Читать книгу Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch - Страница 28

Kapitel 11

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„Jetzt gehen aber die Pferde mit ihr durch. Die spinnt doch wohl.“ Dantra hatte zwar kaum genug Luft, um das vorgegebene Tempo von Akinna mitzuhalten, dennoch murmelte er fortwährend an sie gerichtete Beschimpfungen und antreibende Worte zu sich selbst. Seit sich die Sonne auf den Weg vom Mittag zum Abend gemacht hatte, verhärtete sich bei ihm der Verdacht, dass eine Pause in Akinnas Tagesplan nicht vorgesehen war. Dantra brannten die Beine und sein Rücken lieferte ihm schon einmal einen Vorgeschmack darauf, wie es sich anfühlte, wenn er durchbrechen würde. Um überhaupt noch einen Fuß vor den anderen zu bekommen, hatte er sich in Comals Windschatten begeben.

Die Landschaft um sie herum war vom Kargen ins Trostlose übergegangen. Die Ebenen waren nun noch flacher und absolut baumlos. Selbst die Büsche und die Heide waren nun von schienbeinhohem Gras abgelöst worden, das dann und wann im leichten Wind raschelte. Es lag ein milchiger Nebelschleier über dem Boden, der sie umschloss und so weit in die Steppe hineinreichte, dass ein Ende nicht zu erkennen war.

Dantra wollte gerade zwei Schritte zur Seite machen, um an Comal vorbei das vor ihnen liegende Gelände zu begutachten, als dieser so plötzlich stoppte, dass Dantra auf einen der beiden Seesäcke auflief und mit seiner Lippe gegen eine dort drin befindliche Topfkante stieß. Während er von innen mit der Zunge über die schmerzende Stelle fuhr und sofort den Geschmack von frischem Blut schmeckte, schien Comal gar nichts von dem Auflaufunfall bemerkt zu haben. Er stand einfach nur regungslos da. Dantra vollendete daher sein Vorhaben und ging an ihm vorbei.

„Was ist? Warum bist du plötzlich stehen geblieben?“ Dantra sah zu seinem Freund auf beziehungsweise in ihn hinein. Denn aus dieser Perspektive sahen seine ohnehin schon großen Nasenlöcher einfach nur gigantisch aus. Zwei dunkle Tiefen, in denen die schwarzen, borstigen Haare aussahen wie zahllose Schwerter in einem Schlachtgetümmel.

„Weil sie stehen geblieben ist“, brummte er, als würde Gefahr lauern.

Dantra folgte mit seinem Blick dem Wegverlauf. Gute 100 Schritte vor ihnen stand Akinna ebenfalls regungslos da. „Meinst du, sie hat irgendetwas gesehen oder gehört?“, fragte Dantra.

„Ich weiß nicht. Aber sie ist den ganzen Tag noch nicht stehen geblieben. Ist schon verdächtig, oder?“

„Du hast recht“, pflichtete Dantra ihm bei und spähte in die Ferne. „Irgendetwas ist hier faul.“ Er sah nach vorn, zu den Seiten und schließlich dorthin, von wo sie gekommen waren. Doch er konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. „Was machen wir jetzt?“, fragte er leise. Comal zuckte nur mit den Schultern.

„Was ist los, Comal?“ Akinna hatte sich zu ihnen umgedreht und rief so laut, dass Dantra und Comal vor Schreck zusammenzuckten. In der Stille, die nicht einmal von einem Vogel gestört wurde, hatten beide angespannt mit einem Angriff welcher Art auch immer gerechnet. Aber offensichtlich drohte keine Gefahr. Stattdessen machte Akinna ihrem Unmut Luft: „Schafft Dantra es nicht mehr bis hierher oder winselt er wieder rum, weil er Hunger hat?“

„Wieso tut sie das?“ Dantra sah Comal fragend und verärgert an. „Ich wollte doch nicht einmal stehen bleiben. Aber sie glaubt natürlich sofort wieder, dass es an mir liegt. Und außerdem winsele ich nicht. Wenn überhaupt, dann merke ich hier und da einmal an, wenn etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Das hat doch nichts mit Winseln zu tun, oder?“

Comal zuckte abermals mit den Schultern und meinte, während er bereits weiterging: „Vielleicht will sie dich damit nur antreiben. Sie befürchtet möglicherweise, dass wir unser Ziel sonst heute nicht mehr erreichen.“ Anstatt einer Antwort knurrte Dantra nur in sich hinein.

Als sie zur wartenden Elbin aufgeschlossen hatten, bemerkte Dantra, dass sie an einer Weggabelung gehalten hatte. Der schmale Trampelpfad, dem sie bereits den ganzen Tag gefolgt waren, traf hier auf einen wesentlich größeren und befestigten Weg. Nur einige Schritte weiter mündete dieser in einen Holzsteg, der sich im Zickzackkurs durchs brache Land schlängelte, bis sein Ende im Nebel verschwand. Als sie die ersten Bretter betraten, fiel Dantra auf, dass einige der Holzbohlen schon sehr alt sein mussten. Sie waren morsch und Moos hatte sich an ihren Rändern und in den Zwischenräumen festgesetzt. Andere Planken hingegen sahen besser aus. Alt, aber noch stabil und ohne Bewuchs. Wieder andere waren wie neu. Kein Zweifel, der hölzerne Weg war schon viele Jahre alt, wurde aber immer noch instand gehalten. Und das, obwohl man von hier aus keinen Grund erkennen konnte, warum man überhaupt einen Fuß darauf setzen sollte.

„Seht ihr dort hinten die dunklen Wolken?“ Akinna deutete in Richtung Fons.

„Sieht nach einem Gewitter aus“, stellte Dantra fest.

„Aber ich denke, es dauert noch etwas, bis es hier ist“, fügte Comal hinzu.

„Richtig“, bestätigte Akinna. „Jedoch wird die Dämmerung dadurch früher eintreffen. Und das wiederum bedeutet, dass wir den Rest des Weges im Laufschritt hinter uns bringen müssen.“

Für einen Moment wurde Dantra schwach. Er wollte ihnen gerade erklären, dass sie ohne ihn weitermussten, da er für sich keine Chance sah, nach dem bisherigen Gewaltmarsch nun auch noch zu rennen. Sein Körper, seine Lunge und vor allem sein innerer Schweinehund drängten ihn förmlich dazu, klein beizugeben. Doch als die anderen beiden ihn erwartungsvoll ansahen, allerdings beide nicht mit einem Blick, der seine geplante Reaktion erwartete, sondern eher Mut machend mit einem Ausdruck, der ihm sagte: „Du schaffst das, du musst es schaffen“, zögerte er. Er sah Akinna in die Augen, dann Comal. Schließlich nickte er. „Ich weiß zwar nicht, wie, aber irgendwie muss es ja gehen.“ Es hörte sich zwar in keiner Weise optimistisch an, schien Akinna aber zu reichen. Sie setzte den Marsch fort. Allerdings in gleicher Geschwindigkeit wie bisher.

„Ich will euch erst noch etwas über diese Gegend und über unser Nachtquartier erzählen“, erläuterte sie ihnen. „Wenn wir erst da sind, müssen wir sicher sofort nach drinnen verschwinden und dann ist es unangebracht, über den Hausherrn und seine Gepflogenheiten zu reden. Also, das hier ist das Moor Braunenbruch. Hört sich erst mal ziemlich unspektakulär an. Jedoch gibt es viele Geschichten und Mythen, die diesen zugegebenermaßen weitläufigen Ort umgeben. Ich jedoch gebe nicht viel auf dieses Gerede. Das Problem ist der Nebel. Er ist immer, zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter, da. Es gibt dafür keinen plausiblen Grund. Und wie immer, wenn Menschen etwas nicht mit Logik erklären können, hat das Phänomen übernatürliche Wurzeln. Und für die meisten Leute bedeutet Übernatürlichkeit gleich böse Mächte. Aber wie dem auch sei, mir ist noch nie etwas aufgefallen, was mich beunruhigt hätte. Also verschwendet daran keine Gedanken. Weshalb ich das trotzdem erzählt habe, hängt mit unserer Nachtunterkunft zusammen. Vor ungefähr 250 Jahren wurde das Land von König Egief dem Zweiten regiert. Er wurde vom Volk hinter vorgehaltener Hand als der reichste König aller Zeiten betitelt. Aber nicht wegen seiner großen Macht, des Geldes und der Ländereien. Nein. Der Titel bezog sich auf seine Angst. Seinerzeit sagten die Menschen von Umbrarus, dass sie mutiger seien, als die Nalcs und die Elben zusammen, denn ihr König habe so viel Angst, dass sie für alle seine Untertanen ausreiche. Eine Schmach, die seine Majestät, als sie davon erfuhr, natürlich nicht auf sich beruhen lassen konnte. Also beschloss der Herrscher, in einem Teil seines Reiches, vor dem bekanntlich ein jeder Angst oder zumindest eine gehörige Portion Respekt hatte, eine Burg zu bauen.“

„Er baute sie hier in diese Sumpflandschaft?“, warf Dantra ungläubig ein und blickte dabei verständnislos in die Trostlosigkeit, die ihn umgab.

„Genau das tat er. Man mag es nicht glauben, aber es gibt tatsächlich einen trockenen Flecken Erde in diesem Sumpf. Und so wurde getan, was befohlen wurde. Die Bauzeit betrug stolze zwölf Jahre. Was zum größten Teil daran lag, dass der König unentwegt die Baupläne änderte. Doch am Tag der Einweihung geschah etwas, das das Vorhaben des Königs, hin und wieder auf der Burg zu residieren, unwiderruflich zunichtemachte. Aber dazu komme ich gleich. Er nannte die Burg Sternberg. Wenn schon kein Berg da war, auf dem er sie errichten konnte, so sollte doch wenigstens einer im Namen vorkommen. Der Stern rührt daher, dass er seine Frau Gemahlin immer mit mein liebster Stern angesprochen hat. Und um sie wegen der schwindelerregenden Kosten, die der Burgbau verschlungen hatte, milde zu stimmen, beschenkte er sie mit der Ehre, in gewisser Weise die Namensgeberin des Gebäudes zu sein. Er ließ in das Fenster des großen Saals einen weißen Stern einarbeiten. Da es ein sehr großes Fenster war, hatte der Stern den Durchmesser eines kleinen Hauses. Er wirkte gigantisch. Allerdings entsprach er nicht ganz den Vorstellungen des Königs. Seiner Meinung nach sah er aus wie eine Sonne und nicht wie ein Stern. Und so kam es, dass der Handwerker, der das Fester gebaut hatte, gerade einmal einen Krato als Bezahlung bekam. Was ihn natürlich nicht für seine Mühe entschädigen sollte, sondern vielmehr ein Zeichen des Spotts war. Als dann der König mit seinem gesamten Hofstaat am besagten Einweihungstag das Burgtor durchschritt, verfärbte sich der Stern von oben nach unten, von schneeweiß zu pechschwarz. Zur gleichen Zeit zog ein Gewitter von selten da gewesener Stärke über die Burg. Ein jeder der Anwesenden sah sich dem sicheren Tod gegenüber. Panisch verließen sie die Burg und keiner von ihnen kam je zurück. Jahre später, nach dem Tod des Königs, erschien ein junger Mann am Hofe der Witwe und erwarb von ihr die Burg für einen obligatorischen Krato. Im Volk sagt man noch heute, dass er der Sohn des Handwerkers wäre, der seinerzeit das Fenster gebaut hatte. Und das wiederum warf den Verdacht auf, dass dieser besagte Handwerker etwas mit den seltsamen Vorgängen zu tun hatte.“

„Und? Wurde er zur Rede gestellt?“, fragte Dantra gespannt nach.

