vor Wut, sondern ein durch Schmerzen verursachtes klagendes Jaulen.

Nur einen Augenblick später ertönte abermals das Angstschweiß verursachende Fauchen. Nun jedoch lauter und unheilvoller als die vorangegangenen Male. Fast im gleichen Moment entstand eine kochend heiße Druckwelle, die so stark war, dass sie einen nach hinten umwarf. Für einen kurzen Moment wurde es schwarz.

Als es wieder heller wurde, war der Blick gen Stollendecke gerichtet. Die Holzstützen waren von der unglaublichen Hitze angesengt. Dünner hellgräulicher Rauch stieg aus ihnen empor. Unter größter Anstrengung tastete sich der Blick an der Tunnelwand entlang zum nun nicht mehr weit entfernten Ende. Langsam legte sich der aufgewirbelte Sandstaub und gab die Sicht auf den Quergang wieder frei.

Es war unter- sowie oberhalb der Erde ruhig geworden. Nur langsame, schlurfende Schritte durchbrachen die Stille. Eine Gestalt, gebückt gehend und mit gesenktem Kopf, erschien am Stollenende. Sie drehte sich ins Blickfeld und sah hoch. Es war ein Mann. Zumindest das, was noch von ihm übrig war. Er trug eine Rüstung vor seinem Brustkorb, die bis zum Hosenansatz ging und in zwei schmalen Streifen über den Oberschenkeln endete. Sie war völlig verformt und zerkratzt. Seine Beine und Arme waren nur mit einer dicken Lederschicht überzogen, die nun an manchen Stellen durchgebrannt war, sodass blutige Flecken darunter zum Vorschein kamen. Seine Hände und sein Gesicht aber wiesen keinerlei Art von Schutz auf. Auch der kleine Helm auf seinem Kopf hatte keinen Gesichtsschutz. Und so hing die Haut an allen Stellen, die der erbarmungslosen Hitze frei ausgesetzt gewesen waren, in verkohlten schwarzen Fetzen herunter. Zum Teil waren die Wunden so tief, dass man die Knochen hätte sehen müssen, wären nicht auch sie mit schwarzem Ruß belegt. Vom kompletten verstümmelten und geschundenen Körper stiegen dunkle Rauchschwaden auf. Es war ein Anblick des Grauens.

Der Mann sank auf seine Knie und fiel vornüber auf den sandigen Boden. Bewegungslos blieb er liegen, während der erneut aufgewirbelte Staub ihn einhüllte. In diesem Moment zerriss ein Aufschrei die aufgekommene beängstigende Stille. Er war so grell, so laut und vor allem so hoch, dass er einem durch Mark und Bein fuhr.

***

Mit einem Ruck setzte sich Dantra auf. Sein Herz raste und sein Atem ging so schnell wie der eines Hundes, der in sengender Hitze seit Stunden seinem Herrn zu Pferd gefolgt war. In seinem Kopf drehte sich alles und seine Gedanken wirbelten durcheinander.

„Was ist passiert? Wo bin ich? Wer hat da so geschrien?“ Die erleichternde Erkenntnis „Nur ein Traum. Es war nur ein Traum.“ ließ ihn wieder ruhiger werden. Nach einem weiteren kurzen Moment des Orientierens fand er zurück in seine momentane Situation. „Ach ja, sie haben mich ja in dieses ekelhafte Loch gesperrt.“ Mürrisch legte er sich wieder zurück auf das recht spärlich vorhandene Stroh, das als Bettunterlage dienen sollte, und zog sich die kratzige Pferdedecke bis über die Ohren, in der Hoffnung, so der feuchten Kälte zu entkommen.

Die Tage waren schon der Jahreszeit entsprechend warm, doch kühlte es in den Nächten immer noch deutlich ab. Und da das einzige Fenster in Form eines Oberlichtes ohne Verglasung war und es keinerlei Heizmöglichkeiten gab, war Dantra der Kälte hier unten schutzlos ausgeliefert. So war es auch kein Wunder, dass die Decke, obwohl sie stank und ihn wie ein Nadelkissen am ganzen Körper stach, zumindest für diese eine Nacht sein bester Freund geworden war.

Allerdings war es auch nicht schwer, Dantras bester Freund zu werden. Nicht etwa, weil er leicht zu beeinflussen war und er jeden, der es hätte hören wollen, als besten Freund bezeichnet hätte. Ganz im Gegenteil. Er hatte einen ausgeprägten Dickkopf, der ihm schon oft Ärger eingebracht hatte. Eine eigene, nicht gerade positive Meinung über seine Mithäftlinge, wie er sie nannte, und den Mut, auch einmal gegen einen größeren und ihm offensichtlich überlegenen Gegner die Fäuste zu erheben. Allerdings waren dies leider nicht die Tugenden, die Freundschaften förderten. Dessen war sich Dantra wohl bewusst. Aber seine Zeit hier war begrenzt, und so wollte er sich nicht verbiegen lassen, weder für eine Freundschaft, die ohnehin nicht ehrlich gewesen wäre, noch für die Zuneigung der Schwester Oberin, auch wenn ihm dadurch das Leben hier drin erheblich erleichtert worden wäre.

Das Häufchen Stroh unter ihm war kaum in der Lage, Wärme zu speichern, geschweige denn die vom Steinfußboden aufsteigende Kälte abzuhalten. Und da die Chance, nach seinem aufwühlenden Traum nochmals einzuschlafen, äußerst gering war, setzte er sich wieder auf und wickelte seinen besten Freund fest um sich. Seine Erinnerungen an das im Schlaf Gesehene verblassten, als er an die Ereignisse vom Vortag dachte. Er hatte sich wieder einmal geprügelt und sollte zur Strafe, oder wie man hier sagte, um Buße zu tun, den Rest des Tages in seiner Kammer verbringen. Eine erzieherische Maßnahme, die er bereits gewohnt war und die er in keiner Weise als lästig empfand. Ganz im Gegenteil. So musste er die Anwesenheit seiner ungeliebten Mitschüler wenigstens nicht mehr ertragen. Aber dieses Mal war es anders. Er war wesentlich aufgebrachter als sonst, nachdem Schwester Arundel, eine verbitterte alte Frau, bei der man den Eindruck hatte, sie würde jeden Tag aufs Neue ihren Eintritt in den Orden bereuen, die Tür hinter ihm geschlossen hatte. In Gedanken vertieft, flüsterte er vor sich hin: „Der Rabe. Er muss es gewesen sein.“ Urplötzlich prallte etwas mit einem lauten Klacken keine Armlänge von seinem Kopf entfernt an die Wand. Er zuckte zusammen und hob reflexartig die Hand schützend vor sein Gesicht. Noch bevor er sah, was ihn fast getroffen hätte, schimpfte er los: „Verdammt!“, gefolgt von einem gen Himmel gerichteten „’tschuldigung“. Er hasste es, wenn ihn etwas erschreckte, aber deshalb in einem Gotteshaus zu fluchen, war natürlich auch nicht richtig. Diese Einsicht half ihm jedoch wenig, wenn sein Mund mal wieder schneller als sein Verstand war, was leider sehr oft vorkam. Daher versuchte er, durch sofortige Reue Schadensbegrenzung zu betreiben.

Dantra richtete sich auf, um zu betrachten, was seinen verbalen Ausrutscher verursacht hatte. Er war für sein Alter relativ groß. Bei der letzten jährlich durchgeführten Untersuchung des Hausarztes war er auf fast sechs Fuß gekommen. Er war schlank und ohne sichtbare Gebrechen. Kurz: ein ganz normaler Junge. Er ging zu einem taubeneigroßen Stein, der zwei Schritte vor ihm zum Liegen gekommen war. Als er ihn aufhob und ansah, verengten sich seine Augen und in Richtung Oberlicht brummelte er: „Biff, du Mistkerl, auch du wirst irgendwann dein Haupt vor mir senken.“

Biff war sein größter Widersacher, und es war nicht selten, dass sie beide aneinandergerieten. Dantra wusste, dass er heute Morgen mit Essensdienst dran war. Diese Aufgabe verlangte unter anderem, Eier aus dem Hühnerstall zu holen, der im Innenhof stand. Die Gelegenheit, von den Schwestern unbemerkt einen Stein durch das Oberlicht zu schießen, das zum Hof hin auf Bodenhöhe gemauert war, würde sich Biff nicht entgehen lassen. Dessen konnte sich Dantra sicher sein. Denn er hätte an seiner Stelle genauso gehandelt. Charakterlich waren sie sich eben sehr ähnlich. Aber dennoch - oder gerade deswegen - hegten sie eine große Abneigung gegeneinander.

