Читать книгу Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch - Страница 22
Kapitel 8
ОглавлениеDantras Tiefschlaf fand wie gewohnt durch seinen Albtraum ein jähes Ende. Die morgendlichen Sonnenstrahlen drückten sich vereinzelt durch die Zwischenräume der lieblos aneinandergenagelten Bretter des Unterstandes und blendeten ihn, als er sich aufsetzte. Comal brummte ihm ein gut gelauntes „Guten Morgen“ entgegen, während er seine bescheidene Habe hinter einem kleinen Strohballenberg versteckte.
„Morgen“, erwiderte Dantra verschlafen und sein Blick richtete sich in die Ecke, in der Akinna sich gestern zum Schlafen hingelegt hatte. „Elben scheinen keine Frühaufsteher zu sein, oder?“ Comal, der nun ebenfalls zu ihrer Begleiterin schaute, zuckte bloß mit den Schultern. „He, Akinna“, rief Dantra, „wir wollen los. Bist du fertig?“
Als hätte sie nur darauf gewartet, von Dantra das Kommando zu erhalten, sprang sie auf und ging mit schnellem Schritt an ihm vorbei. „Wird auch Zeit. Ich dachte schon, du wolltest den ganzen Tag verträumen.“ Sie wirkte, als hätte sie nie gelegen oder gar geschlafen. Comal folgte ihr, nachdem er Dantra einen überraschten Blick zugeworfen hatte. Dantra selbst, der sich noch nicht einmal den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, suchte nun hektisch seine Sachen zusammen und stolperte den beiden hinterher.
Auf der Straße, auf der sie am Vorabend niemandem begegnet waren, herrschte nun reges Treiben. Menschen der verschiedensten Schichten gingen, ritten oder fuhren mit Ochsenkarren in die Stadt. Nur wenige waren in die andere Richtung unterwegs. Einige zwielichtig aussehende Händler boten ihre Ware, die sich meistens aus Ramsch, unnützem Zeug und lebenswichtigen Utensilien für abergläubische Menschen zusammensetzte, bereits vor den Stadtmauern an. Als sie das Stadttor, das aus wuchtigen Granitblöcken erbaut war, durchschritten, fiel Dantra auf, dass die übergroßen Schwingtüren nicht richtig zum ansonsten unüberwindbar scheinenden Torturm und der gesamten Stadtmauer passten. Sie waren zwar aus massivem Holz gefertigt, aber eigentlich viel zu dünn, um einem eventuellen Rammbockangriff standzuhalten. „Ich war gestern in Uka“, wandte sich Dantra an Akinna, „dort sah die gesamte Stadtmauer aus, als würde sie gleich zusammenbrechen. Und auch hier scheinen die Tore nicht geeignet, irgendwelche Banditenhorden, die mit schweren Waffen ausgerüstet sind, davon abzuhalten, durch sie hindurchzubrechen. Wie kommt das?“
„Dies ist eine sichere Stadt“, erwiderte sie gewohnt knapp.
„Und?“, bohrte Dantra ebenfalls wie stets nach.
„Niemand greift eine sichere Stadt an. Es wäre dasselbe, als würde man einen Drachen angreifen. Wenn du hier zu laut ans Stadttor klopfst, kann es dir passieren, dass du kurze Zeit später einen Schatten siehst. Und das ist dann auch das Letzte, was du wahrnimmst. Außer natürlich, du hast Glück und dir fällt ein Pferd auf den Kopf.“
Ihre zynische Bemerkung ließ Dantra unkommentiert über sich ergehen, da seine Frage noch nicht ganz beantwortet war. „Wieso dann überhaupt eine Stadtmauer?“
„Befestigungsanlagen, die so massiv gebaut sind wie diese hier, stammen noch aus alten Tagen. Die Türen mussten natürlich irgendwann erneuert werden. Aber heutzutage macht sich niemand mehr die Mühe, auf Sicherheit zu bauen. Man braucht die Mauern nur noch, um allen zu verdeutlichen, bis wohin die Stadtgesetze gelten.“
Sie hatten den gut 50 Schritt langen Gang, an dem rechts und links glatte Steinwände emporstiegen, fast durchschritten, als ein zweites Tor folgte. Der Sinn dieser Anlage war selbst Dantra ungefragt klar. Angreifer, die das erste Tor durchbrochen hatten, müssten unter heftigem Pfeilbeschuss und auf sie niederregnendem brennendem Öl das zweite Tor ebenfalls durchbrechen. Eine Hölle auf Erden. So ein Unternehmen wäre schon aufgrund der vielen Toten zum Scheitern verurteilt. Wer konnte schon einem Rammbock Schwung geben, wenn er dabei über Leichen stolperte?