„Nein. Niemand, der wirklich Interesse daran hatte, die Sache zu untersuchen, war mutig genug, um zu dem Ort des Geschehens zurückzukehren. Aber genau dort lebte nun einmal der junge Mann. Und selbst wenn er von Zeit zu Zeit in die nächste Stadt ging, um Vorräte zu kaufen, hatte niemand den Mumm, ihn darauf anzusprechen. Immerhin lebte er in einem verfluchten Moor auf einer gespenstischen Burg. Daher wurden auch ihm selbst oft dunkle Mächte angeheftet.“ Für einen Moment waren alle in ihre Gedanken vertieft. Nur das Knarren der Bohlen unter ihren Füßen war zu hören.

„Und glaubst du, es ist etwas an der Sache dran?“, brummte Comal schließlich.

„An der Sache mit den dunklen Mächten? Nein. Ganz sicher nicht. Ob der Vater des jungen Mannes der Handwerker war und etwas mit dem Schwarzwerden des Sterns zu tun hatte? Beide Male: ja. Ich habe mir das Fenster etwas genauer angesehen. Der Stern war aus einem Doppelglas gefertigt. Und in ihn wurde von oben schwarze Tinte eingelassen. Dem Handwerker waren die Launen des Königs bekannt gewesen. Und so hatte er wohl für den Fall, der dann ja auch eintrat, vorgesorgt. Das Gewitter war einfach nur eine glückliche Laune des Schicksals. Es hat dem genialen Plan noch die Krone aufgesetzt.“

Akinna schwieg, als wollte sie das Gesagte bei ihren Zuhörern erst einmal sacken lassen. Nach einiger Zeit fuhr sie fort. „Unser Gastgeber für heute Nacht ist der Enkel des besagten Handwerkers in der achten Generation. Er lebt nun seinerseits mit seinem Sohn auf der Burg. Der Kleine, er müsste jetzt dreizehn sein, ist sein Ein und Alles. Also versucht gar nicht erst, ihn bei seinem Vater schlechtzumachen. Für ihn ist er ein Engel.“

„Warum sollten wir das auch tun?“, wunderte sich Dantra.

„Weil der Engel Hörner auf dem Kopf trägt. Das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen“, verdeutlichte sie ihre Aussage. „Aber er hat es faustdick hinter den Ohren und kann einen bis aufs Blut reizen. Dabei verhält er sich so geschickt, dass sein Vater davon nichts mitbekommt. Also lasst euch einen gut gemeinten Rat geben und ignoriert seine Sticheleien, auch wenn es schwerfällt. Ach, und noch etwas. Lauft nicht alleine durch die Burg. Sie ist sehr weitläufig. Man kann sich dort schnell verirren. Und öffnet auf keinen Fall Türen, von denen ihr nicht wisst, was dahinter ist. Das gilt insbesondere für dich.“ Sie sah Dantra mahnend an.

„Wieso insbesondere für mich?“

„Weil du ein Händchen dafür hast, etwas zu machen, was man tunlichst nicht machen sollte. Deswegen!“ Dantra war klar, dass beide, Akinna und Comal, annahmen, dass er versuchen würde, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen. Doch dieser war nicht völlig von der Hand zu weisen. Und als Akinna klar wurde, dass er zu dem Thema schweigen würde, fuhr sie fort. „Unser Freund heißt Callidus Cerdo. Aber er, so wie auch schon seine Vorfahren, wird von den Leuten nur der Baron genannt. Er besitzt zwar diesen Adelstitel nicht, jedoch das Anwesen eines solchen. Also, wenn ihr ihn ansprecht, sagt einfach nur Baron. Nicht etwa Herr Baron oder Ähnliches. So spricht man Adelsleute an. Und von denen will er sich verständlicherweise distanzieren. Sein Sohn heißt Malus. Bis zu dem Tag, an dem er das Zepter seines Vaters übernimmt, wird er mit diesem Namen angesprochen. So, damit wäre eigentlich alles gesagt.“ Sie legte eine kurze Denkpause ein. „Was vielleicht noch erwähnenswert ist, sind die Geräusche in der Nacht.“

„Was für Geräusche?“ Dantra sah sie skeptisch an.

„Das hat mit den besagten geschlossenen Türen zu tun. Der Baron hat eine Schwäche für magische Geschöpfe und fast ausgestorbene Kreaturen. Und da er seine Leidenschaft zum Beruf gemacht hat, beherbergt er eine größere Anzahl von Gästen der nicht alltäglichen Art.“

„Aber die sind doch sicher gut weggesperrt, oder nicht?“

„Nein Dantra, sind sie nicht. Deswegen auch meine mahnenden Worte. Sie sind miteinander und natürlich mit dem Baron vertraut. Sie würden sich gegenseitig nie etwas antun. Schon weil jeder von ihnen weiß, dass er damit sein unbeschränktes Bleiberecht auf der Burg unwiderruflich verlieren würde. Aber wenn jemand Fremdes kommt, jemand, den sie nicht kennen, von dem sie also auch nicht wissen, ob er ihnen auf irgendeine Weise Leid zufügen will, könnten sie durchaus gefährlich werden.“ Akinna verlieh ihren warnenden Worten den passenden Blick. „Aber wie gesagt, wenn ihr keine Türen öffnet und somit auch nicht in den ihnen zugesprochenen Bereich eindringt, kann euch auch nichts passieren.“

„Wie meinst du das, er hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht?“, fragte Comal nach.

„Nun, wenn jemand oder etwas auftaucht, was nicht in das Schema Mensch passt, und wenn der oder das auch keine Anstalten macht, die Flucht zu ergreifen, nur weil man mit Mistforken und brennenden Fackeln vor ihm rumfuchtelt, dann ruft man nach dem Baron.“

„Eine mitunter ziemlich gefährliche Leidenschaft, nicht?“, merkte Dantra an.

„Für jemand Ungeübten oder mit einem überheblichen Charakter kann es in der Tat eine kurzlebige Art sein, Geld zu verdienen. Aber mit dem gebührenden Respekt, einem immer wachsamen Auge und vor allem mit einer guten Lösung für das Problem ist es eine Arbeit wie jede andere.“

„Mit guter Lösung meinst du sicher, dass er ihnen einen sicheren Unterschlupf bei sich auf der Burg gewährt?“, wollte Dantra wissen.

„Ganz genau.“

Ein leises Donnern erklang in der Ferne. Akinna schaute prüfend zu den sich quirlig fortbewegenden Wolken. „Genug geredet“, stellte sie fest, „wir sollten uns nun wirklich beeilen.“ Ihr schneller Schritt ging nun ins Laufen über. Dantra, der während Akinnas Vortrag seinen körperlichen Zustand weitestgehend vergessen hatte, wurde nun, als er es ihr gleichtat, schmerzlich daran erinnert.

Das leise Knarren der Bohlen unter ihren Füßen ging nun in ein lautes Knacken und Poltern über. Nicht selten gab unter der Last von Comal eines der älteren Bretter nach und brach durch. Nur die Größe seiner Füße verhinderte, dass er stolperte oder gar ins Moor abrutschte, denn ihre Länge überspannte zwei komplette Bohlen, was dem Nalc einen permanent guten Halt gab.

Doch zum Leidwesen von Dantra konnte er sich nun nicht mehr in Comals Windschatten aufhalten. Wenn er in eines der aufgebrochenen Löcher getreten wäre, hätten sie nicht nur wertvolle Zeit verloren, er hätte sich auch schmerzhafte Verletzungen zuziehen können. Und es reichte ihm schon völlig, dass jeder einzelne Atemzug in seiner Lunge einen Flächenbrand entfachte und seine Schienbeine schmerzten, als hätte sie jemand mit einem Schmiedehammer bearbeitet. Es waren Qualen, die er bis zu diesem Tag nicht gekannt hatte. Das Seitenstechen jedoch übertraf alles. Trotz der vielen Gefahren, denen er sich in den letzten Tagen gegenübersah, war er bisher von einer Schwertverletzung verschont geblieben. Doch das Leid, das solch eine offene, blutende Wunde verursachte, musste er gerade durchleben, denn die Stiche, die seinen Bauch drangsalierten, standen jener Verletzung in nichts nach.

Er krümmte sich im Laufen vor Schmerzen. Es war eine Höllenpein, die die Grenzen seiner körperlichen Fähigkeiten schon lange hinter sich gelassen hatte. Unter anderen Umständen wäre er längst stehen geblieben und hätte jeden weiteren Schritt vehement verweigert. Doch nicht nur, dass Akinna ihn bereits an seiner Jacke hinter sich herzog, auch Comal half ihm, nicht aufzugeben, indem er ihm seine große Pranke sanft, aber bestimmt ins Kreuz drückte und ihn so vorwärtsschob. Aber der größte Ansporn war natürlich die Verantwortung, die ein jeder in ihrer Gruppe für den anderen hatte. Würde er stehen bleiben, aufgeben und damit ihr sicheres Ziel unerreichbar werden lassen, setzte er das Leben seiner Gefährten aufs Spiel. Nein, solange seine Beine noch die an sie gestellte Aufgabe erledigten, so lange musste sein Kopf die Schmerzen sammeln, prüfen und in diesem Moment allesamt als unwichtig zur Seite schieben.

Der Holzsteg endete. Das Gepolter ihrer Schritte verstummte. Der Boden war nun weich und stumm. Dantra schaute hoch. Zwischendurch hatte er immer wieder bereits einige Kraftreserven aufgebracht, um nach vorn zu sehen. Da war die Burg noch ein dunkler, aber schon markanter Punkt in der Ferne gewesen. Nun erkannte er ein imposantes und mindestens genauso wuchtiges, erdrückendes Bauwerk. Sie liefen auf ein hölzernes Tor zu, das den Vergleich mit dem Stadttor von Blommer nicht scheuen müsste. Den hohen Burgmauern war eine Art Wassergraben vorgelagert. Nur dass es kein Wasser gab. Stattdessen - wie sollte es hier auch anders sein? - Sumpf.

Es ertönte erneut lautes Gepolter, als sie die Zugbrücke überquerten. Dantra konnte noch einen kurzen Blick in den Innenhof werfen, in dem er einen Brunnen erkannte, der aus weißem Marmor gefertigt schien, bevor er von Akinna seitlich durch eine Tür gezogen wurde. Es musste niemand etwas sagen. Dantras Unterbewusstsein erkannte sofort, dass er sich nun in Sicherheit befand, und gab unmittelbar darauf zwei Kommandos ab, deren Umsetzung sogleich eintrat. Seine Beine stellten abrupt den Dienst ein, sodass er erst auf die Knie und dann auf die Seite fiel. Und sein Magen entleerte das wenige, was in ihm war, mit bitter schmeckender Magensäure angereichert. Kurz fühlte er sich in der Zeit zurückversetzt, als er inmitten des Drachenangriffs in seinem vermeintlichen Grab lag und seinen Mund eigentlich zum Atmen brauchte, der jedoch mit Erbrechen schon völlig ausgelastet war. Während er wieder einmal nach Luft schnappte, knallte es dreimal. Die Tür hinter ihnen fiel zu. Das Burgtor wurde geschlossen und die Zugbrücke war unter dem Rasseln sich aufrollender Ketten mit besagtem drittem Knall hochgezogen und eingerastet. Der Boden, auf dem Dantra lag und den er gerade mit seinem übel riechenden Inneren beschmutzt hatte, war aus großen, glatten Natursteinplatten gefertigt. Das Beste an ihnen jedoch war die Kälte. Als Dantras Magen sich beruhigt hatte, legte er seine heiße Wange auf den kühlenden Stein. Sein Kopf und auch der Rest seines Körpers schienen sämtliche Wärme von sich stoßen zu wollen. Er schwitzte aus jeder erdenklichen Pore. Es dauerte einige Zeit, bis er in der Lage war, sich auf sein Umfeld zu konzentrieren. Dabei wunderte er sich, dass ihn nicht schon längst irgendjemand auf die Beine gezogen hatte und ihn brüllend weiterscheuchte.