Er spürte, wie der Zorn vom Vortag erneut in ihm aufflammte. Er schloss seine Hand um den Stein und holte aus. Mit voller Wucht warf er ihn in Richtung Oberlicht. Das Geschoss streifte dummerweise während seines Flugs die Kellerdecke und anstatt des Fensters traf es nun mit einem erneuten lauten Klacken die massive Kellerwand und wurde daraufhin zurückgeschleudert.

Dantra versuchte erneut, Deckung hinter seinem Arm zu finden. Nur war es dieses Mal vergebens. Der Stein traf ihn an der Stirn, direkt über seinem rechten Auge. Der sogleich einsetzende Schmerz ließ ihn jämmerlich aufschreien. Er fasste sich an die Stirn und schaute anschließend auf seine Hand. Blut war nicht zu sehen, aber er bemerkte recht schnell, dass die Wucht des Aufpralls trotzdem Wirkung zeigen würde. Erst war die Folge seiner Torheit rot, kurz darauf wechselte sie in ein auf seine Augen farblich abgestimmtes Blau. Und das Ganze wurde außerdem durch eine buckelförmige Beule abgerundet. Diese ließ sich, zu seinem großen Bedauern, auch nicht durch seine relativ langen, struppigen dunkelblonden Haare verdecken. Beinahe wäre ihm ein weiterer Fluch über die Lippen gekommen, hätte sich nicht in diesem Moment ein Schlüssel von außen im Schloss gedreht.

Die schwere Eichentür öffnete sich mit einem leisen Kratzen und das von Falten durchfurchte Gesicht von Schwester Arundel erschien. Grimmig und verächtlich sah sie ihn an. Wenn Dantra sich nicht täuschte, konnte er heute Morgen sogar eine Spur Ekel in ihrer Mimik lesen. Sie stand gut zwei Schritte von ihm entfernt, aber dennoch fiel ihr Blick sofort auf seine Stirn. Mit einer gewollt hörbaren Schadenfreude in der Stimme lästerte sie: „Na, haste dir den Kopf gestoßen? Bei manchen Menschen muss der Herr früh anfangen, sie für ihre Sünden zu bestrafen. Denn er weiß genau, dass diese verdorbenen Kreaturen es nicht einmal in der Ewigkeit, die zweifellos auf uns alle nach unserem Tod wartet, schaffen können, für ihre vielen Missetaten zu büßen. Und nun geh und hol dir Wasser aus der Zisterne.“

Mit gesenktem Blick ging Dantra an ihr vorbei und nahm ihr dabei wortlos den Krug aus der Hand, den sie ihm entgegenhielt. Er schlurfte den dunklen, leicht moderig riechenden Kellergang entlang bis in einen kleinen Raum, der sich nach einigen Schritten zu seiner Rechten öffnete. Aus der Wand, die der Tür gegenüberlag, ragte ein kurzes Tonrohr, aus dessen Ende in Hüfthöhe Wasser in einen ummauerten Behälter plätscherte. Die aufgestaute Flüssigkeit quoll auf der anderen Seite mittels eines Überlaufes wieder heraus und wurde auf diesem Wege zurück in die Wand geleitet. Es handelte sich um kaltes, sauberes Wasser aus dem Wieselbach. Dieser hatte seinen Ursprung in der Werre, einem Fluss, der sich durch den halben Culter von Umbrarus zog.

Schon vor geraumer Zeit hatte man dort einen künstlichen Bachlauf angelegt und so die Quelle des Wieselbachs, seinerzeit hieß er noch Eberbach, geschaffen. Damit konnte sichergestellt werden, dass die Orte hinter dem Kampen ausreichend mit Trinkwasser versorgt wurden. Der kleine Bach verließ das riesige Waldareal nahe dem Ort und zog sich dann einmal quer durch ihn durch. Die Erbauer des Klosters hatten die geniale Idee gehabt, einen Teil des Wassers vom Bach abzuzweigen und es über Tonrohre in die Kellergewölbe des Wohntraktes der Schwestern zu leiten. Über ein weiteres Rohr, das wesentlich länger war und ein ganzes Stück stromabwärts wieder auf den Bach traf, wurde das nicht benötigte Wasser zurückgeleitet. Somit war das Eberbachkloster das einzige Gebäude diesseits des großen Waldes, welches mit fließendem Wasser ausgestattet war. Und soweit Dantra wusste, war es sogar das einzige Gotteshaus in ganz Umbrarus, das mit so einem Luxus versehen war. Nachdem Dantra seinen Krug gefüllt hatte, ging er zurück zu seiner aufgezwungenen Nachtbehausung, wo Schwester Arundel im Türrahmen ungeduldig auf ihn wartete. Als er vor ihr stand, giftete sie erneut los: „Du bist ein Taugenichts, Dantra. Wenn es nach mir gegangen wäre, würdest du heute noch den ganzen Tag ohne Essen und ohne Unterricht in dieser dir gleichwertigen Kammer bleiben. Aber Schwester Oberin nimmt die meiner Meinung nach veraltete Regel, nach der man einem Schüler nicht mehr als eine Mahlzeit vorenthalten darf, viel zu genau. Die Tür jedoch, die du bei deinem kleinen Wutanfall gestern eingeschlagen hast, wird vorläufig nicht ersetzt.“

„Ich habe die Tür nicht einmal berührt.“

„Schweig, deine Lügen widern mich an. Geh und mach dich fürs Frühstück fertig, bevor ich der Versuchung, die Anordnung der Schwester Oberin zu ignorieren, nicht widerstehen kann und dich doch wieder hier einsperre.“ Ohne einen weiteren Versuch, sich zu verteidigen, stieg Dantra die steinerne Wendeltreppe hinauf, der man die bereits jahrzehntelange Benutzung an den tiefen Kuhlen in den Stufen ansehen konnte. Er ging den Flur entlang, bis er zu einer Kammer gelangte, deren eigentlich robust wirkende Tür in der Mitte fast auseinanderfiel. Nur die Tatsache, dass die beiden Hälften jeweils an einem völlig verbogenen Eisenscharnier hingen, verhinderte, dass sie endgültig zusammenbrach.

Der Anblick, der sich Dantra in seiner Stube bot, war niederschmetternd. Am Vortag ging alles so schnell, dass er das Ausmaß der Verwüstung gar nicht wahrgenommen hatte.

Er stellte den Krug mit dem Wasser auf die Fensterbank und machte sich frustriert daran, die durcheinanderliegenden Kleidungsstücke und Schulsachen zu sortieren. Der Großteil seiner Einrichtung war leider durch das, was sich auch immer hier drin abgespielt hatte, unbrauchbar geworden. Egal, ob es seine Holzpritsche war, die einst mit schweren Eisenketten und Scharnieren an der Wand befestigt gewesen war, sodass man sie hochklappen konnte, und die nun nur noch an einer Stelle in ihrer Vorrichtung hing. Oder sein Schreibtisch, der mit solch einer Wucht an die hintere Kammerwand geschleudert worden sein musste, dass man ihn als solchen nur noch erkannte, wenn man wusste, dass es einmal einer gewesen war. Auch seine Waschkommode, ein kleiner Holztisch mit einem Loch in der Mitte, in das eine emaillierte Schüssel einzuhängen war, glich dem Feuerholzhaufen im Speisesaal, allerdings eher demjenigen mit den besonders kleinen Stücken zum Feuerentzünden. Einzig die aus dickem Eichenholz gefertigte Wäschetruhe war unversehrt. Sie war lediglich aufgesprungen und hatte fast ihren gesamten Inhalt ungleichmäßig in der Kammer verteilt. Ansonsten waren von der Zerstörungswucht nur noch seine Waschschüssel und sein kleiner Dreibeinschemel verschont geblieben. Eine ernüchternde Bilanz.