Als sie das zweite Tor passiert hatten, dessen Flügeltüren ganz offensichtlich ebenfalls keine schützende Funktion mehr zu erfüllen hatten, standen auf jeder Seite der Straße je drei Zerrocks. Sie waren in Stadtuniformen gekleidet. Fünf von ihnen trugen eine dunkelgrüne Mannschaftstracht und einer eine marineblaue Vorgesetztenuniform von niedrigem Rang. Die Bekleidung war maßgeschneidert. Eine Gegebenheit, die selbst einem Laien auffiel. Und was ebenfalls markant ins Auge stach, waren die silberfarbenen Enden ihrer Jackenknopfleisten. Sie waren aus dünnem Metall gefertigt, das bei jeder Bewegung auf die darunterliegende Gürtelschnalle traf und dabei ein deutlich zu hörendes Klacken abgab. Die Uniform war damit unbrauchbar zum Anpirschen oder für den Nahkampf. Aber diesen Zweck sollte sie auch gar nicht erfüllen. Vielmehr sollte sie jeden, der sich in der Nähe aufhielt, daran erinnern, dass ihre Träger es nicht nötig hatten, sich vor irgendjemandem zu verstecken. Denn die Kampfkraft, die hinter jedem noch so kleinen Zerrocktrupp steckte, war tödlich. Es war nicht nur allseits bekannt, dass es einen oder mehrere Drachen gab, die es irgendwie wahrnehmen konnten, wenn man sie verspottete, sondern auch, dass ein in die Enge getriebener oder gar getöteter Zerrock sofort einen Drachenangriff auslöste.
Die Männer schienen jeden genau zu mustern, der an ihnen vorbei in die Stadt wollte. Hin und wieder stoppten sie einige Leute und zerrten ihnen die Hüte oder Kapuzen, die zu tief ins Gesicht gezogen waren, herunter, um sie eindeutig zu identifizieren. Der Vorgesetzte hielt einige Papyrusrollen in den Händen, die er bisweilen abwickelte, um sie neben eine der gestoppten Personen zu halten und deren Gesicht mit den Abbildungen zu vergleichen.
Dantra war sofort klar, dass die Wächter nicht hier standen, um das Gesindel von der Stadt fernzuhalten, sondern um gesuchte Personen dingfest zu machen. War sein eigenes Gesicht auf einer der Rollen? Hatte man irgendwie herausgefunden, dass er es gewesen war, der die Drachen beleidigt hatte, und dass er den darauffolgenden Angriff überleben konnte? Sein Magen spiegelte augenblicklich seine sprunghaft aufgekommene Nervosität in Form von Schmerzen wider. Dantra schob sich so unauffällig wie möglich hinter Comal. Dieser würde die Zerrocks sicher schon allein durch sein Erscheinungsbild ablenken, sodass er mit etwas Glück durch die Kontrolle huschen konnte.
Der erste Zerrock, den er passierte und den er dabei aus dem Augenwinkel heraus anschielte, hatte anscheinend keinerlei Notiz von Comal genommen. Dantras eigenes, leider viel zu auffälliges Verhalten hatte allerdings sein Interesse geweckt. Mit einem Kopfnicken und einem richtungsweisenden Blick hatte er einem seiner Kameraden ein Zeichen gegeben, in dessen Folge Dantra einen festen Handgriff an seinem Unterarm spürte.
„Stehen bleiben!“ Einer der Zerrocks hatte ihn ein Stück zur Seite gezogen und ihm dabei seinen Arm auf den Rücken gedreht. Mit der anderen Hand hatte er Dantras Kragen gepackt und zog so sein Gesicht nach oben. Der Vorgesetzte rollte den Papyrus aus und verglich jedes Bild akribisch genau mit Dantras Gesicht.