Er drehte sich auf den Bauch und war gerade im Begriff, sich hochzustemmen, als er vor sich zwei Hufe bemerkte. Wohlgemerkt zwei, nicht vier. Und was an sie anschloss, waren auch keine behaarten, sondern glatte feuerrote Beine. Er ließ seinen Blick weiter hinaufwandern. Das, was sich zu bedecken gehörte, war von einem zum Teil zerschlissenen, aber sauberen Stofffetzen verhüllt. Doch alles, was man an Haut sah, war auch hier rot. Die Arme, die lang hinunterhingen, endeten in zwei dürren Händen, an denen spitz zusammenlaufende schwarze Fingernägel bedrohlich wirkten. Als Dantras musternder Blick am Kopf angelangt war, sprang er ruckartig auf. Keine Spur mehr von körperlicher Erschöpfung oder Schmerzen bei jeder Bewegung. Er stolperte nach hinten, wobei er sogar Comal ungewollt ein Stück zur Seite stieß. Erst die verschlossene Tür, durch die sie hereingekommen waren, beendete seinen panischen Rückzug.

„Das ... das ... ist der Teufel!“, stammelte er. Das ebenfalls rote Haupt seines Gegenübers war mit zwei daumenlangen Hörnern gespickt, dessen Schwarz sich von dem der Fingernägel nicht unterschied. Haare suchte man hier genau wie überall anders an der Kreatur vergebens. Die Stirn erschien unwahrscheinlich lang und wurde nach untenhin durch zwei Augen abgeschlossen, dessen Pupillen aussahen wie funkelnde Kohlesplitter. Die Nase des Wesens war schmal und zum Hacken geformt, sein Mund, geprägt durch längst faltige Lippen, schien unentwegt ein gehässiges Lächeln von sich zu geben. Doch dieses verflog, als Dantra den Namen für das Erscheinungsbild, das sich ihm bot, nannte. Es verfiel zu einem traurigen, enttäuschten, Mundwinkel hängen lassenden Schmollmund. Überhaupt machte das Geschöpf den Eindruck, als würde es nicht gerne mit der Wahrheit oder zumindest mit dem, was Dantra für die Wahrheit hielt, konfrontiert werden.

„Nimm es ihm nicht übel, Refizul“, sagte Akinna, „er ist nur ein unwissender Mensch in einer ihm völlig fremden Welt.“

„Du hast natürlich recht, Akinna“, seine Stimme war eine Mischung aus dem Kratzen von Kreide an einer Tafel und dem Hauchen eines Sterbenden, der mit letzter Kraft versucht, noch etwas zu sagen. „Ich wurde nur schon seit etlichen Jahren nicht mehr so bezeichnet, seitdem ich in diesem Haus Gast sein darf. Es war für mich gerade so, als hätte ich ein lang verschlossenes Fenster geöffnet und in die Realität hinausgesehen.“

„Ich habe in den letzten Tagen viel gesehen, von dem ich dachte, dass es etwas wäre, was es hinterher gar nicht war“, mischte sich nun Dantra wieder lautstark ein. „Aber du bist der Teufel! Und niemand, niemand kann mir etwas anderes erzählen. Du bist der Teufel!“, schrie Dantra und hielt dabei seine gekreuzten Zeigefinger wie ein Schutzschild vor sich. Bei Refizul fand das leichte Grinsen den Weg zurück auf sein blutrotes Gesicht. Ihn schien Dantras Geste zu amüsieren, was allerdings nicht auf alle Anwesenden zutraf.

„Jetzt reicht es mir aber“, fuhr ihn Akinna an. „Warum bist du davon so überzeugt, dass er der Teufel ist? Nur weil jemand gesagt hat, dass dieser so aussieht? Weil es dir diejenigen sagten, die dir im Gegenzug das Wichtigste, was man wissen muss, um in dieser Welt zu überleben, verschwiegen haben? Es wird Zeit, dass du aus deinem Narrenschlaf erwachst und endlich deinen Geist für die wahre Wirklichkeit öffnest. Und nun nimm endlich deine Hände runter, das ist ja peinlich.“

Während Dantra noch etwas zögerte, ging Luzifer bereits zum nahe gelegenen Fenster, das zum Innenhof zeigte. „Eure Ankunft hätte nicht später sein dürfen“, sagte er den Blick nach draußen gerichtet, „sonst hätten wir jetzt ein verdammt großes Problem.“

Akinna folgte ihm zum Fenster. „Du hast recht“, bestätigte sie. „Seine körperliche Leistungsfähigkeit“, sie deutete bei ihrer Erklärung auf Dantra, „steht seinem Wissensschatz in nichts nach. Eins von beiden wird uns irgendwann das Leben kosten.“

„Was soll das denn schon wieder heißen?“, empörte sich Dantra.

„Sieh es dir an“, forderte Akinna ihn auf und deutete aus dem Fenster.

Doch er bewegte sich nicht von der Stelle. Refizul erkannte sein Problem und machte einige Schritte zur Seite. Dantra schlich mit einer misstrauischen Miene langsam an ihm vorbei in Richtung Akinna, die ihm sogleich wieder einen bösen Blick für sein Zögern zuwarf. Dantra schaute aus dem Fenster und sah nach oben zum vordersten und zugleich höchsten der drei Burgtürme. Anfangs fiel sein Blick auf das von Akinna im Vorfeld beschriebene große Fenster. Da hinter dem bunten Glas ein schwaches Licht glomm, waren die schwarze Sonne und ihre bedrohliche Wirkung, die sie ausstrahlte, gut zu erkennen. Er sah weiter nach oben. Gegen den dämmerigen Abendhimmel konnte er kleine schwarze Punkte sehen, die anscheinend alle aus dem Turm kamen und blitzschnell ihre Richtung wechseln konnten.

„Fledermäuse? Hier in der Burg? Ich dachte, dieser Ort wäre sicher? Und nun sind wir unter einem Dach mit den Spähern, dessen Herren unseren Tod wollen?“ Eigentlich wollte er Akinna anschauen, bis sie ihm eine plausible Erklärung für all das gab, aber seine Augen waren schon auf der Suche nach einem Ausweg aus seiner vermeintlich tödlichen Falle.

Doch die Antwort, verpackt in eine Frage, kam nicht von der Elbin, sondern von Refizul. „An welchem Ort sollte sich der Teufel verstecken, um nie gefunden zu werden, weil man dort niemals nach ihm suchen würde?“ Dantra sah zu ihm hinüber und er wurde noch unruhiger. Sein Blick huschte von ihm weiter zu Akinna und über Comal wieder zurück zu Refizul. Er wusste nicht, ob die Frage ernst gemeint war oder sich gar eine teuflische Absicht hinter ihr versteckte. Aber ob es ihm nun widerstrebte oder nicht, er musste Refizul eine Antwort geben. Denn ihm war klar, würde er nur schweigen oder ihm sogar mit Nichtachtung begegnen, hätte das nur wieder herablassende Kritik von Akinna zur Folge. Also doch lieber durch Wissen glänzen, denn die Antwort fiel ihm leicht.

„Im himmlischen Reich“, sagte er mit fester Stimme und nun wieder relativ sicherem Blick. „Dort würde man ihn nicht vermuten, ihn nicht suchen und damit auch niemals finden.“

„Richtig“, lobte Refizul ihn, „und wenn uns nun unser gemeinsamer Feind in Ruhe handeln lassen soll, ist es dann nicht der sicherste Weg, man gewährt seinen Schergen Unterschlupf?“

Ein Knall direkt neben Dantra ließ ihn einen Schritt nach vorne springen. Akinna hatte die Fensterläden, die hier von innen angebracht waren, unsanft geschlossen. „Die Viecher fliegen ja nicht durchs Haus“, führte sie Refizuls Erklärung weiter, „von daher sind wir hier drin sicher. Aber unverschlossene oder nicht verhangene Fenster solltest du meiden.“

„Wir sollten den Baron nicht länger warten lassen“, führte Refizul an, „er sitzt sicher schon zu Tisch.“

„Er hat recht“, brummte Comal, wobei die Steinwände seiner dunklen Stimme die Bedrohlichkeit verliehen, die sein Wesen vermissen ließ. „Nicht, dass die Leckereien schon kalt sind, wenn wir uns setzen“, gab er noch zu bedenken, bevor ihn wohl das Gefühl beschlich, etwas aufdringlich gewesen zu sein. Daher führte er noch etwas leiser und mit besorgtem Blick die Worte hinzu: „Das wäre doch sicher unhöflich von uns, oder?“

Refizul nickte ihm mit seinem wahrscheinlich ungewollt gehässigen Lächeln zu und drehte sich um. Gefolgt von Comal schritt er den langen, im Bogen angelegten Gang entlang.

Akinna folgte ihnen ebenfalls, jedoch nicht ohne Dantra am Ärmel möglichst nah bei sich zu halten. „Wenn du unterwegs was siehst, was dir komisch vorkommt, dann frag mich erst, bevor du losbrüllst. Denn der eine mir zutiefst unangenehme Ausfall deinerseits reicht mir für heute.“

„Aber gerne“, erwiderte er trotzig, „dann erkläre mir doch als Erstes einmal, wenn er nicht der Teufel in Person ist, was ist er dann?“

„Er ist ein Natas. Eine Spezies, die weit unter der Erde lebt, wo es für jeden von uns viel zu heiß wäre, um sich dort auf Dauer aufzuhalten.“

„Und was macht er hier oben?“

„Es trieb ihn das, was bei euch Menschen Entdeckergeist genannt wird. Laut einer Legende seines Volkes ist es bisher nur einem anderen vor ihm geglückt, den Weg hinauf zu finden. Als er vor vielen Jahrzehnten hier oben ankam, musste er aber mit Bedauern feststellen, dass sein Vorgänger unwiderrufliche Spuren hinterlassen hatte. War dieser sicher genauso ein friedlicher Zeitgenosse wie Refizul selbst, so war sein Aussehen dennoch vom Menschen zum personifizierten Bösen erklärt worden. Eine Chance, diese Welt unbeschadet zu erkunden und kennenzulernen, war damit auf ewig zerschlagen.“

„Aber wieso sollte er oder irgendeiner seines Volkes von den Menschen zu dem meistgefürchteten und -verachteten Geschöpf gemacht werden, wenn er doch, wie du sagst, die Friedlichkeit in Person ist?“

„Sieht er aus wie jemand aus deiner Verwandtschaft oder Bekanntschaft?“

„Nein, natürlich nicht“, entgegnete ihr Dantra, wobei eine Spur Abscheu an seinen Worten haftete. „Und dafür danke ich auch dem, an den ich glaube“, fügte er noch hinzu.