Aber woher kam diese unglaubliche Kraft, die man brauchte, um so eine Verwüstung anzurichten? Er versuchte, die rasend schnell aufeinanderfolgenden Ereignisse vom Vortag zu rekonstruieren. „Ich hatte gerade wieder die Oberhand im Kampf gegen Biff gewonnen und ihm einen gut platzierten Hieb auf die Leber gegeben. Dann zog mich Schwester Arundel an meinem Ohr von ihm weg, während er mich noch einmal mit einem hinterlistigen Tritt am Oberschenkel traf. Sie brachte mich zu meiner Kammer und schimpfte dabei wie eine Elster, die ihre silberne Beute verteidigt.“ Dantra war schon fast mit seinen Gedanken beim eigentlichen Vorfall auf seiner Stube angelangt, doch die Erinnerung, was genau ihn so sehr zur Weißglut getrieben hatte, stoppte seine Überlegungen. Es war nicht etwa die übertriebene Lautstärke gewesen, in der die Schwester ihn belehrt hatte. Oder die Tatsache, dass sie ihm eine feurige Zukunft in der Hölle vorausgesagt hatte. Nein. Das Problem lag vielmehr darin, dass sie die handfeste Auseinandersetzung mit Biff, bei der ihr sehr wohl bewusst war, um was es ging, als absolut sinnlos bezeichnet hatte. Und ihm stattdessen zum wiederholten Male mit gehässiger Stimme ihre Sicht der Dinge dargelegt hatte. „Sie wird ohnehin bald brennen. Das ist ihr von Gott zugedachtes Schicksal. Und das wirst auch du nicht verhindern können. Selbst wenn du dich mit jedem einzelnen deiner Mitschüler prügelst.“

Wie sehr er das hasste, wenn man ihm das für sie wohl Unvermeidliche vor Augen hielt. Er hatte sich geschworen, sie vor allen Gefahren zu beschützen, egal, was er dafür tun musste. Es war seine Pflicht, aber auch sein eigener Wille, ihr Leben zu verteidigen, und koste es sein eigenes. Nur würde er anfangs nicht die Möglichkeit haben, sich um sie zu kümmern. Und das war auch das Einzige, vor dem er wirklich Angst hatte. Seine ungewisse Zukunft, die Probleme und Schwierigkeiten, die früher oder später auf ihn zukommen würden und ihn im schlimmsten Fall sogar in Gefahr bringen könnten, all das bereitete ihm bei Weitem nicht so viel Kummer wie der Gedanke, sie für 56 Tage allein lassen zu müssen. Das war seine Achillesferse, die offene Fleischwunde in seiner Seele. Die Angst in ihm, die sich Schwester Arundel zu eigen machte, um ihn zu quälen. Sie rührte darin herum wie ein Schlachter im Schweineblut, damit es nicht gerinnt.

Und dann war da noch der Rabe gewesen! Als er vor Zorn bebend in seine Kammer getreten war und Schwester Arundel die Tür hinter ihm unsanft ins Schloss geworfen hatte, war sein Blick auf ihn gefallen. Er hatte regungslos vor seinem geöffneten Fenster gesessen und zu ihm herübergeschaut. Dantra brachte des Öfteren Brotkrümel vom Frühstück mit, um sie auf seinem Fensterbrett für die Vögel zu verteilen. Dann beobachtete er mit Freude, dass es die kleinsten Vögel waren, die den größten Mut besaßen und sich trauten, die trockenen, aber dennoch begehrten Brotreste von dem Buchenholzbrett zu holen. Es waren daher meistens Spatzen oder in Ausnahmefällen einmal eine Drossel. Aber so ein großer Vogel wie ein Rabe war noch nie unter ihnen gewesen. Und gerade in dem Moment, als seine Gedanken um den Tod gekreist waren wie ein Bussard um seine erspähte Beute am Boden, hatte ein Rabe, den man im Volksglauben auch als Vorboten des Todes ansah, auf seinem Fensterbrett gesessen und ihn mit seinen pechschwarzen Augen angefunkelt. Was dann geschehen war, wusste er nicht mehr so genau. Die Wut in ihm, nun zusätzlich gemischt mit Panik, schien zu explodieren. Die Bilder vor seinen Augen hatten sich in einem schwammigen Grau verloren, als wäre in dem Bruchteil eines Flügelschlages ein dicker, undurchlässiger Nebel vor ihm aufgequollen und hätte ihm die Sicht genommen. In seinem Kopf hatte es wie wild gehämmert. Er hatte das Gefühl gehabt, als würde jemand versuchen, von innen seine Schädeldecke mit einer Spitzhacke zu öffnen. Sein ganzer Körper hatte gekribbelt. Der kleine Funken klaren Verstandes, der noch übrig gewesen war, hatte ihm befohlen, sich zu schütteln, damit was auch immer auf ihm herumkroch und dieses Kribbeln hervorrief von ihm abfalle. Doch noch bevor er die Anweisung ausgeführt hatte, war ihm komplett schwarz vor Augen geworden. Das Letzte, was er noch gespürt hatte, war ein ungeheurer Druck gewesen, der aus dem Innersten seines Körpers zu kommen schien, genau dort, wo seine Rippen am unteren Ende auseinandergingen, um sich schließlich aus jeder Pore seines Körpers zu entladen.

Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er am Boden gesessen, sich den immer noch dröhnenden Kopf gehalten und zu Schwester Arundel hinaufgesehen, die sich mit hochrotem Kopf vor ihm aufgebaut hatte. Sie hatte ihn an den Haaren auf die Beine gezogen und auch genau so hinter sich her. Die Augen gezwungenermaßen gen Boden gerichtet, hatte er es nur noch geschafft, einen kurzen Blick unter seinem Arm hindurch auf das hinter ihm liegende Chaos zu erhaschen. Danach hatte er Mühe gehabt, in dieser Haltung nicht die schmalen Stufen der Wendeltreppe hinunterzustolpern. Als sie ihn wieder losgelassen hatte und er sich aufrichten konnte, hatte er sich bereits in dem Kellerraum befunden, der nur für ganz besonders schwere Vergehen reserviert war. Selbst er hatte es zuvor noch nicht geschafft, in dieser kerkerähnlichen Kammer zu nächtigen. Doch was auch immer dort oben vor sich gegangen war, es hatte ihn so geschwächt, dass er sich gedankenlos auf dem mickerigen Häufchen Stroh niedergelassen hatte und sofort eingeschlafen war.

Das war es. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Warum seine Kammer aber nun aussah wie ein Schlachtfeld, war ihm immer noch ein Rätsel. Aber um nicht wieder Ärger zu bekommen, dieses Mal, weil er zu spät zum Frühstück erscheinen würde, beschloss er, seine Überlegungen auf später zu verschieben, und fing rasch an, sich zu waschen und saubere Kleidung anzuziehen.

Als er in den bereits von Schwestern und Schülern belagerten Speisesaal kam, verstummte das Sprachgewirr und es wurde peinlich still. Sämtliche Augenpaare ruhten auf ihm. In ihnen entdeckte Dantra die verschiedensten Empfindungen. Zum einen Angst vor dem Unerklärlichen und zum anderen Schadenfreude über seinen Wutausbruch, der ihm viel Ärger gebracht hatte und sicher auch noch bringen würde. Aber vor allem Missgunst, die ihm insbesondere von dem Tisch der Schwestern entgegenschlug. Sie waren auch die Ersten, die ihn nicht mehr beachteten. Dantras Blick schweifte über seine Mitschüler und blieb an Biff hängen. Er grinste über beide Backen, sodass sein Gesicht aussah wie ein Halbmond, der auf den Rücken gefallen war. Er starrte Dantra dabei aber nicht in die Augen, sondern auf seine Stirn, auf der sich die Beule inzwischen in ihrer ganzen Pracht darbot. Natürlich war Biff der Auffassung, Dantra hätte es ihm zu verdanken, dass er nun aussah, als hätte er mit einem Steinbock um die Gunst eines Weibchens gekämpft. Aber Dantra war das immer noch lieber, als wenn Biff wüsste, dass er sich bei dem Versuch, den Stein wieder zurück aus dem Fenster zu werfen, so dumm angestellt hatte, dass er sich die Verletzung selbst beigebracht hatte.