Comal, der stehen geblieben war, als er bemerkte, dass man Dantra aus der Menge gepflückt hatte, wurde sofort von einem auf der anderen Seite stehenden Zerrock angewiesen weiterzugehen. Er tat wie ihm geheißen. Ob aus Angst vor einer möglichen Bestrafung oder weil er nach einem Blick auf Akinna bemerkt hatte, dass sie keinerlei Anstalten machte, ihrerseits innezuhalten, wusste Dantra nicht. Aber die Tatsache, dass sie ihn alleine ließen, ärgerte ihn. Egal. Eines war sicher: In dem Moment, in dem er als Gesuchter identifiziert werden würde, hätten die Zerrocks mit ihrer arroganten Art, die sie ihm und den anderen Normalsterblichen entgegenbrachten, fürs Erste verspielt. Denn eine Festnahme mit einer anschließenden Einkerkerung war keine Option, die Dantra in Betracht zog. Er atmete tief durch und sammelte seine Konzentration. Doch mit einem plötzlichen Ruck wurde er zurück in die Menge gestoßen, die ihn sofort mitriss und weiter in die Stadt trieb. Entweder hatten sie ihn nicht erkannt, oder er war nicht auf diesen Abbildungen vertreten. In jedem Fall fiel Dantra eine große Last von den Schultern.
„Wieso seid ihr einfach weitergegangen, als wenn nichts gewesen wäre? Und erzählt mir jetzt nicht, ihr hättet nicht mitbekommen, dass die Zerrocks mich aufgehalten haben.“ Akinna und Comal hatten in einer Seitenstraße auf Dantra gewartet, der sich nun beleidigt vor ihnen aufgebaut hatte.
„Warum sollten wir uns für deine Dummheit in Gefahr bringen?“, entgegnete ihm Akinna seelenruhig, während Comal, den anscheinend das schlechte Gewissen plagte, verschämt seine Füße musterte. „Ich bin eine Elbin und verhülle dennoch nicht mein Gesicht vor den Zerrocks“, erläuterte Akinna Dantra ihre Verhaltensweise. „Comal ist ein Nalc, und selbst er weiß, wie man in ihrer Gegenwart aufzutreten hat. Aber Herr Dantra ist natürlich so wichtig, dass er sich verstecken muss und sich dabei so dämlich anstellt, dass es selbst einem halb verhungerten Straßenköter auffällt. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“
Dantra stellten sich die Nackenhaare auf. Er fühlte sich von seinen Weggefährten im Stich gelassen, und anstatt einer Entschuldigung bekam er nur wieder Vorwürfe und Zurechtweisungen zu hören. „Falls du es schon wieder vergessen hast: Ich habe vor zwei Tagen alles andere als nette Worte über einen Dr...“
„Psst!“ Mit einem synchron ausgestoßenen Zischlaut ermahnten Akinna und Comal Dantra, seine Wortwahl zu überdenken.
„... ein Feuer gelegt“, führte er nun den Satz zu Ende. „Woher sollte ich also wissen, ob sie nicht nach mir suchen?“
„Selbst wenn ihnen bekannt wäre, dass es dich und deine Geschichte gibt, so würden sie nicht nach dir suchen, sondern deine Existenz vehement abstreiten. Wenn bekannt werden würde, dass man so etwas überleben kann, würde ihnen eine große Portion Respekt, der fast ausschließlich durch Angst vor dem sicheren Tod genährt wird, verloren gehen. Oder um es für dich nochmals einfach auszudrücken: Wenn sie jeden suchen wollten, der schon einmal fast an seiner eigenen Kotze erstickt wäre, hätten sie verdammt viel zu tun.“ Mit einem Schwung, der ihren Umhang hochwirbeln ließ, drehte sich Akinna um und stapfte davon. Nach einigen Schritten machte sie noch einmal kehrt und befahl: „Bei Einbruch der Dämmerung treffen wir uns hier wieder.“ Dann verschwand sie endgültig hinter einer Hausecke.
„Temperament hat sie, das musst du ihr lassen“, brummte Comal und grinste dabei breit auf Dantra hinunter.
„Wo ich herkomme, nennt man so was zickig“, gab dieser knurrig zurück und marschierte dann genauso trotzig los wie kurz zuvor Akinna.
Bis zum Anfang des sternförmig angelegten Marktplatzes gingen sie noch gemeinsam, doch dort blieb Comal stehen und zog einen Wasserschlauch unter seiner Fellweste hervor. Er grinste Dantra erneut zu. „Auf ein gutes Geschäft“, jauchzte er, als wäre er sturzbetrunken. Dann nahm er einen großen Schluck Wasser in den Mund, ließ die Hälfte über seinen zerzausten Bart laufen und wankte los. Er lallte ein unverständliches Lied und rempelte dabei einige wichtig aussehende Leute an.