„Glaube.“ Akinna drückte einen Luftstrom durch ihre fast geschlossenen Lippen, sodass ein Zischlaut zu hören war. „Der uneingeschränkte Glaube des Menschen ist auch dessen größtes Problem.“

„Was bitte hat mein Glaube an ...“

Akinna brachte Dantra zum Schweigen, indem sie ihm ihre Hand auf den Mund presste. „Nicht so laut“, ermahnte sie ihn, „er muss doch wohl nicht mitbekommen, dass wir über ihn reden.“ Sie nahm die Hand wieder weg, doch ihr mahnender Blick blieb. „Außerdem meinte ich nicht deinen Glauben, sondern dass die Menschen immer meinen, sie wüssten alles. Es muss nur ein Einzelner etwas sagen, wenn er überzeugend genug ist, dann glauben ihm die anderen. Und mit ihrem eigentlich unwissenden Gerede bestärken sie noch das zumeist absolut schwachsinnige und naive Urteil des einen. Wenn also vor langer Zeit, als das Böse nur geschrieben stand, aber noch kein Gesicht hatte, jemand Refizuls Vorgänger gesehen hat, der zugegeben weder aussah wie ein kuscheliges Schoßhündchen, noch Sympathien auf sich zog, indem er mit Geld um sich warf, und der vielleicht auch den Eindruck erweckte, er könne einem aus großer Entfernung Blitze zwischen die Augen jagen. Wenn diesen also jemand entdeckte, dann zählte er wohl eins und eins zusammen, wobei menschentypisch drei herauskam, und schon hatte das seit jeher Gefürchtete eine Gestalt bekommen.“

Dantra sah sie skeptisch an. „Willst du mir damit sagen, dass alle Menschen oder zumindest alle, die meinen Glauben teilen, ein Bild vor Augen haben, wenn vom Teufel die Rede ist, das aus einem Trugschluss entstand?“

„Das will ich dir nicht sagen und ich will dich auch nicht davon überzeugen. Ich will dir nur einen nicht außer Acht zu lassenden anderen Blickwinkel auf die besagte Sachlage vermitteln. Würde ich dir meine Anschauung des Ganzen aufdrängen wollen, wäre ich nicht besser als der eine mit seinem Fehlurteil. Du bist einer, der selbst denken kann, dieses Denken aber leider oftmals vermissen lässt. Also öffne deine Augen, deinen Geist und bilde dir deine eigene Meinung. Nimm nicht die eines anderen an. Selbst wenn es die eines ganzen Volkes ist, ist es nicht zwangsläufig auch die richtige.“

Der Korridor, dem sie bisher gefolgt waren, hatte sich an der Innenseite der Burgmauer entlanggezogen. Seinen weiteren Verlauf ließen sie nun rechts liegen und stiegen stattdessen einige Stufen hinab, die sie auf einen geraden, nicht sehr langen Tunnel zulotsten, an dessen Ende wiederum eine Treppe hinaufführte. Sie waren unter dem Innenhof hindurch in eine Art übergroße Stallung gelangt, deren ursprünglicher Zweck allerdings restlos verschwunden war. Nur einige hölzerne Abtrennungen erinnerten ein wenig an Pferdeboxen. Alles andere war eher untypisch für ein von Menschenhand gefertigtes Bauwerk.

Da gab es unter anderem übergroße Vogelnester, die aussahen, als würden sie von unsichtbaren Kräften an der glatten Wand gehalten. Des Weiteren welche, die auf senkrecht stehende Balken gesetzt waren. Dann waren da noch diese Ekelgefühle hervorrufenden riesigen Spinnennetze in den Ecken der Decke und teilweise auch zwischen den auf halber Höhe des Raumes in regelmäßigen Abständen angebrachten, waagerecht verlaufenden Holzbalken, die von einer Wand zur anderen reichten.

Auf besagten Querbalken waren Behausungen in verschiedensten Formen gebaut. Manche wie ein gewöhnliches Baumhaus, andere dagegen aus durchhängenden Leinentüchern gefertigt, teilweise waren die Gebilde künstlerisch aus Weidenästen geflochten oder aus einer Lehm-Stroh-Mischung aufgetürmt. Die meisten Konstruktionen trotzten auf unerklärliche Weise den Gesetzen der Schwerkraft. An einigen Stellen hing ein Tau herab oder eine Strickleiter, die mit einem Haken am unteren Ende am Boden befestigt war. Auf dem Boden selbst war neben den Holzabtrennungen eine Wagenladung Sand zu einem Berg aufgeschüttet worden, der wie ein Ameisenhügel aussah, allerdings mit dem Unterschied, dass die unzähligen Löcher, die wahllos hineinführten, faustdick waren. Sie waren mit kleinen Zweigen abgestützt wie die Stollen in einem Bergwerk. Etwas abseits standen drei hellgraue Halbkugeln, die einem Iglu ähnelten, wie es Dantra in einem selten vorkommenden strengen Winter schon einmal im Innenhof der Klosterschule gebaut hatte. Nur sahen diese Behausungen aus, als hätten sie die gleiche Zusammensetzung wie ein Kokon. Dann und wann waren hier unten kleine Hütten aufgestellt, die aus gestochenem und getrocknetem Torf oder mächtigen Baumrindenstücken gefertigt waren.

Am monumentalsten wirkte ein Geflecht aus hohlen Baumstämmen, die so unwirklich ineinander verzweigt und verästelt waren, dass es den Anschein erweckte, sein Erbauer wollte zwar etwas Grandioses erschaffen, hätte jedoch keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Der Geruch, den Dantra unweigerlich aufnahm, war zwar sehr gewöhnungsbedürftig, jedoch keinesfalls stinkend oder gar Übelkeit verursachend. Und selbst wenn, Dantra hätte keinen freien Gedanken dafür opfern wollen. Denn in der wuchtig wirkenden Halle, die von zwei Dutzend zu Kronleuchtern umfunktionierten Wagenrädern erhellt wurde, die von der Decke in verschiedenen Höhen herunterhingen, tummelten sich die unterschiedlichsten Geschöpfe, Gestalten und Wesen, von denen er nicht eine einzige Art kannte. Sie schienen sich von ihrer Anwesenheit nicht stören zu lassen, sondern gingen einfach weiter ihren Beschäftigungen nach. Einige waren in ihrem Handeln auf die Pflege des eigenen Körpers oder der persönlichen Sachen beschränkt, andere wiederum verrichteten Arbeiten für das Allgemeinwohl.

So gab es zum Beispiel diese gehstockhochgewachsenen, nervös wirkenden Typen, deren Gesichter aussahen, als hätten sie schon mehr als nur einen Boxkampf in ihrem Leben ausgefochten, aber jeden davon klar verloren. Ihre zerzausten, hauchdünnen Haare, die bei jeder Bewegung herumwehten wie ein Wimpel im Sturm, taten noch ihr Übriges zum ohnehin leicht dümmlich wirkenden Gesamteindruck. Sie waren zu viert und schienen ihrer Ansicht nach die wichtigste Aufgabe auf der Burg zu haben. Während drei von ihnen arbeiteten, war der vierte nur damit beschäftigt, Unbefugte mit fuchtelnden Armen und halb verschluckten, unverständlichen Worten dazu zu bewegen, einen großen Bogen um die Baustelle zu machen. Wobei sich die Tätigkeit der merkwürdigen Gesellen darauf beschränkte, die Fugen zwischen den auch hier verlegten großen Steinplatten auszukratzen, sauber zu fegen und anschließend mit neuem, sauberem Sand aufzufüllen.

Des Weiteren waren da diese spatzenartigen Vögel, die anstatt Federn anthrazitfarbenes Fell hatten und schwarmweise von einem Kronleuchter zum nächsten flogen. Dort nahm jeder von ihnen einen Docht in den Schnabel, und nachdem sie ihn kurze Zeit später wieder losließen, zuckte dort eine kleine rot-gelbe Flamme, die sich in das bereits warm flackernde Licht einfügte. Diejenigen, welche Dantra besonders ins Auge stachen, während sie die Halle durchschritten, waren zwei große, dürre Wesen mit irreal langen und von Schuppen besetzten Hälsen, die das Kerzenlicht widerspiegelten. Ihre Nasen waren rund wie die von Schweinen, jedoch nach vorn spitz zulaufend. Die Besonderheit lag allerdings in der einzigartigen Technik, die sie mit ihrer Nase beherrschten. Sie konnten sie auf Armlänge ausfahren und in alle Richtungen bewegen.

Dantra war ganz dicht an Akinna herangerückt. Es reichte ein leises Flüstern, das er selbst fast nicht verstanden hätte, um sie über einige der Kreaturen auszufragen. Er hätte am liebsten haltgemacht, um über jedes der Lebewesen alles genau zu erfahren, doch es waren so viele, dass es zu lange gedauert hätte. Also beschränkte er sich auf die, die ihm am interessantesten erschienen. Mit einer Kopfbewegung deutete er in die Richtung der Nasenakrobaten, da diese ihm mehr als nur außergewöhnlich vorkamen.

„Das sind ganz gewöhnliche Flussleute“, schwächte Akinna Dantras hohe Erwartungen ab. „Sie leben in dem Grenzgebiet zum Elbenwald. Eine Gegend, die von Menschen gemieden wird. Und das aus reiner Angst vor dem Unbekannten. Als wenn jemals irgendein Elb einem Menschen Leid zugefügt hätte.“ Sie schien leicht beleidigt. „Na ja, die Flussleute jedenfalls haben ihre Nasen von der Natur mitbekommen, damit sie im Fluss unter Wasser stehend immer noch die Möglichkeit haben zu atmen. Wenn sie öfter auftauchten, würde das ihre Fischjagd fast unmöglich machen. Obwohl ihr geschuppter Hals auch im Wasser das eindringende Licht reflektiert und sie so hervorragend ihre Beute anlocken.“

Dantra ging nahtlos zum nächsten skurrilen Wesen über. Er deutete vorsichtig auf eine Bretterbucht, in der so etwas Ähnliches wie Kühe standen, nur mit breiteren Beinen und einem Kopf, der eher zu einem Seehund gepasst hätte.

„Du hast wohl eine Vorliebe für das nasse Element, was?“

„Hä?“ Dantra verstand Akinnas Frage nicht und er war auch keineswegs bestrebt, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Die Hälfte der Halle hatten sie bereits hinter sich gelassen und es gab noch so viel zu erfragen. Daher forderte er mit der entsprechenden Handbewegung die erwartete Erklärung.

„Es sind Meerballons, auch Inflari genannt“, erklärte sie schließlich. „Sie leben auf einigen der vorgelagerten Inseln von Kalyke. Sie schreiten über flache Stellen ins Meer, blasen sich dort auf, und während sie wieder zurück ans Ufer treiben, saugen sie kleine Fische, Krebse und auch nahrhafte Algen auf.“

Dantra sah die Meerballons fragend an und wollte gerade bei Akinna nachhaken, was sie mit Aufblasen meinte, als das urkomische Schauspiel wie auf Kommando begann. In der kurzen Zeit, die Dantra für drei Schritte benötigte, blähte sich der Vierbeiner auf mehr als das Doppelte seines normalen Volumens auf, was seine Gesichtszüge so entstellte und die Augen dermaßen hervorhob, dass Dantra nicht umhinkam, sich wegzudrehen und ein vergebens unterdrücktes Kichern auszustoßen. Eigentlich hatte er mit einem Ellenbogenhieb von Akinna gerechnet, so wie er ihn einen Tag zuvor schon bei den Tibboh erhalten hatte. Doch er blieb aus. Als Dantra Akinna wieder ansah, hatte auch sie ein breites Grinsen in ihrem Gesicht, das bereits rot angelaufen war. Er freute sich innerlich so sehr darüber, dass die Elbin unter ihrer rauen und immer ernst wirkenden Schale doch einen Funken Humor besaß, als hätte sie ihn gerade für irgendeine tapfere Tat in den höchsten Tönen gelobt. Es hätte nicht viel gefehlt und Dantra wäre wieder einmal auf Comal aufgelaufen. Er blickte an diesem vorbei, um die Ursache seines plötzlichen Zwischenstopps zu erkennen. Auch Refizul war stehen geblieben und sah auf den Boden. Vor ihm bewegte sich eine Karawane putziger kleiner Leute. Sie waren nicht größer als Dantras Daumen. Sie hatten Lastentiere, die Apfelscheiben, Brothälften und winzige Holzfässer trugen. Der Trott bewegte sich gemächlich auf einen der senkrecht stehenden Balken zu, auf dem ein Nest platziert war. Durch einen kleinen Eingang verschwanden die bereits dort Angekommenen im Balken, nachdem jeder von ihnen die Last von seinem Miniaturesel genommen hatte. Die Tiere, die sechs Beine hatten, was ihren Rücken um ein wesentliches Stück verlängerte, wurden von zwei der kleinen Männchen nach und nach in eine auf den Kopf gestellte Gemüsekiste getrieben. Über die gesamte Länge des Balkens waren unzählige kleine Parzellen angebracht, die wie Bienenstöcke aussahen.