Dantra schenkte seinem Rivalen keine weitere Beachtung und drehte sich nach links, wo einige Schritte entfernt ein Durchbruch in der Wand war, der als Verbindung zwischen Speisesaal und Küche diente. Schwester Casale, eine etwas korpulentere, nicht allzu große, Anfang vierzigjährige Dame, die dem Titel Küchenbulle alle Ehre machte, war für gewöhnlich äußerst gut gelaunt und immer freundlich zu ihm. Aber als sie Dantra am heutigen Morgen von unten herauf ansah, verflog selbst ihr sonst anscheinend eingemeißeltes Lächeln. Sie klatschte ihm lieblos eine halbe Kelle Rührei auf den Teller und legte das knochenharte Ende eines Weißbrotes dazu. „Das dürfte wohl für dich ausreichen, groß und stark musst du ja nicht mehr werden, oder?“ Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Dantra beachtete sie jedoch nicht weiter, denn in diesem Moment erschien Tami in der Küche und schenkte ihm zur Begrüßung ein Lächeln. Egal, was er für sie durchmachen musste, dieses Lächeln war es, das ihn immer wieder dafür entschädigte. Sie hatte langes blondes, schon fast golden schimmerndes Haar. Ihre Augen waren so blau wie der Morgenhimmel über dem rauschenden Ozean, und wenn sie lächelte, bildeten sich kleine Grübchen unter ihren Augen, die einen dahinschmelzen ließen. Ihrer samtweichen Haut, ob in ihrem engelsähnlichen Gesicht oder an ihren zarten Händen, konnte scheinbar weder strenge Witterung noch harte Arbeit etwas anhaben. Sie war der Inbegriff von Schönheit. Sie war so schön, dass es einem Angst machen konnte. Und genau da lag das Problem. Dantra hatte sich auf einer der Holzbänke an dem ersten von zwei Jungentischen niedergelassen und dabei so viel Abstand wie möglich zu den anderen eingehalten. Dass seine Frühstücksportion etwas mager ausgefallen war, störte ihn wenig. Die offenen Fragen über die Ereignisse vom Vortag und die Sorge um Tami hatten ohnehin keinen Platz für Hunger in seinem Bauch gelassen. Außerdem plagte ihn ferner die bange Ungewissheit, was er noch an Bestrafung zu erwarten hatte. Denn es war doch sehr unwahrscheinlich, dass die Sache mit seinen Möbeln und der Tür mit einer Nacht in der Kellerkammer erledigt war.

Die Antwort sollte allerdings nicht lange auf sich warten lassen. Noch als er in seine Gedanken vertieft das Rührei mit der Gabel umgrub und mit der anderen Hand das Stück Brot knetete, während sein Daumen eine Kraterlandschaft darin baute, trat Schwester Arundel unbemerkt von hinten an ihn heran. Sie flüsterte ihm zwar nur leise ins Ohr, er erschrak aber trotz allem.

„Noch vor Unterrichtsbeginn findest du dich bei der Schwester Oberin ein.“ Zu ihrem Befehlston gesellten sich nun auch noch Empörung und Abscheu. „Und hör auf, mit den von Gott gegebenen Gaben zu spielen, du undankbarer Tunichtgut.“ Mit einem verächtlichen Blick ließ sie von ihm ab, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte aus dem Saal wie ein Feldherr, dem gerade die bedingungslose Kapitulation der feindlichen Truppen übermittelt worden war.

Dantra wandte sich wieder seinem Rühreihaufen zu und stocherte weiter darin herum. Er hatte zwar jetzt Gewissheit darüber, wann das Gewitter über ihn hereinbrechen würde, aber die immer noch offene Frage, ob sich ein Sturm oder gar ein Orkan dazu gesellte, verstärkte seine Appetitlosigkeit noch mehr.

Kurz darauf stand er nervös vor der Stubentür von Schwester Burgos, die aufgrund ihrer Führungsposition von allen nur Schwester Oberin genannt wurde. Nervös wippte er von einem Fuß auf den anderen. Er hatte bereits geklopft, aber der ranghöchsten Ordensschwester im Eberbachkloster bereitete es anscheinend Vergnügen, die Leute vor ihrer Tür warten zu lassen. Dantra kam es wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich das auffordernde „Herein!“ vernahm. Er drehte den Handknauf und drückte. Mit einem leisen Ächzen schob sich die Tür auf, in deren Inneren der ein oder andere Holzwurm ein Zuhause gefunden hatte. Schwester Burgos saß hinter einem großen dunkelbraunen Schreibtisch, der nach vorne hin mit einer Holzplatte verkleidet war, auf der wiederum ein schneeweißes Kreuz aus Elfenbein jeden Blick auf sich zog. Es lagen einige Pergamentrollen ausgebreitet vor ihr auf dem Tisch, die an den Enden mit den verschiedensten Gegenständen beschwert waren, damit sie sich nicht wieder einrollen konnten. Die noch tief stehende Morgensonne schien durch das mattglasige Fenster, das sich hinter ihr befand, und ließ sie so noch erhabener, aber zugleich auch bedrohlicher wirken.

„Komm näher und setz dich.“ Ohne aufzusehen, deutete sie auf einen einfachen Holzstuhl, der schräg vor ihrem Arbeitstisch stand. Ihre Stimme klang ruhig und wies keinen Hauch von Verärgerung auf. Dantra wusste nicht, ob ihn das beruhigen sollte oder es eher ein Anlass zur Sorge war. Nachdem er sich gesetzt hatte und noch einige Augenblicke quälender Stille vergangen waren, sah sie endlich zu ihm auf. „So, Junge, und nun sag, was hast du getan?“ Ihre Stimme war immer noch ausgeglichen und emotionslos.

Dantras Gedanken jedoch überschlugen sich fast bei dem Versuch, die richtige Antwort zu finden. „Wie meint sie das?“, dachte er. „Jeder weiß doch, dass meine Kammer einem Trümmerhaufen gleicht und jeder meint auch zu wissen, dass ich dafür verantwortlich bin. Und da ist sie wohl keine Ausnahme, sonst hätte ich die Nacht nicht im Keller verbracht. Also, was will sie von mir hören?“ Mit leicht zittriger Stimme erwiderte er schließlich: „Meine Stube ist etwas ramponiert.“

„Ich weiß, was mit deiner Stube ist.“ Dantra hatte das Gefühl, dass sie nun doch etwas missmutig klang. „Ich will, dass du mir sagst, was du getan hast.“

Wieder rasten seine Gedanken. „Was ich getan habe ... was ich getan habe ... Ich weiß doch selbst nicht, was passiert ist.“ Er merkte, wie ihr Blick ihn durchbohrte, als wollte sie sich die passende Antwort selbst in seinem Kopf suchen. Seine Hände wurden schwitzig und sein Pulsschlag beschleunigte sich kontinuierlich. Ihr zu sagen, dass er nicht wüsste, was passiert sei, war sinnlos, dessen war er sich sicher. Zugeben, dass er selbst seine Möbel und die Tür zertrümmert hatte, konnte und wollte er aber auch nicht. „Da saß ein Rabe an meinem Fenster und ...“

„Wag es nicht, mich zum Narren zu halten!“ Die Schwester Oberin war mit einem Satz aufgesprungen, wobei sie sich mit beiden Händen von ihrem Tisch abstieß und dabei ein Tintenfass umwarf. Es diente wohl als Gewicht für eine Pergamentrolle und war daher auch verschlossen, allerdings rollte es über die Tischkante und verlor sich im freien Fall, noch bevor sie reagieren konnte. Dantra konnte nicht sehen, ob es beim Aufprall zerbrach. Jedoch ließ das deutlich zu hörende Klirren darauf schließen. Und nachdem Schwester Burgos mit ihrem Blick der Flugbahn des Aushilfsgewichts gefolgt war, verfinsterte sich ihre ohnehin schon düstere Miene noch einmal merklich. Sie hielt ihren Kopf weiterhin gesenkt, ihre Augen fixierten jedoch schon wieder Dantra.