Die ersten Rufe nach dem Stadtdullpin ließen nicht lange auf sich warten. Ein kleiner, untersetzter Mann stürmte herbei und blieb schnaufend vor Comal stehen. Natürlich war ihm sofort klar, wie er mit dem Nalc zu verfahren hatte, jedoch ließen die Bedenken, einem solchen Riesen Anweisungen zu geben, sein Pflichtbewusstsein hintenanstehen. Hektisch begann er, in drei verschiedene Richtungen mit den Armen zu fuchteln, und kurz darauf kamen vier Hilfsdullpins sowie drei Zerrocks herbei.
Direkt neben Dantra stand ein edel gekleideter, weißbärtiger Mann mit seiner Gattin, der die Entrüstung über diesen Vorfall ins Gesicht geschrieben stand. „An den Pranger mit diesem Saufbold!“, schrie er, und sie sowie einige andere, die das Geschehen beobachtet hatten, gaben lauthals ihre Zustimmung zu dieser tadelnden Maßnahme. Während die Stadtbediensteten Comal stützten, damit er nicht umfiel, betrunken, wie er war, und ihn in Richtung Marktmitte schoben, drehte dieser noch einmal seinen Kopf und zwinkerte Dantra siegessicher zu.
Einen Markt dieser Größe hatte Dantra noch nie gesehen. In dem Dorf, an dessen Rand das Klosterheim stand, kamen nur hin und wieder einige wenige fahrende Händler vorbei. Der Markt, den er zwei Tage zuvor in Uka gesehen hatte, war daher schon eine ganz neue, bis dahin für ihn verborgene Welt gewesen. Aber das hier übertraf alle Vorstellungen. Nicht nur, dass die zahllosen Stände an Lebensmitteln und vielen anderen notwendigen Sachen für das alltägliche Leben keine Wünsche offen ließen, hier konnte man auch Möbel, schweres Feldgerät und Fuhrwerke vom Handkarren bis zur Kutsche käuflich erwerben. Und es gab, wie von Comal angekündigt, einen riesigen Viehmarkt, auf dem es von Karnickeln und Hühnern, über Schafe und Ziegen, bis hin zu Kühen, Ochsen und Pferden alles gab, was vier Beine hatte oder Eier legen konnte. Aber am meisten strahlten Dantras Augen, als er eine Gruppe Gaukler sah. Sie jonglierten, spuckten Feuer und ließen sich gegenseitig durch die Luft wirbeln. Die Musik, die er dabei hörte, gespielt von vielen verschiedenen Musikern, die verteilt über den ganzen Platz ihr Können darboten, erhob dieses fantastische Schauspiel zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Es war schon Nachmittag, als Dantras Magen ihn daran erinnerte, dass er ja noch oder wieder den Krato von E’Cellbra in seiner hierfür eigens angenähten Tasche trug. Der Duft, der ihm in diesem Moment in der Nase lag, lockte ihn zu einem kreisrunden Stand, in dessen Mitte ein loderndes Feuer ein Schwein, halb so groß wie eine Kuh, knusperig braun werden ließ. Ein halbes Pfund frische Sau zwischen zwei Scheiben Brot 3/4 Krato stand auf mehreren Schildern, die rings um den Stand verteilt waren. Dantra lief das Wasser in solchen Mengen im Mund zusammen, dass er versehentlich bei der Bestellung einiges davon herausspuckte, sodass der Mann, der sich eine nicht ganz so saubere Schürze umgebunden hatte, wie es sicher wünschenswert gewesen wäre, angeekelt einen Schritt nach hinten machte. Aber wie der Hunger beim Essen verschwand, so verflog auch die Schamröte wegen des peinlichen Vorfalls aus Dantras Gesicht.
Beim Tätscheln seines vollen Bauches bemerkte Dantra, dass der Krato erneut auf unerklärliche Weise in seine Tasche zurückgekehrt war. Er zog ihn heraus und betrachtete ihn einerseits skeptisch, andererseits jedoch glücklich. Er hatte keine Ahnung, wie das funktionierte, aber im Grunde war es ihm auch völlig egal. Er war da und er musste erneut unters Volk gebracht werden.