„Flusenläufer“, erklärte Akinna, ohne auf die Frage zu warten. „Sie haben sehr viele natürliche Feinde, daher sind sie besonders selten. Der Baron ist sehr stolz, dass er die kleine Kolonie überreden konnte, hierher umzusiedeln. Denn auch wenn er für ihre Sicherheit bürgen kann, ist ihnen die Entscheidung nicht leichtgefallen. Sie sind ein Volk mit Traditionen. Nicht nur innerhalb ihrer Gemeinschaft, auch was die Gefahren von außen angeht, haben sie ihre jahrhundertelang gepflegten Bräuche, damit umzugehen.“

„Und was hatten sie für ein Problem, dass sie sich doch entschieden haben, hierherzukommen?“, fragte Dantra.

„Genau dasselbe wie fast alle hier. Den Menschen. Er breitet sich und seinen Lebensraum aus, ohne dabei Rücksicht auf irgendjemanden oder irgendetwas zu nehmen. Aber das Thema Mensch und Anmaßung hatten wir bereits.“

Als das Ende der Flusenläuferkolonne an Refizul vorbei war, setzten sie ihren Weg fort. Kurz bevor sie durch eine weitere Tür die Halle wieder verlassen wollten, erspähte Dantra in einer weiteren Bretterbucht ein schneeweißes, glänzendes Ross. Und obwohl er es nur von hinten sah, konnte er doch erkennen, dass dem Tier ein langes in sich gedrehtes Horn aus der Stirn wuchs.

„Da ... da ...“, stammelte er.

Das Ross drehte seinen Kopf in Dantras Richtung und zeigte ihm so seine ganze zauberhafte Pracht. Allerdings ebenfalls ein zweites Horn, kürzer und direkt unter dem anderen gelegen. Dieses zeigte bei gehobenem Kopf nicht gen Himmel, wie es das obere tat, sondern direkt nach vorn.

„Ein Doppelhorn“, erklärte ihm Akinna, als sie durch die Tür und um die Ecke in einen schmalen Flur gelangten. Die Wände waren hier bis auf einige Haken, die in regelmäßigen Abständen angebracht waren, kahl. „Sie sehen einem Einhorn zum Verwechseln ähnlich. Nur zwei Sachen unterscheiden sie. Das zusätzliche Horn und dass das Doppelhorn real ist und nicht nur ein Mythos wie das Einhorn.“

„Du glaubst also nicht, dass es Einhörner gibt?“

„Ich glaube nur an das, was ich gesehen habe. Und ein weißes Ross von vollkommener Schönheit mit nur einem in sich gedrehten Horn war noch nicht dabei.“ Dantra sah sie staunend an. „Was?“, fragte Akinna irritiert.

„Kennst du das Gefühl, eine Situation schon einmal erlebt zu haben? In diesem Fall waren es deine gerade gesprochenen Worte, die mir schon einmal genau so in den Ohren lagen.“

„Wer soll das sein, der meine Einstellung in dieser Sache teilt und auch noch dieselben Worte wählt?“ Akinna starrte ihn gespannt und gleichzeitig streitlustig von der Seite an.

„E’Cellbra war es, die fast genau dasselbe zu mir gesagt hat. Sie hält Einhörner ebenfalls für einen Mythos.“ Dantra sah nun seinerseits Akinna erwartungsvoll an. Diese schwieg jedoch und wendete den Blick von ihm ab. Allerdings nicht ohne Dantra in ihrem Gesicht lesen zu lassen, was sie gerade empfand: Stolz, Glück und eine ungeheure Zufriedenheit, dass sie mit der von ihr so bewunderten E’Cellbra einer Meinung war.

Sie bogen nun in eine Art Vorhalle ein, von der aus mehrere Treppen nach oben führten. Die breiteste von ihnen zog sich wuchtig aus der Mitte des Raumes nach oben. Die Stufen, die im Viertelkreis angelegt waren, teilten sich auf halber Höhe in zwei schmalere Treppenläufe, die von dort nach links und rechts weiter hinaufführten. Diesen monströs, aber geschmackvoll wirkenden Aufgang ließen sie ungenutzt hinter sich und strebten stattdessen auf eine schwere zweiflügelige Eichenholztür zu. Sie war mit glänzend schwarzem Eisen beschlagen und mit der Zeichnung eines Wappens verziert, das von Anmut und Pracht zeugte.

An den Wänden links und rechts von Dantra führten nochmals je zwei Treppen nach oben. Sie verliefen parallel zur Wand und jede von ihnen wurde von drei Podesten unterbrochen. Die zu jedem Treppenabsatz gehörenden Türen, die das Dahinterliegende verschlossen, waren zwar wesentlich einfacher und schlichter angefertigt, jedoch zeugten auch sie von hoher Handwerkskunst. Die Wände hingegen waren nackt und kalt.

„Ich war zwar noch nie auf einer Burg oder in einem Schloss, aber wenn die Bilder in den Büchern, aus denen ich mein zugegeben ausbaufähiges Wissen habe, nicht völlig nutzlos waren, müssten doch Gemälde wichtiger Ahnen, Waffenschmuck und Ritterrüstungen dem Ganzen etwas mehr Glanz verleihen, oder? Ich meine, diese beeindruckende Tür und die große Treppe hinter uns sehen in ihrer Pracht doch etwas verloren aus“, merkte Dantra an.

„Der Beruf des Barons lässt ihn finanziell gut dastehen. Das war bei seinen Vorfahren allerdings nicht immer der Fall. Und auf so einem Anwesen zu leben ist kostspielig. Da mussten die einen oder anderen Abstriche gemacht beziehungsweise Notverkäufe getätigt werden. Der Speisesaal allerdings, den wir jetzt gleich betreten, ist von dieser traurigen Notwendigkeit weitestgehend verschont geblieben. Du kannst dich also darauf freuen, den Bildern in deinen Büchern nun gleich in der Realität zu begegnen.“

Akinna hatte nicht zu viel versprochen. Als die majestätische Tür nach einem leisen Klopfen von Refizul von innen geöffnet wurde, bot sich ein Anblick von königlicher Anmut. Der lang gezogene Saal war mit schwarzem Marmor ausgelegt, dessen Verbund von dezenten, lieblichen Mosaikkunstwerken in regelmäßigen Abständen unterbrochen war. Die Wände waren mit blau-goldenem Seidendamast bespannt, der im exakten Einklang mit den Hintergründen der aufgehängten Porträts stand. Diese waren eingerahmt von verschnörkelten, goldüberzogenen Bilderrahmen.

In den vier Ecken des Raumes waren Ritterrüstungen aufgestellt, die mit Lanzen bewaffnet waren. An den beiden langen Wänden standen nochmals je zwei davon, die allerdings mit Schwertern bewaffnet in kampfbereiter Pose standen. Hinter ihnen waren mannsgroße, bis zum Marmorboden reichende, geschwungene Spiegel angebracht, die man der Kupferepoche zuordnen konnte. Der Übergang von der Wand zur Decke war mit Stuckaturen kunstvoll hervorgehoben, die mit ihrem leichten Gelbstich den imposanten Glanz unter ihnen wie mit einem Heiligenschein krönten. Die Decke selbst war mit Bildern verziert, die Figuren und Begebenheiten aus der umbrarischen Mythologie darstellten. Und die zwei Kronleuchter, die von ihr hinabhingen, waren verziert mit unzähligen tropfenförmigen Glassteinen in den verschiedensten Größen, die das herabfallende Licht der zahllosen Kerzen brachen und so anmutig wie eine Sternenansammlung wirkten. Das Mobiliar war in dunklem Eichenholz gehalten. Einige Ziertische waren mit für diese Gegend überraschend bunt blühenden Blumengestecken geschmückt. Doch der Hauptblickfang war ohne Zweifel der Esstisch. Während Stuhlhussen die weich gepolsterten Sitzgelegenheiten in ein mattes Silber tauchten, war der Tisch selbst aus dem dunklen Holz gefertigt, wobei jedes der acht Beine eine andere Tierpfote darstellte. Die Tafel war eingedeckt mit silberglänzendem Besteck, Tellern, reich gefüllten Schalen, opulent belegten Fleischplatten und bis zum Rand wahlweise mit Wein, Wasser oder Blütenmet gefüllten Karaffen. Nur die Gläser ließen fürstliche Ansprüche vermissen. Genauer gesagt waren sie nicht einmal aus Glas. Es waren einfache Holzbecher, die dem Gesamtbild etwas die Vollkommenheit nahmen.

„Meine lieben Gäste.“ Um den Tisch herum waren noch einige Stühle unbesetzt. Auf den anderen hatten zwei ältere, verschrobene, aber glücklich aussehende Damen Platz genommen. Ihnen gegenüber saß ein Junge mit rundem Kopf, leicht untersetzter Figur und einem freundlichen Lächeln auf dem blassen Gesicht. Zwischen den dreien, am Kopfende, hatte sich ein Mann erhoben, der Dantra sehr stark an den Ortsvorsteher seines Dorfes erinnerte. Die drahtige Figur war vornehm gekleidet, er hatte gepflegte dunkelblonde Haare und ein Strahlen in den Augen wie ein Bauer beim Betrachten einer Regenfront nach einer vierteldauernden Dürre. „Meine über alles geschätzte Akinna“, fuhr er fort und kam dabei auf die Elbin zu. Er nahm ihre Hand in die seine und deutete einen Handkuss an. „Es tut so gut, dich wiederzusehen.“

Dantra wäre das Gerede normalerweise viel zu aufgesetzt und zu schnulzig gewesen. Jedoch sprach der Baron mit so einer Begeisterung, dass es sich einfach nur ehrlich anhörte. Und zu Dantras Verwunderung begrüßte er nicht anschließend ihn, sondern den etwas nach hinten versetzt stehenden Comal.

„Ein Nalc in meinem Haus“, staunte er, während er seine mächtige Pranke mit beiden Händen schüttelte. „Es ist mir eine große Ehre, Euch an meinem Tisch begrüßen zu dürfen.“ Das war der Punkt, an dem der Baron nun auch Dantra sympathisch wurde. Jeder Mensch, dem sie bisher begegnet waren, machte entweder einen großen Bogen um Comal, oder bewarf ihn mit Obst und Gemüse, sobald er sich in sicherer Entfernung wähnte und er den dem Nalc angelegten Fesseln vertraute. Doch hier und heute bekam er endlich den Respekt, der ihm zustand. Und das mit einer Geste, die, da war sich Dantra sicher, für Comal nicht schöner sein konnte: einer einladenden Handbewegung in Richtung eines reich gedeckten Tisches. Akinna stellte Comal vor und wandte sich anschließend Dantra zu, um auch seinen Namen zu nennen.