Nachdem sie ihn beim Aufspringen angeschrien hatte, sprach sie nun zwar wieder leiser, jedoch mit einem extrem gereizten Unterton. „Ich will nicht dein Wort anzweifeln, dass ein Rabe zugegen war, jedoch ist es inakzeptabel, dass du die Schuld für dieses Dilemma auf einen Vogel abschiebst. Ich frage dich also nun zum letzten Mal: Was hast du getan?“

Schwester Burgos war eine groß gewachsene Frau mit einem langen aschgrauen Gesicht, das mit sehr feinen Falten überzogen war. Und obwohl sie ein Kreuz um den Hals trug, das nun, da sie sich so weit über den Tisch lehnte, in der Luft hin und her schaukelte, kam es Dantra vor, als würde ein Dämon von oben herab auf ihn niederschauen, kurz bevor er ihm die Seele aus dem Leib riss.

„Ich ... ich hatte für einen Moment die Kontrolle über mich verloren“, stammelte er. „Ich ... ich weiß nicht genau, alles wurde schwarz, und als ich wieder zu mir kam, war alles verwüstet.“ Er fuchtelte beim Reden wild mit den Armen, um so seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Ich befürchte, ich war für einen kurzen Moment nicht Herr meiner Sinne und habe dabei unbewusst und natürlich auch unbeabsichtigt meine Stubenmöbel zerstört.“

Er glaubte selbst nicht an das, was er da sagte. War er doch nicht einmal annähernd stark genug, um einen, wenn auch schon recht alten Waschtisch so zu zerkleinern, dass man ihn als solchen nicht mehr erkennen konnte, geschweige denn die aus Massivholz gefertigte Tür in zwei Teile zu zerlegen. Gefasst auf einen erneuten Wutausbruch, nahm er den Blick von der Schwester Oberin und senkte demütig den Kopf. Ein leises Knarren ließ ihn jedoch erneut aufschauen. Zu seiner Erleichterung hatte sie sich wieder in ihrem Stuhl niedergelassen. In ihrem starren Blick, der an ihm vorbei in den leeren Raum fiel, meinte Dantra zu erkennen, dass sie sich seine Antwort noch einmal durch den Kopf gehen ließ. „Wahrscheinlich sucht sie nach der härtesten Bestrafung, die die strengen Regeln der Schülerleitfibel für solche Fälle vorsehen“, dachte er.

Ihre Augen wanderten zurück zu Dantra und nach einer weiteren kurzen Phase des Schweigens sagte sie schließlich mit besorgter Miene: „Es sind noch 58 Tage, bis du dieses Haus auf ewig verlassen darfst. Du wirst bis dahin weder zur Feldarbeit gehen, noch in deiner Freizeit das Gebäude verlassen.“

„Aber Tami, sie verlässt uns schon übermorgen und ich ...“ Mit einer energischen Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen.

„Ich weiß, was du sagen willst, aber glaube mir, es ist das Beste für dich. Im Übrigen hast du genug damit zu tun, dir beziehungsweise deinem Nachfolger neue Möbel anzufertigen und die Tür zu reparieren. Ich habe bereits den Zimmermann verständigen lassen. Er wird heute Nachmittag kommen und dir Material sowie Werkzeug bringen. Und nun geh.“ Dantra war sich im Klaren darüber, dass jeder weitere Versuch, gegen ihre Entscheidung zu protestieren, vergebens wäre. Im Nachhinein wunderte er sich sowieso, dass sie so verhalten reagiert hatte, als er ihr ins Wort gefallen war. „Und Dantra“, fügte Schwester Burgos noch hinzu, als er sich bereits in Richtung Tür bewegte, „rede so wenig wie möglich über diesen Vorfall.“ Geknickt und mit den Nerven am Ende verließ er die Leitungsstube und schleppte sich zum Klassenzimmer, wo der Unterricht bereits begonnen hatte.

Die nächsten beiden Tage zogen an ihm vorüber, als steckte er nicht in seinem Körper. Seine Gedanken drehten sich nur noch um die eine Frage: Wie sollte er sie beschützen, wenn er nicht einmal das Haus verlassen durfte?

Als er am Tag von Tamis 19. Geburtstag aufwachte, hatte er die Antwort darauf noch immer nicht gefunden. Am liebsten wäre er für immer auf seiner frisch reparierten Pritsche liegen geblieben. Sein Magen rebellierte vor Nervosität und seine Augen brannten vor Müdigkeit, da noch nicht viel Zeit vergangen war, seit der Schlaf seinem Grübeln ein Ende bereitet hatte. Er verspürte das erste Mal seit vielen Jahren das Bedürfnis zu weinen. Vom Gedanken des Abschieds niedergeschlagen, warf er widerwillig seine Nachtdecke zurück, die er sich bis über beide Ohren gezogen hatte, und blinzelte nun in das helle durchs Fenster scheinende Morgenlicht. Um sich an dieses zu gewöhnen, brauchte er meistens etwas länger. Jedoch nicht an diesem Tag. Denn schon nach dem zweiten Blinzeln bemerkte er, dass irgendetwas Großes, Schwarzes vor seinem Fenster saß. Blitzartig richtete er sich auf.

„Das gibt es doch nicht.“ Dantra traute seinen Augen kaum. Vor seinem verschlossenen Kammerfenster saß ein pechschwarzer Rabe, der nun, da Dantra ihn gesehen hatte, mit seinem Schnabel gegen die Scheibe klopfte. Natürlich war es für Dantra unmöglich zu sagen, ob es derselbe Rabe war, den er kurz vor dem für ihn immer noch unerklärlichen Gewaltakt auf seine Einrichtung gesehen hatte. Doch die Wut, die er seinerzeit empfunden hatte, kehrte umgehend zurück. Denn es war gleich, ob es derselbe oder ein anderer war - Rabe blieb Rabe. Damit saß innerhalb kürzester Zeit wieder ein Vorbote des Todes auf seinem Fensterbrett. Und dies gerade an dem Tag, an dem Tami das Klosterwaisenhaus, in dem sie beide lebten, seit Dantra denken konnte, verlassen musste. Gerade in dem Moment, als seine Stimmung den absoluten Tiefpunkt erreicht hatte, war dieses Vorzeichen zum wiederholten Male erschienen und sah ihm erneut direkt in die Augen.

Die abstruse Möglichkeit, dass ein gewöhnlicher Rabe etwas mit seiner zerstörten Stube zu tun hatte, und die Befürchtung, dass er zurückgekehrt war, um nun ihm Schaden zuzufügen, verwarf Dantra schnell. Bebend vor Zorn sprang er auf und eilte zum Fenster. Dabei schimpfte er lauthals los und fuchtelte zusätzlich mit seinen Armen, als kämpfte er bereits mit dem Tier. Der Rabe jedoch zeigte sich von seinem Wutausbruch unbeeindruckt. Er tickte mit seinem Schnabel unbekümmert weiter gegen die Scheibe, als säße Dantra noch immer schweigend auf seiner Pritsche. Irritiert von diesem für einen Vogel ungewöhnlichen Verhalten, hielt er vor ihm inne und sah ihn zweifelnd an. Obwohl sein Puls raste, blieb sein Verstand klar. Und so bemerkte er schnell, dass der Rabe mit beiden Krallen ein zusammengerolltes Stück Pergament hielt, das durch den festen Druck beinahe zerquetscht wurde.

Zögerlich hob Dantra seine Hand und entriegelte das Fenster. Als er es einen Spalt geöffnet hatte, hüpfte der Rabe von der Pergamentrolle herunter. Bevor das Tier sich wegdrehte, hatte es den Anschein, als neige es sein schwarz gefiedertes Haupt, dann flog es zielstrebig davon. Dantra sah dem Raben nach, bis dieser hinter den benachbarten Häusern verschwunden war. Nun fiel sein Blick wieder auf die Pergamentrolle. Er nahm sie vorsichtig zwischen zwei Fingern hoch. Sie war mit einem Symbol versiegelt, das Dantra nicht kannte. Es schien, als wäre ein E mit einem C zusammengedreht worden. Ganz langsam knickte er das Siegel, bis es brach, und entrollte das Schriftstück. Im Nachhinein war er sich nicht mehr ganz sicher, was er erwartet hatte, denn er öffnete das Pergament mit weit über die Brüstung hinausgestreckten Armen. Fakt war aber, dass nur einige Zeilen darauf geschrieben standen. Also verriegelte er das Fenster und setzte sich wieder auf die Pritschenkante. Er rollte die Botschaft erneut aus und las die mit schwarzer Tinte geschriebenen Sätze.