Dantra lief die Stände ab, bis er an einen gelangte, der Stoffe, Kleidung und auch Decken anbot. Hier war er richtig. Die Nächte waren bereits ziemlich kalt. Er suchte sich also einen warmen Mantel, eine Wolldecke und eine etwas dickere Strickdecke zum Daraufliegen aus. Zwar war ein Krato nicht das kleinste Geldstück, das es gab, jedoch reichte es nicht, um all die Sachen zu kaufen. Er nahm sich also zuerst das günstigste Stück, die Strickdecke, und bezahlte sie. Danach griff er erneut in seine Tasche, um mit Freuden festzustellen, dass er wieder im Besitz des Kratos war. Nun konnte er sich gemeinsam mit einem Teil des Wechselgeldes, das er gerade beim Kauf seines Essens erhalten hatte, die andere Decke leisten. Zunächst ging er weiter und kaufte ein großes Stück Speck für das gemeinschaftliche Abendessen und einen dunkelgrün-braunen Schal für Comal, den er wahrscheinlich nicht wirklich brauchte, aber der ihn sicher sympathischer wirken ließ.
Anschließend erstand Dantra noch eine mattsilberne Brosche in Form eines Halbmondes, umrandet von einer tiefschwarzen Metallkante, für Akinna. Damit sollte sie ihrem Umhang, der unterhalb ihres Kinns nur von zwei Fäden zusammengehalten wurde, ein angemessenes nobleres Aussehen verleihen. Zwar war er sich nicht sicher, ob sie sich darüber freute, aber vielleicht würde allein der gute Wille ihre zumeist störrische und ablehnende Haltung ihm gegenüber ein wenig mildern. Danach ging er noch einmal zu dem Stoffhändler zurück, wo er bereits die Decken gekauft hatte, und erwarb den Mantel, der mit dem Krato und dem vielen Wechselgeld, das er bei seinen bisherigen Käufen erhalten hatte, nun auch zu bezahlen war. Und zu guter Letzt folgte noch der für ihn unvermeidliche Gang zum Süßwarenstand. Vielmehr: die drei Gänge. Er kaufte jedes Mal Ware für genau einen Krato und nach einer kurzen Runde über den Markt, kaufte er erneut die Objekte seiner Begierde.
Pünktlich mit dem Einsetzen der Dämmerung traf Dantra dort ein, wo er und Comal am Morgen von Akinna stehen gelassen worden waren. Mit einem prall gefüllten Seesack und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht stand Comal an eine Hauswand gelehnt und schien sich über jeden, der vorbeikam, still zu amüsieren. Es erweckte gar den Anschein, als würde er einen nach dem anderen auslachen, da jeder einer von denen sein konnte, die viel Geld für Obst oder Gemüse ausgegeben hatten, welches sich nun in seinem Seesack befand. Als er Dantra erblickte, schwoll sein Grinsen noch weiter an. „Sieh mal“, sagte er stolz und präsentierte dabei seine Einnahmen. „Die Leute hier sind besonders übel gelaunt. Wenn wir etwas sparsam sind, wird es uns drei sicher die nächsten Tage satt machen.“
Dantra freute sich. Nicht so sehr über Comals gute Ausbeute, eher über die Worte, die Comal wählte: „In den nächsten Tagen.“ Für ihn war es offenbar klar, dass sie weiterhin zusammen durchs Land ziehen würden. Es schien tatsächlich, als hätte Dantra einen Freund gefunden. Ein Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte. Im Klosterheim hatte er sich sicher mit dem einen oder anderen gut verstanden, aber eine wirkliche Freundschaft war nie daraus geworden.
Was ihm aber sehr wohl vertraut vorkam, waren die Kälte und das abwertende Verhalten, die ihm Akinna in diesem Moment entgegenbrachte. Sie stolzierte ohne Umschweife an beiden vorbei und zischte nur kurz das Kommando: „Lasst uns gehen.“
Dantra und Comal folgten ihr unbeeindruckt. Sie unterhielten sich über den ereignisreichen Tag. Dantra erzählte von den Gauklern und den unglaublich vielen Sachen, die man auf so einem großen Markt zum Kauf angeboten bekam. Comal seinerseits berichtete von den verschiedenen Reaktionen, die die Leute einem an den Pranger Gestellten entgegenbrachten. Und von den drei Wagemutigen, die versucht hatten, auf Spuckweite an ihn heranzukommen, und die er mit seinem Gebrüll das Fürchten gelehrt hatte, so wie es Dantra auch schon in Uka bei ihm bewundern durfte.