„Es ist mir eine große Freude, einen Wegbegleiter Akinnas begrüßen zu dürfen“, sagte der Baron freundlich und blickte fragend zurück zu der Elbin.

„Wir sind auf dem Weg zu ihm“, flüsterte sie nur kurz und die Augen des Barons weiteten sich.

„Ist das so?“, fragte er ebenfalls mit gesenkter Stimme und musterte Dantra. „Die Zeit für große Taten ist wahrlich überfällig“, fuhr er fort. „Meine bescheidenen Möglichkeiten, dir dabei zu helfen, stehen dir uneingeschränkt zur Verfügung, mein Freund.“ Seine Stimme war nun ernster und ein flammender Kampfgeist loderte in seinen Augen auf. Für einen Moment war nur das Knistern des Kaminfeuers zu hören.

„Aber genug der vielen Worte.“ Die Stimme des Barons war übergangslos wieder laut und klar geworden, sodass Dantra etwas zusammenzuckte. „Lasst uns essen. Kein Kampf, kein Schlaf, keine Glückseligkeit, wenn der Magen leer ist wie ein Kornspeicher wenige Tage vor der Neuernte.“

Sie setzten sich, wobei Comal neben den älteren Damen Platz nahm, die kurzzeitig etwas eingeschüchtert wirkten. Doch ein breites Grinsen und freundliches Kopfnicken seinerseits stimmte sie sogleich wieder fröhlich. Da Refizul am anderen Kopfende Platz genommen hatte, war Dantra froh, dass Akinna sich an dessen Seite setzte, sodass er nicht neben ihm, sondern zwischen der Elbin und dem immer noch freundlich lächelnden Jungen saß.

Der Baron hatte sich ebenfalls wieder auf seinem Stuhl niedergelassen und stellte nun die anderen am Tisch Sitzenden vor. „Refizul habt ihr ja bereits kennengelernt. Die jung gebliebenen Damen zu meiner Rechten“, die charmant Betitelten ließen ein leises, verlegenes Kichern hören, „sind meine Tanten väterlicherseits, Patma und Selty. Und zu meiner Rechten sitzt mein Sohn und Stolz Malus.“ Sie himmelten sich kurz gegenseitig an, bevor der Baron den vor ihm stehenden Becher ergriff, um, nachdem seine Gäste ihre eigenen gefüllt hatten, einen Toast auf den Zusammenhalt auszusprechen. Dantra, der etwas irritiert auf seinen Becher schaute, bekam ungefragt eine Erklärung vom Baron. „Du denkst sicherlich, dass die alten Holzbecher des restlichen Tischgedecks nicht würdig sind, oder?“ Dantra suchte in seinem Kopf nach einer Antwort, die genau das besagte, sich jedoch höflicher anhörte. „Sie sind das Würdigste auf diesem Tisch“, fuhr der Baron fort. „Sie erinnern uns an unsere Wurzeln. Und die kann und sollte man auch nicht verleugnen. Auch wenn wir auf einer prachtvollen Burg leben und von silbernen Tellern essen, so soll uns doch jeder Schluck, den wir nehmen, daran erinnern, dass wir mit dem Adel nichts zu tun haben. Dass wir einer Handwerkerzunft angehören und unser Geld verdienen und nicht eintreiben.“ Das waren Worte, die Dantra gefielen. Worte, denen er gerne zugestimmt hätte. Jedoch fühlte er sich dem Baron gegenüber so klein und unwichtig, dass er lieber seinen Mund hielt und stattdessen noch einen großen Schluck Blütenmet seine Kehle hinunterrinnen ließ. Als er annahm, dass sich sämtliche anwesenden Augenpaare wieder von ihm abgewendet hatten, inspizierte er die Leckereien vor sich, wobei sein Blick erneut auf Refizul haften blieb. Dantra lehnte sich zu Akinna hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: „Wenn die Schwester Oberin sehen würde, dass ich mit dem Teufel an einem Tisch sitze, würde sie auf der Stelle tot umfallen.“ Ein böser Blick als Antwort ließ ihn sich wieder dem Essen zuwenden.

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er, dass Malus nun seinerseits seinem Ohr nahe kam, und kurz darauf hörte er ihn flüstern. „Ja, du sitzt mit dem Teufel an einem Tisch. Nur sitzt er nicht an dessen Ende, sondern direkt neben dir.“ Mit einem kurzen, hämischen und herablassenden Lachen untermauerte er seine Worte noch, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück.

Dantra sah den Jungen fragend und gleichermaßen verblüfft an. Dieser hatte sich ein großes Stück blutiges Steak in den Mund geschoben und kaute munter vor sich hin, als hätte es seine gerade ausgeführte teuflische Aufklärung nie gegeben. Mit einem Stirnrunzeln wandte sich Dantra von ihm ab und fing an zu essen. Sein ausgelaugter Körper und vor allem sein leerer Magen dankten es ihm.

Das zunächst steife Abendessen mauserte sich zu einem geselligen Beisammensein. Dantra wollte sich gerade nachnehmen, als ein Geräusch erklang, das dem eines kurzen, stumpfen Glockenschlages sehr ähnlich war. Alle sahen etwas irritiert in die Runde. Nur Comal und Malus ließen sich nicht stören. Ein rascher Blickkontakt mit dem Nalc verriet Dantra, dass er unter den Tisch schauen sollte. Also ließ er ungeschickterweise seine Gabel fallen, sodass er sich bücken musste. Mit dem Kopf unter der Tischplatte angekommen sah er, dass Comal sich eine kleine Silberschale zwischen die Beine gestellt hatte, sodass seine Weichteile vor einem Frontalangriff geschützt waren. Als er den Kopf wieder hochziehen wollte, fiel ihm auf, dass Malus eine Steinschleuder auf seinem Schoß liegen hatte. Dantra setzte sich wieder aufrecht hin und bemerkte Comals breit grinsendes Gesicht. Er musste sich gar nicht nach links wenden, um zu erfahren, wie Malus gerade schaute. Er konnte ihn laut schnauben hören. Wahrscheinlich hätte er am liebsten die Schleuder hochgeholt, um Comal direkt zwischen die Augen zu schießen.

Da der Tisch ohnehin bis zum Bersten vollgestellt war und auch Akinna keine Anstalten machte, Dantra wegen unhöflichen Verhaltens Einhalt zu gebieten, hatte dieser vier volle Teller mit den verschiedensten Gemüsesorten, Fleisch und Brot verputzt. Auch die anderen schienen ihren Hunger gebändigt zu haben. Man hatte das Besteck beiseitegelegt, hier und da wurde eine Unterhaltung geführt oder einfach nur stumm zugehört.

„Zeit für etwas Süßes, möchte ich meinen“, ließ der Baron so hörbar verlauten, dass er die erhoffte Aufmerksamkeit der anderen bekam. Die beiden älteren Damen glucksten wieder einmal heiter in sich hinein und Malus nahm den großen Löffel zur Hand, den er sich bereits vor einiger Zeit aus einer der Kartoffelschalen gesichert hatte. Der Baron nickte kurz zu seiner rechten Seite und sogleich ertönte ein lautes Klatschen.

Erst jetzt fiel Dantra neben dem Stuhl des Barons ein kleines Männchen auf. Es war nicht höher als die Stuhlsitzfläche. Die Knollnase des kleinen Kerls saß so weit oben in seinem ansonsten schmalen Gesicht, dass seine Augen nicht darüber, sondern seitlich davon waren. Sein Mund war streng nach vorne zugespitzt. Mehr konnte Dantra von ihm nicht sehen, ohne dafür aufzustehen. Allerdings kamen als Reaktion auf das Klatschen aus einer der Türen, die im hinteren Teil des Raumes gelegen waren, über ein Dutzend dieser kleinen Zwerge heraus. Die ersten beiden trugen eine Leiter mit sich, die sie links neben dem Baron an den Tisch lehnten. Die beiden Träger stiegen hinauf, und bevor sie die Tischplatte betraten, zogen sie sich ihre kartoffelsackähnlichen Schuhe aus. Sie trugen, manchmal unter enormer Anstrengung, die Schalen, Fleischplatten und Teller zum Rand, wo sie ihnen von den anderen abgenommen wurden. Auf einer leer gegessenen Fleischplatte sammelten sie die Knochenreste. Diese wurde einem von ihnen gereicht, der die gleiche untersetzte Figur hatte und ebenfalls eine Hose mit Latz trug. Nur sah dieser irgendwie betroffen aus, so als hätte er beim Streichholzziehen verloren und müsste nun seine Schuld abarbeiten. Er verließ den Raum durch die große Eingangstür, durch die zuvor Dantra, Akinna und Comal hereingekommen waren.

Als Dantra wieder nach vorn sah, standen bereits die ersten Schalen, gefüllt mit schokoladenüberzogenen Früchten sowie Obstsalat auf Milchschaum, und halbe Kokosnüsse, gefüllt mit verschiedenen Beerensorten, auf dem Tisch. Die kleinen Männchen, dessen Spezies laut Akinnas Hinweis als Renlek bezeichnet wurde, verließen nach getaner Arbeit wortlos den Saal.

Dantra schien mit seinem nachdenklichen Blick wieder die Aufmerksamkeit des Barons auf sich zu ziehen. „Bedienstete?“, fragte dieser ihn.

„Bitte?“, entschuldigte sich Dantra und befürchtete, irgendetwas Wichtiges verpasst zu haben.

„Das war doch das, was du gerade gedacht hast. Erst redet er von seinen nicht adeligen Wurzeln und wie wichtig sie ihm sind, und dann lässt er sich wie ein echter Baron bedienen.“

Eigentlich hatte Dantra gedacht, dass die Hosen der Renlek sie unvorteilhaft kleideten. Sie sahen allesamt aus, als hätten sie entweder eine Windel um oder aber ein monströses Hinterteil. Man konnte sagen, dass seine Gedanken nicht einmal halb so bedeutsam waren, wie der Baron es ihm unterstellte. Von der Situation absolut überfordert, zuckte Dantra nur verlegen mit den Schultern. Der Baron schien seine Unsicherheit nicht zu bemerken oder aber übersah sie aus Höflichkeit.

Stattdessen fing er an, seine eigene in den Raum gestellte Kritik zu erklären. „Ich habe mit jedem von ihnen“, er zeigte in die Richtung, in der die Renlek verschwunden waren, „mit überhaupt jedem in dieser Burg, an diesem Tisch zusammen gegessen, getrunken und mich mit ihm unterhalten. Doch in jeder Gemeinschaft, gerade wenn es so eine ist wie die unsere, in der so viele unterschiedliche Individuen zusammenleben, muss jeder mit anpacken, damit sich das Rad der allgemeinen Zufriedenheit unaufhörlich weiterdreht. Hierbei achte ich natürlich darauf, dass die Aufteilung der Arbeit gabenorientiert erfolgt. Und die Renlek zeigen ein enormes Engagement, wenn es um die Bewirtung geht. Wieso sollten sie nicht durch diese Stärke ihren Beitrag leisten?“ Er sah Dantra mit einem selbstzufriedenen Lächeln an. Dieser zuckte abermals verlegen mit den Schultern und lächelte etwas verwirrt zurück. Ab diesem Moment versuchte Dantra, seinen Blick nur noch auf seinem Teller zu lassen, um möglichst unsichtbar für die alles sehenden Augen des Barons zu sein.