Ich kenne deine Sorgen und kann sie gut verstehen. Ich kann dir zwar nicht schreiben, wer ich bin, hoffe aber, dass du meine guten Absichten erkennst und richtig handelst. Sag deiner Schwester, sie soll sofort und ohne Umwege zum Waldrand kommen, wo der Wieselbach aufs freie Gelände fließt. Vernichte dieses Schreiben und rede, Tami ausgenommen, mit niemandem darüber!!!

Als Abschluss hatte der anonyme Schreiber erneut ein großes E mit einem verschnörkelten C darunter geschrieben. Die Nachricht war in einer weißen, dickflüssigen Farbe und in breiter Schrift verfasst. Dantra starrte hoffnungslos verwirrt auf das Stück Pergament. Er wurde das beklemmende Gefühl nicht los, er schliefe noch und wäre dabei in einen tiefen Traum gefallen, der ihm so realistisch vorkam, dass es ihn schauderte. Er legte das Schriftstück zur Seite, stand auf und ging nochmals zum Fenster. Nachdem er es geöffnet hatte, beugte er sich weit hinaus und nahm einen tiefen Atemzug frischer Luft. Dann drehte er seinen Kopf und sah in die morgendlichen Sonnenstrahlen, die die kleine Gasse, an der sein Fenster lag, mit Licht fluteten und die ihn so stark blendeten, dass er seine Augen zukneifen musste. Nun schaute er zurück zu der geheimnisvollen Botschaft auf seiner Pritsche. „Sie ist noch da. Also ist es kein Traum?“ Diese Feststellung beruhigte ihn zwar nicht gerade, aber ein Funken Hoffnung, was die Zukunft seiner Schwester betraf, keimte in ihm auf.

Er nahm das Pergament wieder in die Hände und las es sich erneut durch. „Wer weiß von meinem Problem? Wer weiß, dass ich Angst um Tami habe? Eigentlich doch nur die Schwester Oberin. Aber ... nein!“ Der Gedanke war viel zu abwegig. Sie lebte streng nach den Regeln des Klosters und vor allem nach denen der Drachen. Diese besagten ganz klar, dass das Dressieren von Tieren jeder Art für Normalsterbliche streng verboten war. Nur mit einer schriftlichen Erlaubnis des führenden Dullpins des Ortes war man berechtigt, einen Wachhund abzurichten. Aber alles, was darüber hinausging, zog eine harte Bestrafung nach sich. Außerdem konnte sich Dantra nicht vorstellen, dass Schwester Burgos, die für ihre Ungeduld allseits bekannt war, so gute Nerven besaß, dass sie einen so langen Lernprozess, wie er zweifelsohne erforderlich war, wenn man einen Raben zähmen wollte, durchhalten würde.

Es konnte niemand aus dem Kloster sein, so viel war sicher. Aber wer dann? In den Geschichten von Schwester Cesena hatte er oft gehört, dass es Hexen seien, die mit Vorliebe Raben als Boten in die Außenwelt schickten. Doch die Vorurteile gegenüber Frauen, die man aus unterschiedlichsten Gründen als Hexen bezeichnete, waren Dantra zuwider. Und das nicht ohne Grund. Er selbst hatte noch nie eine Frau gesehen, der man eindeutig nachweisen konnte, eine Hexe zu sein. Und er kannte auch niemanden, der etwas anderes zu erzählen vermochte. Daher hatte er große Zweifel, ob diese überhaupt existierten. Aber vor allem war es die eine bestimmte Sorge, die ihn schon sein halbes Leben beschäftigte und die ihn nur bei dem Gedanken an Hexen bereits verzweifeln ließ. Denn die Angst betraf seine Schwester. Die Gefahr, dass sie der Hexerei beschuldigt werden würde, war immens. Und das nur, weil sie außergewöhnlich schön war. Aus dem Unterricht über gottlose Kreaturen wusste Dantra, was mit Menschen geschehen konnte, wenn sie außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen, wozu leider auch besagte übermäßige Schönheit zählte. Und die Tatsache, dass Tami stumm war, machte die Lage für sie nicht besser. Ganz im Gegenteil. Jegliche Anormalität wurde einem als belastender Hinweis auf Hexerei ausgelegt. Käme es also tatsächlich zu einer Verurteilung, würde ihr junges Leben ein qualvolles Ende auf dem Scheiterhaufen finden. Die Furcht vor dem, was Tami an Leid erfahren konnte, wenn sie das Kloster verließ, war nicht übertrieben. Die Ordensschwestern selbst hatten diese Angst vor einigen Jahren geschürt und durch ihr Handeln noch untermauert.

Es war ihr Schicksalsgeburtstag, an dem sich das Verhalten der Schwestern gegenüber Tami grundlegend verändert hatte. Denn sie hatte die Frage verneint, und so waren sich die Schwestern einig gewesen, dass sie sie zukünftig nur mit einer ausnahmslosen Abschirmung von der Außenwelt bis zu ihrem Übergang in das selbstständige Leben beschützen konnten. Aus diesem Grund untersagten sie ihr jegliches Verlassen des Klostergeländes. Der betitelte Geburtstag war der vierzehnte gewesen, an dem jedes Mädchen, das im Klosterheim wohnte, eine Entscheidung fürs Leben treffen musste. Wenn sie sich entschlossen, dem Orden beizutreten, wurde ihnen eine Nonnentracht übergezogen und sie durften von dem Tage an am Unterricht teilnehmen, den die Jungs bereits mit sieben Jahren erhielten. Zog es sie aber eher zu einem bürgerlichen Leben, so bekamen sie die Ausbildung, die die meisten Mädchen erhielten, die bei ihren Familien lebten. Putzen, Wäsche waschen, kochen und die, wie man ihnen sagte, hohe Kunst, ein Feld richtig zu bestellen.

Die Fähigkeit des Schreibens, Lesens und des Rechnens war dem männlichen Geschlecht vorbehalten. Sie waren es, die die Geschäfte tätigten, Handel betrieben und die Bedürfnisse des Ortes und der Gemeinde gegenüber dem zuständigen Dullpin, dem Ordnungshüter der Drachen, vertraten. Es war vorherbestimmt, dass die Jungs bereits mit siebzehn das Kloster verließen, die Mädchen hingegen erst mit neunzehn. Die geltende Begründung war der Schutz vor den sündigen Verführungen, die überall lauerten und denen Frauen in jungen Jahren eher verfielen. Dantra hatte jedoch bereits früh erkannt, dass die Mädchen nur so lange wie möglich ans Kloster gebunden werden sollten, weil sie überaus günstige Arbeitskräfte waren, auf die man in diesen schweren Zeiten nicht verzichten wollte und konnte.