Als sie am Heuunterstand angekommen waren, in dem sie schon die Nacht zuvor verbracht hatten, präsentierte Dantra seine Einkäufe. Wie erwartet leuchteten Comals Augen auf, als er den Speck erblickte. Er nahm ihn Dantra aus der Hand und roch mit seiner riesigen Knollnase daran. Es sah aus, als wäre für ihn ein Traum wahr geworden. Er saß mit geschlossenen Augen da und sein Kopf schwankte leicht hin und her, während er den köstlichen Duft der Delikatesse einsog. Genau wie ein Hund, der eine Witterung im vorbeiziehenden Wind aufnahm.
Dantra überlegte, ob er den Schal überhaupt noch herausholen sollte, war es doch eigentlich unmöglich, dem Nalc eine noch größere Freude zu machen. Vielleicht hätte das sogar der guten Stimmung geschadet. Schon allein, weil es Comal vielleicht unangenehm wäre, etwas geschenkt zu bekommen. Vor allem etwas, womit er nichts anfangen konnte. Egal, Dantra hatte das Ding gekauft, nun würde er es ihm auch überreichen.
„Hier Comal“, sagte er, „es wird doch bald kälter. Ich dachte, ein Schal wäre da genau das Richtige.“ Unsicher, aber dennoch erwartungsvoll beobachtete Dantra seinen Freund.
Anfangs verdunkelte sich dessen Gesicht bedrohlich. Dann aber hellte es sich schlagartig wieder auf und der Nalc nahm das Geschenk an. Mit Bewunderung hielt er den Schal vor sich. „Im ersten Moment habe ich gedacht, du willst mir einen bösen Streich spielen“, gluckste er. „Dachte, du hältst ihn mir hin, und wenn ich danach greife, ziehst du ihn lachend weg. Hab früher bei mir zu Hause schlechte Erfahrungen mit so etwas gemacht. Wenn ich so darüber nachdenke, hat mir noch nie jemand etwas geschenkt. Aber warum auch?“ Er schien sich selbst etwas leidzutun. „Doch dann dachte ich, du bist ein guter Mensch. Einer von denen, die mich nicht mit Abscheu ansehen. Einer, dem ich, obwohl ich dich erst zwei Tage kenne, vertraue.“ Er grinste noch einmal besonders breit und schloss dann seine Lobeshymne auf Dantra mit einem „Ich danke dir“.
Dantra war baff. Nicht nur, dass eine derartige Gefühlsduselei überhaupt nicht zu so einem riesig-breiten Kerl passte, auch dessen Mut beeindruckte ihn. Den meisten wäre, schon aus Verlegenheit, wahrscheinlich nur ein dummer Spruch eingefallen wie: „Schick, aber hätte ruhig eine Nummer größer sein können.“ Doch dieser gestandene Krieger, der ganze Menschenmassen nur mit seinem Gebrüll in die Flucht schlagen konnte, sprach schlichtweg aus, was er fühlte.
Nachdem er die Worte einen Moment auf sich hatte wirken lassen, meldete sich seine Neugierde zu Wort. Was würde Akinna zu ihrem Geschenk sagen? Wenn sie nur halb so freundlich reagierte, wäre er schon mehr als zufrieden. Hektisch zog Dantra die Brosche aus seiner Tasche. Mit einem Grinsen und erwartungsvollen Augen reichte er sie Akinna. „Hier, für dich. Ich habe sie gesehen und dachte, sie würde gut zu deinem Umhang passen. Findest du nicht auch?“ Sie nahm ihm die Brosche aus der Hand und betrachtete sie argwöhnisch. „Ihr Blick muss ja nichts zu heißen haben“, versuchte sich Dantra im Stillen einzureden. „Comal hat zuerst genauso geschaut.“
Doch bei Akinna wurde der Gesichtsausdruck statt heller nur zunehmend finsterer. „Woher hast du die?“, fragte sie und schaute ihn dabei mit einem durchbohrenden Blick aus ihren halb zugekniffenen Augen an, die jetzt, schwarz umrandet, wie sie waren, verblüffende Ähnlichkeit mit der Brosche hatten.
„Na, vom Markt. Woher sonst?“ Dantra verstand die Frage nicht.
„Ich wusste gar nicht, dass du so viel Geld besitzt.“
„Besitze ich auch nicht“, antwortete Dantra wahrheitsgemäß.
„Und wie kannst du dir dann die ganzen Sachen leisten?“ Akinna neigte ihren Kopf leicht zur Seite, sodass ihre rotbraunen Haare auf einer Seite von der Schulter rutschten und eines ihrer Elbenohren zum Vorschein kam. Von ihr sicher unbeabsichtigt, erweckte das bei Dantra den Eindruck, als könne sie es hören, wenn er log. Und das machte ihn nervös.