Er war heilfroh, als das Abendessen nach dem Nachtisch und drei Met-Runden, zu denen jeweils ein anderer Trinkspruch durch den Speisesaal geprostet wurde, sein Ende fand. Sie standen auf, verabschiedeten sich herzlich voneinander und wünschten sich eine angenehm friedliche Nacht. Anschließend verließen Akinna, Comal und Dantra, in genau dieser Reihenfolge, Refizul folgend den Saal. Sie stiegen eine der Treppen empor, die sich zu ihrer Rechten parallel zur Wand befand.

Als die drei vor Dantra bereits durch eine Tür in einen langen Gang abgebogen waren, spürte er einen stechenden, heftigen Schmerz am Rücken. Leise aufstöhnend schaute er sich um und sah Malus in der schweren Eichentür stehen. Er grinste ihn bis über beide Wangen an und winkte mit seiner Steinschleuder. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er sich freute wie eine Maus mit dem Kopf in einem Laib Käse, dass er heute doch noch mit seiner Waffe einen Treffer landen konnte. Böse Worte oder gar eine gleichwertige Antwort empfand Dantra trotz der heftigen Schmerzen als unangebracht. Er folgte den anderen in den Flur, allerdings nicht ohne Malus so lange im Auge zu behalten, bis er vor einem eventuellen zweiten Treffer sicher war.

Akinna hatte Comal überholen lassen und wartete auf Dantra. „Was war das denn wieder für eine Aktion?“, fuhr sie ihn aufgebracht an. „Du bist mir manchmal echt unangenehm.“

„Wieso? Was meinst du denn?“, fauchte Dantra zurück, während er versuchte, die schmerzende Stelle an seinem Rücken mit der Hand zu erreichen.

„Ich habe dir doch ausdrücklich gesagt, wenn du Fragen hast, dann stell sie mir!“

„Ich weiß immer noch nicht, wovon du redest.“ Sie gingen weiter, um nicht den Anschluss zu verlieren.

„Na, die Sache mit den Bediensteten. Es ist doch mehr als nur unhöflich, den Gastgeber mit solchen Fragen in Verlegenheit zu bringen.“

„Bist du jetzt völlig von der Rolle?“ Dantra erhob ungewollt seine Stimme. Bremste sich aber selbst, noch bevor Akinna einen mahnenden Blick aufsetzen konnte. „Er hat die Frage doch selbst in den Raum gestellt.“

„Weil du sie gedacht hast“, erwiderte sie ihm.

„Er glaubte, dass ich das gedacht habe. Habe ich aber gar nicht.“

„Und warum hast du ihm dann nicht gesagt, was dir stattdessen durch den Kopf ging?“

„Weil ich mir in Wirklichkeit Gedanken darüber gemacht habe, dass die Renleks solche doofen Hosen tragen, dass es aussieht, als hätten sie Ärsche wie Wagenräder. Ich würde daher sagen, ich habe mit meinem Schweigen das kleinere Übel gewählt. Meinst du nicht auch?“ Er sah sie herausfordernd an. Eine Antwort bekam er aber nicht, da Refizul stehen geblieben war und eine Tür aufhielt.

„Dein gewohntes Zimmer, Akinna“, sagte er, wobei seine Augen es schafften, Freundlichkeit auszustrahlen, was dem Rest seines feuerroten Gesichts nicht gelang. Akinna bedankte sich ebenfalls herzlich und ging hinein.

Refizul setzte seinen Weg bereits fort, doch als Dantra ihm folgen wollte, hielt ihn Akinna am Arm zurück und ermahnte ihn: „Dann wähle heute Nacht auch das kleinere Übel und bleib auf deinem Zimmer. Egal, was passiert!“ Sie ließ von ihm ab und verschwand hinter der ins Schloss fallenden Tür.

Zwei Ecken und einige Türen weiter blieb Refizul erneut stehen. Er öffnete einen Raum, ließ Dantra mit einer höflichen Geste den Vortritt und erklärte ihm anschließend die Begebenheiten. „Hinter der Tür zu meiner Linken befinden sich die Wasch- und Notdurftverrichtungsmöglichkeiten. Die Tür gegenüber bietet eine zweite Möglichkeit, den Raum zu verlassen. Davon sollte man aber, wenn es sich vermeiden lässt, absehen. Denn es ist ein sehr großes Haus, in dem man sich schnell verirren kann.“ Refizul schaffte es, die mahnenden Worte im Gegensatz zu Akinna feinfühlig zu verpacken. „So, und nun wünsche ich dir eine angenehm ruhige Nacht.“ Er verließ das Zimmer, noch bevor Dantra reagierte und ihm ebenfalls eine gute Nacht wünschen konnte. Aber die Bewunderung für das, was er gerade betrachtete, hatte ihn völlig in Besitz genommen. Seine Augen glänzten, als würde er erneut zum ersten Mal einen Süßwarenstand sehen. Das Schlafgemach war nicht nur faszinierend schön, sondern makellos königlich. Das weiße Himmelbett war zweifelsohne das Prunkstück des Raumes. Das Daunenbettzeug war überspannt von einer hell- und dunkelblau karierten Tagesdecke, deren Farbbrücken mit einem zierlichen Goldfaden abgesetzt waren. Die vier Pfosten, die den Himmel trugen, deuteten mit ihren zurückhaltenden Farben und liebevollen Formen die vier Elemente an: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Der Holzrahmen, den sie hielten, war wie der Seidenhimmel selbst dunkelblau mit kleinen goldenen Sternen darauf. Die Wände waren in einem warmen Beige gehalten, auf dem hin und wieder akkurat gezeichnete Blumenranken in einem hellen Braun von der Decke bis zum dunklen Buchenholzfußboden verliefen und dann und wann einen Bilder-, Tür- und Fensterrahmen mit einbezogen.

Ansonsten war es ein Zimmer, wie es sich für ein Adelshaus gehörte. Porträts von elegant wirkenden Vorfahren, edle Vorhänge vor den Fenstern, drei Ziertische, einer links, einer rechts vom Bett und der dritte neben einer der Türen. Dieser war flankiert von zwei Stühlen aus demselben Holz, deren Sitzpolster mit dunkelblauem Satin bezogen waren.

Es war ein Schlafgemach wie aus einem Märchen. Nur ohne böse Hexe und sinnloser Mission. Oder? Dantra verwarf seinen letzten Gedanken, da ihm eines der Worte Refizuls, das wohl doch sein Gehör gefunden hatte, in den Sinn kam: Notdurftverrichtungsmöglichkeit. Er ging durch die besagte Tür und war überwältigt von dem Einfallsreichtum. Die Waschmöglichkeit sah aus wie gewohnt, nur viel edler. Ein silberglänzender Krug, gefüllt mit klarem Wasser, neben einer in weißen Marmor eingelassenen, ebenfalls silbernen Waschschüssel. Doch die Toilette war eine Klasse für sich. Normalerweise war Dantra es gewohnt, wenn er durch das Loch hinunterschaute, neben summenden Fliegen das zu sehen, was jeder Mensch aus gutem Grund loswerden wollte. Hier war das anders. Eine Beschreibung an der Wand ließ jeden Gast die richtige Umgangsweise mit dieser zukunftsweisenden Konstruktion erlernen.

1. Ein Blatt durch das Loch auf das Holz legen, das sich zwei Handbreit tiefer befindet.

2. Notdurft verrichten.

3. Mit einer Hand den Hebel neben dem Loch nach vorn

drücken und gleichzeitig mit der anderen Wasser aus dem

Krug hinterhergießen. (Bitte nicht den silbernen Krug

nutzen, sondern den Emaillekrug auf der Erde.)

4. Immer dafür sorgen, dass der Krug anschließend wieder

mit ausreichend Wasser gefüllt ist.

Dantra folgte der Beschreibung und war entzückt, als das Holz beim Bedienen des Hebels nach unten wegkippte, sodass alles vorher dort Befindliche in die Tiefe stürzte. Nachdem er sich ausgiebig gewaschen hatte, ging er zurück in sein Schlafgemach. Nachdem er sämtliche Kerzen gelöscht hatte, kroch er unter das Bettzeug aus Seide und hatte sogleich das Gefühl, im Himmel selbst zu schlafen. Er wusste, dass es die schönste und vor allem bequemste Nacht seines Lebens werden würde.

Noch während ihm wieder ein zweifelndes „Oder?“ durch den Kopf ging, packte ihn etwas am Fuß, zog diesen blitzschnell unter der Decke hervor und biss hinein. Dantra schrie auf und versuchte, den unsichtbaren Angreifer mit seinem anderen Fuß wegzutreten. Doch er hatte bereits von ihm abgelassen und der Tritt ging ins Leere. Ein hinterhältiges, aber bekanntes Lachen war irgendwo in der Dunkelheit zu vernehmen. Dann öffnete sich die Tür, deren Benutzung Dantra meiden sollte, und im von draußen hereinfallenden Licht war Malus zu erkennen, wieder breit grinsend und mit seiner Schleuder im Anschlag. Dantra konnte sich gerade noch rechtzeitig wegdrehen, um nicht dem heranschnellenden Stein mit seinem Gesicht zu begegnen. Als er wieder aufsah, war die Tür bereits beinahe wieder geschlossen und Malus verschwunden. Dantra sprang auf, und noch bevor die Tür endgültig ins Schloss gefallen war, hatte er sie hinter sich gelassen und setzte nun dem Übeltäter nach.

Jedes Mal, wenn Malus um eine Ecke bog, wartete er anschließend so lange an der nächsten, bis Dantra ihn wieder sehen konnte. So rannten sie einige Zeit die Gänge entlang und hechteten dabei Treppen hoch oder runter. Als Dantra zum wiederholten Male um eine Ecke bog, war von Malus nichts mehr zu sehen. Jedoch hatte er kurz zuvor eine Tür zuschlagen hören. Langsam und schwer atmend ging er den Flur entlang. Hinter irgendeiner dieser Türen musste er sich verstecken. An manchem Durchlass hielt Dantra inne und lauschte. Neben seinen eigenen tiefen Atemzügen hoffte er, das Keuchen von Malus wahrnehmen zu können. Da! An der vierten Tür auf der linken Seite konnte er ein ganz leises Schnaufen vernehmen. Er legte seine Hand auf die goldfarbene Türklinke.

„Öffne keine Türen!“, hörte er Akinnas Stimme in seinem Kopf, als würde sie neben ihm stehen. „Er schleicht sich in mein Zimmer, während ich auf der Toilette bin. Er jagt mir einen Höllenschrecken ein und beschießt mich mit seiner Schleuder. Auch wenn er nur ein verwöhntes Balg ist, was vor lauter Langeweile nicht weiß, wie es sich friedlich beschäftigen soll, was zu viel ist, ist zu viel!“

Nach der Entschuldigungsrede an sich selbst drückte er langsam und möglichst geräuschlos die Klinke hinunter. Durch den entstandenen Spalt blickte er in das Zimmer. Es war nicht ganz so schön eingerichtet wie seins. Es sah eher verwohnt aus. Von Malus war allerdings nichts zu sehen. Er schob die Tür noch etwas weiter auf. An einem Tisch stand ein kleiner Mann, dessen vollbehaarter Rücken zum Buckel geformt war. Die Tür gab ein leises, kaum wahrnehmbares Knarren von sich. Der Mann drehte ruckartig seinen Kopf zur Tür und blickte Dantra aus dunklen Augen an, die tief in seinem kantigen Schädel saßen. Stumm wandte er sich wieder um und ging eilig rückwärts auf Dantra zu. Im gleichen Moment entzündete sich sein Buckel. Lodernde Flammen tauchten das ansonsten nur leicht erhellte Zimmer in ein flackerndes Licht. Geistesgegenwärtig zog Dantra die Tür von außen zu und ging seinerseits rückwärts, bis ihn die Wand gegenüber stoppte. Sein Herz raste.