„Also“, Dantra hielt das Pergament immer noch in der Hand und ging nun unruhig in seiner Kammer auf und ab, „dass mir gerade eine Hexe schreibt und mir helfen will, ist doch sehr weit hergeholt. Wer auch immer der Absender dieser Botschaft ist, die Gewissheit, dass ich ihm vertrauen kann, habe ich nur, wenn ich ihn vorher persönlich treffe. Aber wie? Ich darf das Gebäude ja nicht verlassen.“

Er raufte sich vor Ratlosigkeit die Haare. Was sollte er tun? Sollte er seine Schwester zu einem völlig Fremden schicken. Zu jemandem, den er noch nie gesehen hatte? Dessen Charakter er nicht kannte und dessen Absichten ihm völlig rätselhaft waren? Obgleich ihre Überlebenschancen sehr gering waren, bis er wieder die Möglichkeit hatte, auf sie zu achten, wusste Dantra trotz allem nicht, ob das der richtige Weg war. „Ich muss das Risiko eingehen. Alleine kommt sie auf keinen Fall zurecht. Und wenn derjenige mich kennt, so wie es ja den Anschein macht, dann weiß er, dass er ihr lieber nichts antun sollte.“

Der Versuch, sich selbst Mut zu machen und diese schwierige Entscheidung zu treffen, hatte nur kurzzeitig Erfolg. Gerade einmal so lange, bis er sich von Tami verabschiedet und ihr den genauen Ort erklärt hatte, wo sie sich unverzüglich einfinden sollte. Denn schon kurz nachdem die Hofpforte hinter ihr geschlossen wurde, kamen ihm erste Zweifel. Der Tod unter den wüsten Beschimpfungen der Dorfbewohner auf dem brennenden Scheiterhaufen konnte human sein, verglichen mit dem, was der mysteriöse Fremde mit ihr machen konnte. Und egal, wie groß Dantras Zorn gegenüber dem Peiniger seiner Schwester wäre, und auch wenn diese unbändige Wut nicht gekannte Kräfte in ihm wecken würde, war er ihm vielleicht dennoch hoffnungslos unterlegen. Dann könnte er zwar um seiner Ehre willen durch den übermächtigen Feind in den Tod gehen, Tami jedoch würde es auch nichts mehr nützen.

Die folgenden Tage und Wochen kamen Dantra vor, als würden sie sich im Kreis drehen und niemals ein Ende finden. Er lief wie in Trance durch sein Alltagsleben. Im Unterricht glänzte er durch Unaufmerksamkeit, sodass er nicht selten von Schwester Melk zurechtgewiesen wurde. In den Pausen bemerkte er nicht einmal die hämischen Bemerkungen von Biff. Und in seiner Freizeit verharrte er schweigend und in Gedanken vertieft auf seiner Stube. Mehrmals täglich sah er auf sein Fensterbrett. Aber weder ein Rabe noch eine abgelegte Papyrusrolle war dort zu sehen. Nichts, was darauf hindeutete, dass es Tami gut ging. In einem leichtsinnigen Moment hatte er den Entschluss gefasst, sich unerlaubt vom Klostergelände zu entfernen, um nach ihr zu suchen. Er verwarf jedoch den Gedanken, noch bevor er sich von seiner Pritsche erhoben hatte. Würden sie ihn erwischen, so wäre die Schwester Oberin gezwungen, ihn nach seinem offiziellen Übergang in das selbstständige Leben an den Dorfdullpin zu überstellen. Dabei würde er nur noch weitere wertvolle Zeit verlieren. Denn die Vorschriften des Klosterheimes waren auf die Gesetze der Drachen abgestimmt. Bei gewissen Verfehlungen war es daher auch der lange Arm des Drachengesetzes, der die dafür festgelegte Bestrafung einforderte. Somit blieb ihm nur eines, was er tun konnte: warten.

Nach dem geltenden Drachenkalender war ein Jahr in vier Viertel eingeteilt. Ein jedes hatte einundneunzig Tage. Wenn die ersten Blätter fielen und die Kürbisernte anstand, begann das Imberviertel. Gefolgt, zusammen mit dem ersten Schnee, vom Frigusviertel. Dem schloss sich das Viertel Floridus an, das Umbrarus die Farbenpracht wieder zurückgab. Der momentan herrschende Jahresabschnitt hieß Calor. Es war die wärmste Zeit und für viele auch die schönste.

Der 57. Tag dieses Viertels war angebrochen, und es war Dantras siebzehnter Geburtstag. Der Tag, dem er so sehnlich entgegengefiebert hatte. Der Tag, an dem er endlich diese erdrückenden Mauern, die zumeist engstirnigen Schwestern und vor allem Mitschüler wie Biff für immer hinter sich lassen würde. Aber vor allem war es der Tag, an dem er die Gewissheit darüber erlangte, wie es Tami ging. Ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sie zu dem unbekannten Verfasser der mysteriösen Botschaft zu schicken. Denn seine schlimmsten Befürchtungen wurden noch dadurch bestärkt, dass er selbst an seinem Entlassungstag keine Pergamentrolle bekommen hatte, auf der ihm beschrieben wurde, wo er sich einzufinden hatte oder wo er seine Schwester finden konnte.

Nervös und ungeduldig, wie er an diesen Morgen war, lief er die steinerne Wendeltreppe viel zu schnell hinunter, sodass er die letzten zwei Stufen ungewollt mit einem Schritt nahm, sein Gleichgewicht verlor und unsanft auf dem harten Boden aufschlug. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen, allerdings bemerkte er, dass ihm sofort die Schamröte ins Gesicht stieg. Denn man konnte vom Essenssaal den Treppenansatz sehr gut einsehen. Allerdings blieb das schadenfrohe Gelächter seiner Mitschüler wider Erwarten aus. Während er sich aufraffte, bemerkte er, dass noch niemand von den anderen da war. Seitdem er im Eberbachkloster lebte, hatte er es noch nie geschafft, der Erste beim Frühstück zu sein. Nur Schwester Casale, vom Geräusch des Aufpralls angelockt, schob ihr rundes Gesicht hinterm Rahmen der Küchentür hervor. Ihr verwunderter Ausdruck, weil sie ihn um diese Zeit schon hier unten sah, wich ziemlich schnell einem, der so viel bedeutete wie „Typisch Dantra“. Denn gerade in letzter Zeit waren ihm Missgeschicke wie dieses öfter passiert.

Nach dem Frühstück, das er mehr verschlungen als gegessen hatte, stand er, wie er es schon so oft bei älteren Schülern gesehen hatte, mit seinen paar Habseligkeiten in ein Jutetuch gewickelt vor der Leitungsstube der Schwester Oberin. Eingestellt auf die obligatorische Pause zwischen seinem Klopfen und dem auffordernden „Herein!“, zuckte er erschrocken zusammen, als sich der Knauf, den er bereits in der Hand hielt, drehte und die Tür mit Schwung aufgezogen wurde. Schwester Burgos stand ihm zunächst wortlos gegenüber und sah ihn ohne jegliche Regung an.

„Guten Morgen, Dantra. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und Gottes Segen“, sagte sie schließlich trocken. „Wie kann ich dir helfen?“

„Äh ... ich ... äh ...“ Verblüfft und fragend starrte er sie an. „Sie hat nicht vergessen, dass ich Geburtstag habe“, dachte er, „sonst hätte sie mir ja nicht gratuliert. Also muss sie doch genau wissen, was ich von ihr will.“ Völlig irritiert startete er einen zweiten Versuch, sein Anliegen vorzubringen. „Also, ich habe doch Geburtstag und ich ... äh ... also heute ...“

„Ja, ja“, unterbrach sie ihn grinsend, „ist schon gut. War doch nur ein Scherz. Natürlich weiß ich, was du willst.“

Dantra konnte es nicht glauben. Er kannte diese Frau bereits sein Leben lang, und sie war der einzige Mensch, mit Ausnahme von Schwester Arundel, den er noch nie hatte lachen sehen, geschweige denn einen Scherz machen. Und gerade heute, an seinem letzten Tag, gerade da hielt sie ihn zum Narren. Seine Fassungslosigkeit wuchs noch weiter, als Schwester Burgos fortfuhr. „Du kannst uns noch nicht verlassen. Zumindest nicht heute Morgen. Pater William, der natürlich an deiner Verabschiedung teilnehmen möchte, ist zu einem Sterbenden gerufen worden, um ihm die letzte Beichte abzunehmen. Also bring deine Sachen zurück in deine Kammer und begib dich in den Unterrichtsraum.“

Sie drehte sich um und war bereits im Begriff zu gehen, als Dantra den Mund öffnete und ein entrüstetes „Aber ...“ hervorbrachte. Sie wirbelte herum und musterte ihn gleichermaßen empört wie erstaunt. Für gewöhnlich war eine Unterhaltung beendet, wenn sie sich abwandte. Daher war sie es nicht gewohnt, wenn ihr jemand das Fortführen eines Gespräches aufzwang, welches sie als abgeschlossen betrachtete.