Er stammelte etwas Unverständliches vor sich hin, während sein Hirn fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung suchte. Denn E’Cellbras Krato sollte nicht in dieser vorkommen. Freunde hin, Freunde her. Es war zwar nur ein Geldstück, aber es besaß doch den Wert Tausender. Woher sollte er wissen, ob nicht doch einer seiner Weggefährten schwach werden und ihn nachts bestehlen würde.
„Also, wir ... äh ... also, im Klosterheim, wo ich aufgewachsen bin, na ja, also ... wir haben da auch gearbeitet und ähm ... was soll ich sagen? Ich hab halt ...“
„... gestohlen!“, beendete Akinna den Satz.
„Was?“ Dantra glaubte, meinte, hoffte, sich verhört zu haben.
„Sag doch einfach, wie es ist“, forderte sie ihn auf. „Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind und dass wir nachts unser Hab und Gut verstecken sollten. Nicht, dass ich glaube, du würdest uns bestehlen. Aber kann man sich da sicher sein? Wie sagt man noch? Ach ja, Gelegenheit macht Diebe.“
Dantra sprang auf. Mit hochrotem Kopf brüllte er sie an: „Ich habe dir schon einmal gesagt: Ich stehle nicht. Aber ich glaube auch nicht, dass wir uns schon so gut kennen, dass ich jedes meiner Geheimnisse mit dir teilen müsste.“
Akinna war nun ihrerseits ebenfalls aufgestanden, allerdings wesentlich gemächlicher. Und mit ruhiger Stimme ließ sie ihn wissen: „Wäre ich nicht gewesen, hättest du deine ach so wichtigen Geheimnisse bereits mit ins Grab genommen.“ Sie drehte sich um und ging durchs Unterholz in Richtung Wald, wo sie auch schon am Vorabend verschwunden war.
„Arrogante Ziege“, dachte Dantra. Als er sich etwas beruhigt hatte, was vor allem dem herrlichen Geruch des Specks zu verdanken war, den Comal in einer Art Pfanne über dem Feuer angebraten hatte, fiel ihm auf, dass Akinna fast dieselben Wörter benutzt hatte, was das nächtliche Bestehlen anging, wie er selbst kurz zuvor bei seinen Überlegungen. Konnte sie etwa seine Gedanken lesen? Eine Frage, die Dantra sehr schnell für sich verneinen konnte. Wäre es so, hätte sie ihn bestimmt schon längst umgebracht.
Da Dantra und Comal nicht wussten, wann sie Akinna zurückerwarten durften, hatten sie beschlossen, nicht länger mit dem Essen zu warten. Sie waren bereits beim Nachschlag, als die Elbin wie immer absonderlich leise durchs Unterholz zurückkehrte. Der zornige, verärgerte Ausdruck in ihrem Gesicht war verschwunden und hatte stattdessen Sorgengrübchen Platz gemacht. „Ich werde euch morgen verlassen“, sagte sie knapp und sah gedankenvoll ins lodernde Feuer.
Dantra, dem die Sorge, die Akinna ins Gesicht geschrieben stand, nicht aufgefallen war, schnauzte sofort wieder los, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sein Mund halb voll war und das meiste davon als zerkauter Niederschlag vor und über ihm niederging. „Soll das etwa heißen, dass du immer noch glaubst, ich würde stehlen? Selbst wenn es so wäre, du besitzt nichts, was ich gerne hätte.“
„Ach, nimm dich nicht immer so wichtig!“, sagte sie leicht genervt, aber gewillt, die Fassung zu behalten. „Ich muss mich morgen aufmachen, um ein paar guten Freunden zu helfen.“
„Ach so?“, erwiderte Dantra, nachdem er sich den Mund mit dem Ärmel abgewischt hatte. „Dann kommen wir eben mit. Wir haben doch ohnehin kein bestimmtes Ziel. Und Vorräte sind auch genug da. Nicht wahr?“ Er sah Comal erwartungsvoll an und bekam auch gleich ein bestätigendes Nicken, untermalt von einem gebrummten „Klar“.
„Das ist nett von euch. Aber sie haben Schwierigkeiten, in die ich euch nicht mit reinziehen will.“ Akinna hatte sich ebenfalls ans Feuer gesetzt und ihren Köcher auf die Knie gelegt. Sie nahm einen Pfeil nach dem anderen heraus und kontrollierte sie auf eventuelle Schäden.