„Was war das?“ Er traute sich kaum zu atmen. Er bewegte sich nicht einmal die Flügelspannweite einer Mücke von der Wand weg. Erst als er sich sicher war, dass die Tür geschlossen blieb und sie allem Anschein nach auch kein Feuer gefangen hatte, ging er vorsichtig weiter den Gang entlang.

Wieder lauschte er an den Türen, obwohl Malus sich wahrscheinlich längst von der Hetzjagd erholt hatte. Er kam an eine Tür, auf der mit großen schwarzen Buchstaben NICHT ÖFFNEN stand. War es wirklich gefährlich oder sollte es nur den Anschein erwecken? Dantra legte sich vor die Tür und spähte durch den Spalt zwischen Holz und Fußboden hindurch. Drin war es stockdunkel. Verdächtig. Wenn Malus sich hinter einer dieser Türen versteckt hielt, so würde er sicher kein verräterisches Licht entzünden. Er überdachte die ganze Sache nochmals, kam aber erneut zu dem Entschluss, die richtige Tür gefunden zu haben. Er legte abermals seine Hand auf die Klinke und drückte sie behutsam hinunter. Lautlos öffnete sie sich. Erst einen Fingerbreit. Alles ruhig und in der Tat stockdunkel. Zwei Fingerbreit. Die Tür schwang weiter unhörbar auf. Drei Fingerbreit. Das einfallende Licht wurde auf unnatürliche Art von der Dunkelheit verschluckt. Vier Fingerbreit. Zunehmende Kälte strömte aus dem Raum, zog sich an Dantras Arm entlang und an seinem Rücken hinunter. Fünf Fingerbreit. Ein moderiger, fauler Geruch fand seinen Weg in Dantras Nase. Sechs Fingerbreit. Im Türspalt wurde ein kleiner Knochen sichtbar. Sieben Fingerbreit. Erste Zweifel durchdrangen Dantras Entschlossenheit, alles Notwendige zu tun, um Malus zu bestrafen. Acht Fingerbreit. Ein Atemzug war hörbar. Aber nicht von Malus. Vermutlich nicht einmal von einem Menschen. Es hörte sich eher an wie von einem Wolf, der eine Fährte aufnimmt. Wie von einem sehr großen Wolf. Noch nicht ganz neun Fingerbreit. Dantras Instinkt schlug Alarm. Er stockte. Die Tür verharrte. Der Gedankenblitz: „Zumachen! Laufen! Nicht umsehen!“

Eine Hand, eine Klaue, eine Sechs-Sporen-Kralle schoss aus der Dunkelheit hervor und packte Dantras Unterarm. Sein Atem stockte und ging dann unwillkürlich in ein stoßweises Luftholen über. Sein Herzschlag beschleunigte sich so schnell, wie eine Schlange für das Vorschnellen braucht, um ihrem Opfer ihr tödliches Gift zu injizieren. Er drückte seine linke Hand mit aller Kraft gegen die Tür und versuchte so, seine rechte wieder freizubekommen, sie aus dem Klammergriff zu lösen und sie wieder herauszuziehen. Von innen wurde ebenfalls gegen die Tür gedrückt. Die Krallen versenkten ihre Spitzen so tief in Dantras Haut, dass sein hervorquellendes Blut sie umschloss. Dabei kam die braune, von ledrig rauer Haut überzogene Kralle aber nicht weiter aus dem Raum heraus, sondern zog Dantra immer tiefer in die schaurige Dunkelheit hinein. Seine Gedanken ließen keinen Spielraum für die nahe liegendste Vorgehensweise: den Hilfeschrei.

Stattdessen rang er mit der Frage, ob seine magische Kraft ihm hier irgendwie helfen konnte. Er musste, wenn er sie geballt auf die Kralle warf, das Risiko eingehen, dass sie ihm den Arm abreißen würde, wenn die Tür sich nicht weiter öffnete. Und wenn er die Kraft direkt auf die Tür prallen ließe, hätte es vermutlich zur Folge, dass er mit ihr in den Raum hineingezogen werden würde. Eine Tatsache, die es zu verhindern galt. Doch seine menschlichen Kräfte schwanden dahin. Der Kampf war aussichtslos. Er war bereits verloren, als er begonnen hatte. Die Schmerzen, die die Kralle hervorrief, vernebelten unaufhaltsam seine Sinne. Er war in kürzester Zeit so tief in die tödliche Falle hineingezogen worden, dass er sich mit der anderen ausgestreckten Hand nicht mehr abstützen konnte, sondern bereits mit seinem Unterarm gegen die Tür drückte. Ein Gefühl der Übelkeit befiel seinen zum Bersten gefüllten Magen, denn etwas glitschig Feuchtes umrankte die Finger seiner Hand, die für ihn schon nicht mehr zu sehen war. Die erste Kralle hatte nun seine Schulter erreicht. Und zog. Unverändert. Unaufhaltsam. Die Tür ihrerseits drückte. Gegen seine Rippen, gegen seine Hüfte, gegen sein Knie, das er nun ebenfalls als Widerstandspunkt nutzte. Doch auch der abermals aufkommende Zorn auf sich selbst, weil er wieder nicht auf Akinna gehört hatte, und die dadurch mobilisierten letzten Kraftreserven reichten nicht einmal annähernd aus, um auch nur eine Haarbreite an Raum zurückzugewinnen. Es gab nur noch eins: die magische Kraft einzusetzen, um die Schmerzen zu verkürzen und den zweifellos folgenden Tod zu beschleunigen.

Er sammelte seine Konzentration, so gut es ihm möglich war. Das Weiß der Tür verschwamm vor seinen Augen. Aufsteigender Druck. Jetzt ... Eine leise Hoffnung zerriss die gespannte Sehne seines inneren Bogens. Seine Konzentration und seine magische Kraft ließen nach. Eine Hand. Im Augenwinkel sah er sie. Über seine rechte Schulter hinweg legte sie sich auf die sogleich regungslos verharrende Kralle.

„Pss ... Freunde“, hörte Dantra ein leises Flüstern. Sein Kopf drückte bereits so stark mit der linken Seite gegen die Tür, dass es ihm unmöglich war, ihn zu drehen, um zu erkennen, wer dieser Bestie Einhalt gebot. Doch auf die Erkenntnis musste er nicht lange warten. Die Kralle löste sich aus seinem Arm, der kraftlos an Dantras Seite zurückfiel. Sogleich taumelte er schwindelig nach hinten. Die Tür fiel ins Schloss und das Blut lief langsam aus den Wunden den Arm hinunter, wo es aber nach kurzem Wege rasch trocknete. Dantra rang nach Luft, als hätte die Kralle nicht seinen Arm, sondern seine Kehle umklammert. Vor ihm stand der Baron, besorgt und fragend zugleich schaute er sich schweigend den geschundenen Arm an. Dantra selbst wusste nicht, was er sagen sollte. Es war für ihn eine höchst unangenehme Stille, bis der Baron endlich mit ihm sprach.

„Ist sonst alles in Ordnung mit dir?“ Dantra nickte. Der Tonfall war so ausdruckslos, dass er immer noch nicht einschätzen konnte, ob der Baron wirklich besorgt war oder nur aus Höflichkeit die Frage gestellt hatte, innerlich jedoch wütend oder viel schlimmer enttäuscht war. „Gut. Das ist wirklich gut.“ Dantra war sich nun sicher, Erleichterung in seiner Stimme zu hören. Auch wenn er sich darüber wunderte, so freute es ihn dennoch. „Nicht auszudenken, wenn dir“, er betonte dir besonders stark und zeigte dabei mit seinem Finger auf Dantra, „in meinem Haus etwas zugestoßen wäre. Der Vertrauensstatus meiner Familie wäre bei Nomos auf ewig verloren.“ Sein gequälter Gesichtsausdruck verdeutlichte, wie besorgt er darüber war. „Nur gut“, fuhr er schließlich fort, „dass Malus zufällig hier vorbeikam und mich umgehend zu Hilfe geholt hat.“

Dantra musste sich von innen auf die Wange beißen, um nicht draufloszuschimpfen. Seiner Beherrschung wurde aber erst recht alles abverlangt, als er den Jungen sah, der nun hinter seinem Vater hervorkam und mit einer Unschuldsmiene und einem „Ist schon gut, habe ich doch gerne getan“-Grinsen im Gesicht vor ihm stand.

„Wie wäre es, Malus, wenn du Dantra zurück zu seinem Zimmer begleiten würdest? Dantra möchte dir sicherlich für deine Hilfe danken. Das wäre doch eine gute Gelegenheit.“

„Äh ...“ Nun kam Malus doch etwas in Bedrängnis. Mit einem bis in die Haarspitzen hasserfüllten Dantra wollte er wohl lieber nicht alleine gelassen werden. Zumal dieser ihn hinter dem Rücken des Barons in freudiger Erwartung angrinste. „Aber Papa, du weißt doch, wie bescheiden ich bin. Ein Dankeschön wäre mir nur peinlich. Und außerdem will ich unsere Gäste doch morgen früh verabschieden. Also sollte ich zusehen, dass ich so schnell wie möglich ins Bett komme. Gute Nacht, Papa. Gute Nacht, Dantra.“ Er drehte sich um und verschwand, bevor der Baron seinem Vorschlag Nachdruck verleihen konnte.

„Ach, er ist so ein besonderer Junge, nicht wahr?“ Eine eher rhetorische Frage, denn der Baron sah nicht Dantra dabei an, sondern starrte verzückt und stolz seinem Sohn nach.

Dantra kommentierte die Frage nur mit einem zähneknirschenden „Das ist er“. Nicht nur die letzte Chance, ihn doch noch zur Strecke zu bringen, war dahin, jetzt musste er auch noch den langen Weg zurück zu seinem Zimmer mit dem Baron und seinen Fragen verbringen. Wo er aufgewachsen sei, wie er Akinna getroffen hätte und was er über seine Familie wüsste. Diese letzte Frage war seinem Gastgeber besonders wichtig. Dantra vermutete, dass der Baron überzeugt war, dass nur jemand, dessen Vorfahren von jeher gegen die Obrigkeiten gekämpft hatten, wirklich etwas in diesem endlos scheinenden Kampf gegen die Drachenherrschaft bewirken konnte. Dantra war überglücklich, als der Baron stehen blieb und eine Tür öffnete, die aussah wie all die anderen Türen auch. Es war der Seiteneingang seines Zimmers. Derjenige, durch den er Malus ein gefühltes Leben zuvor verfolgt hatte. Einer der spatzenartigen kleinen Vögel flog durch den Türspalt und entzündete die drei Kerzen auf einem der beiden Ziertische neben dem Bett.

„Ich wünsche dir eine erholsame, Kraft spendende, aber vor allem friedliche Nacht.“ Mit diesen Worten und einem freundlichen Lächeln wandte sich der Baron ab und war kurz darauf hinter einer Korridorecke verschwunden.

Dantra wusch sich seinen verletzten Arm. Nachdem das Blut verschwunden war, sah es nun nur noch aus, als wäre er in einen Elefantendornbusch gefallen. Er legte sich ins Bett. Allerdings nicht, ohne vorher darunterzusehen. Er löschte das Licht und unter den warmen, weichen Daunen fiel er kurz darauf in einen vorerst traumlosen, tiefen Schlaf.

***

Es ist kalt. Bitterkalt.

Es ist nass. Ekelig nass.

Und es ist dunkel. Furchtbar dunkel.

Ich glaube, ich möchte zurück.

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster

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