Von ihrem nun habichtähnlich aussehenden Gesichtsausdruck eingeschüchtert, beruhigte sich Dantras Stimme umgehend. „Die Beichte?“, fragte er vorsichtig. „Die dauert doch sicher nicht lang, oder?“ Sie zog ihren Mund spitz nach vorn und sah ihn überlegend an. Dantra war sich schnell sicher, dass er anstatt einer Antwort nur eine lautstarke Rüge erhalten würde und die Aufforderung, sich in Geduld zu üben. Doch ihr Gesicht entkrampfte sich wieder.

„Ich kenne nicht den Umfang dessen, was die betreffende Person zu beichten hat, aber ich gehe davon aus, dass es nicht lange dauert“, erklärte sie ihm schließlich. „Jedoch nimmt es zu viel Zeit in Anspruch, um währenddessen tatenlos im Gang herumzustehen. Also glaube mir, wenn ich dir sage, dass wir dich nicht länger warten lassen als unbedingt nötig, und nun tu, was ich dir aufgetragen habe.“ Bevor sie sich erneut von ihm abwandte, sah sie ihm nochmals tief in die Augen. Dantra war natürlich sofort klar, was ihm das sagen sollte. Sie würde auf keinen Fall einen weiteren Versuch, Antworten von ihr zu bekommen, dulden. Geknickt brachte er wie angeordnet seine Sachen zurück in seine Kammer und ging in den bereits begonnenen Unterricht. Die anderen musterten ihn fragend. Schwester Melk jedoch ließ nicht zu, dass irgendeine Art von Unruhe aufkam, was Dantra nur recht war. Denn wenn er in diesem niederschmetternden Moment zu etwas keine Lust hatte, dann war es, Erklärungen abzugeben.

Der Tag zog sich schleichend dahin. Er musste zwar nach der Schule keinerlei Arbeit mehr verrichten, das Warten jedoch wurde so nur noch unerträglicher. Es war bereits später Nachmittag, als es plötzlich an seiner wiederhergestellten Kammertür klopfte und sich im selben Moment der Türknauf drehte. Schwester Arundel sah kurz herein und murmelte etwas, das Dantra als „Komm runter!“ deutete. Er schnappte sich seine Sachen und eilte ihr nach.

Im Speisesaal standen die Schwestern wie an einer Schnur aufgezogen nebeneinander. Doch Pater William war nicht zu entdecken. Nach einem kurzen, unsicheren Zögern schritt Dantra auf Schwester Burgos zu und fragte sie leise, so als wollte er, dass die anderen es nicht mitbekämen, wo er sei.

„Es dauert doch länger als erwartet“, antwortete sie ihm, allerdings nicht mit gedämpfter Stimme. „Wie sich herausstellte, hatte der Sterbende sein Schicksal mit einem langsam wirkenden Gift selbst gewählt. Doch da er bis vor Kurzem noch regelmäßig unsere Messe besucht hat, ist Pater William bemüht, ihm als letzte Ruhestätte einen Platz auf dem Friedhof zu besorgen. Da das allerdings im Falle eines freiwilligen Ablebens nicht gern gesehen wird, nimmt dieser Fall nun leider mehr Zeit in Anspruch als gehofft. Und damit du noch ausreichend Gelegenheit hast, dir vor der Dunkelheit ein Nachtquartier zu suchen, habe ich beschlossen, dass wir nicht länger warten.“

Dantra begann, die ihm entgegengestreckten Hände von links nach rechts zu schütteln und die manchmal nicht ehrlich klingenden Segenswünsche für seine Zukunft entgegenzunehmen. Er bedauerte, dass der Platz an dem Pater William für gewöhnlich bei Verabschiedungen stand, leer blieb. Der Priester war wohl der Einzige, den Dantra vermissen würde. Pater William hatte nie ein böses Wort an ihn gerichtet. Ganz im Gegenteil. Wenn sie sich irgendwo zufällig begegnet waren, hatte er ihn immer mit einem freundlichen Lächeln gegrüßt. Während Dantra noch überlegte, ob er auf ihn warten sollte, schob ihn Schwester Burgos bereits mit einem sanften Druck auf die Schulter in Richtung Ausgang.

Als sich die Klosterpforte geschlossen hatte und er sich draußen auf der Straße befand, verblassten seine Überlegungen. Es war höchste Zeit, Tami zu suchen. Mit schnellen Schritten machte er sich auf den Weg zum Waldrand, wo sich der Wieselbach aufs offene Gelände schlängelte. Es war der einzige Anhaltspunkt, den er hatte. Als er das Dorf hinter sich ließ und der schier endlos aussehende Wald vor ihm lag, begann er, mit seinen Augen dessen Rand abzusuchen. Die bereits einsetzende Dämmerung war nicht gerade hilfreich, wenn es darum ging, irgendjemanden oder irgendetwas dort zu erkennen. Und auch als er die besagte Stelle erreichte, wo der ruhig dahinplätschernde Bach die letzten Baumreihen passierte, war nichts und niemand zu sehen. Seine Nervosität wuchs und seine Sorge um Tami ließ ihn ziellos am Waldrand auf und ab laufen. Nach einer Weile bemerkte er die Sinnlosigkeit seines Handelns und nahm erschöpft und den Verzweiflungstränen nahe auf einem Baumstumpf Platz. Er stützte seine Ellenbogen auf die Knie und ließ seinen Kopf hängen.

Da er den Brief, so wie es der anonyme Schreiber von ihm verlangt hatte, im Feuer vernichtet hatte, versuchte er sich nun, so gut es ging, an dessen Inhalt zu erinnern. Vielleicht hatte er etwas übersehen oder etwas Wichtiges vergessen, was ihm nun weiterhelfen konnte. Sein Kummer und seine angestrengten Überlegungen brachten ihm anstatt einer Lösung nur Kopfschmerzen. Resigniert sah er auf den kleinen Ort nieder. Er hatte keine Ahnung, wie es nun mit ihm weitergehen sollte, aber in einer Sache war er sich sicher: Mit diesem Dorf hatte er abgeschlossen. Erst dieses und seine Bewohner hatten ihn doch in diese Situation gebracht. Sie waren schuld daran, dass er Tami wegschicken musste. Sie waren es, die seine Schwester nie akzeptiert hätten.

Die dicht zusammenstehenden Häuser, die erdrückende Stimmung, die von ihren rückständig denkenden Bewohnern ausging, war ein größeres, aber dennoch haargenaues Abbild des Klosters. Neben seiner Schwester gab es nur einen weiteren Menschen, der seine Gedanken wie auch sich selbst nicht freiwillig gefangen hielt. Und genau diesen, so dachte Dantra, sähe er gerade unten auf dem Hauptzufahrtsweg, dort, wo er sich von einer engen Gasse zu einer breiten Landstraße mauserte. Er versuchte, seinen Augen noch etwas mehr Schärfe abzugewinnen, doch das schwindende Licht verhinderte ein eindeutiges Erkennen. Wer das dort unten auch war, er schien nach jemandem Ausschau zu halten. Er lief hin und her, als sei er sich nicht sicher, ob er im Dorf weitersuchen oder doch lieber die Straße in Richtung Wald ablaufen sollte.

Plötzlich konnte Dantra die Kleidung des Mannes ausmachen und dies ließ seine Zweifel versiegen. Er trug eindeutig eine Mönchskutte. Dantra stand auf und war schon im Begriff, laut rufend hinunterzulaufen, als eine alte, kratzende Stimme ihn erschrocken herumfahren ließ.

„Lass uns gehen, es ist schon viel zu spät!“ Hinter ihm stand eine alte, leicht buckelige und mürrisch aussehende Frau. Sie hatte unzählige tiefe Falten in ihrem blassen Gesicht, von denen nur die riesige Hakennase ablenkte. Die beiden ihn ungeduldig betrachtenden Augen besaßen denselben Schwarzton wie die des Raben auf ihrer Schulter. „Nun mach schon“, trieb sie ihn erneut an, „wir müssen uns beeilen.“

Dantra sah sie entsetzt an. „Ihr, Ihr seid eine Hexe!“

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster

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