„Wenn es solche Schwierigkeiten sind, wie ich denke, komme ich erst recht mit. Auch wenn ich es nur ungern zugebe, aber als du mir diesen verfluchten Hautgnom von der Schulter geschossen hast, rettete mir das einige meiner besten Jahre. Auch wenn es dir vielleicht nicht gefällt, bin ich dir etwas schuldig.“ Sein Versuch, eine freundliche Miene oder sogar ein Lächeln von ihr zu bekommen, schlug fehl. Es hatte auch nichts gebracht, dass er ihr gegenüber seine Bringschuld zugegeben hatte. Nicht einmal einen Nein-so-ist-es-doch-gar-nicht-Gesichtsausdruck bekam er zu sehen, und das, obwohl er ihr doch mit dem vorletzten Satz einen dezenten Hinweis darauf gegeben hatte, dass sie ihm bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit das Gefühl vermittelte, sie könne ihn nicht ausstehen.
Die Elbin zog stattdessen nur kurz eine ihrer Augenbrauen hoch, um dann ihren Blick erwartungsvoll auf Comal zu richten. Als dieser merkte, dass stillschweigend von ihm eine Antwort erwartet wurde, fingen seine großen, fast schwarzen Augen an, nervös zwischen Akinna und Dantra hin und her zu wandern. „Also, ich ... äh ... ich werde euch gern begleiten, aber auch wenn ich euch damit enttäusche, kämpfen werde ich nicht.“
Dantra und Akinna sahen erst sich und dann Comal fragend an.
„Aber du bist ein Nalc. Kämpfen ist eure Art zu leben“, sagte Dantra irritiert.
„Da hast du recht“, pflichtete ihm Comal bei. „Aber ich bin eben ein wenig aus der Art geschlagen. Oder wie mein Vater immer sagte: Junge, deine Mutter hat mich hinters Licht geführt. Anstatt mir einen kampfbereiten Nalc zu schenken, hat sie mir dich untergejubelt. Den einzigen Nalc, der nach seinem Tod nicht in Solras Armee marschieren darf. Der nicht mal die Scheiße von Solras Pferd wegräumen darf.“
„Nett war dein Vater nicht gerade zu dir“, stellte Dantra fest.
„Er ist eben ein Nalc. Nalcs sagen immer, was sie denken. Deshalb schlagen sie sich ja auch andauernd gegenseitig die Köpfe ein.“
„Bist du deswegen fortgegangen?“, fragte Akinna mit einfühlsamer Stimme.
„Nein, nicht direkt. Ich habe es Dantra vorgestern bereits erklärt. Man hat mir eine Aufgabe zukommen lassen, die für mein Volk von großer Bedeutung war. Aber ich habe es gründlich verdorben. Erst dann bin ich fortgegangen.“
„Was war das eigentlich für eine Aufgabe?“, wollte Dantra wissen.
Comal sah ihn misstrauisch an und schien dabei nach der richtigen Antwort zu suchen. „Woher hattest du das Geld, um heute auf dem Markt die ganzen Sachen zu kaufen?“, fragte er schließlich.
„Wie meinst du das?“ Dantra war eher verwundert als verärgert über diese Frage. „Glaubst du jetzt auch, dass ich stehle?“
„Nein, das glaube ich nicht“, erwiderte Comal, ohne etwaige Zweifel in seine Worte zu legen. „Aber ich glaube, dass du uns nicht genug Vertrauen schenkst, um es uns zu sagen.“
Mit reumütiger Stimme sagte Dantra: „Entschuldigung, aber wir kennen uns doch erst zwei Tage. Ich hoffe zutiefst, dass ich euch vertrauen kann. Aber wissen? Nach so kurzer Zeit?“
„Wenn der Tag kommt, an dem du denkst, dass wir uns lange und gut genug kennen, um uns gegenseitig zu vertrauen, verrätst du uns dann dein Geheimnis?“
„Ja, sicher.“
„Gut, das ist dann der Tag, an dem du auf deine Frage von eben eine Antwort erhältst.“ Und damit schien das Thema für Comal beendet zu sein. Er zog die letzten Speckstreifen in eine unbenutzte Schale und bot sie Akinna an. Als diese mit einem freundlichen Lächeln ablehnte, ließ er sie zwischen seinen mächtigen Zähnen verschwinden.
Die Elbin stand auf und verkündete, dass ihr Aufbruch noch vor Sonnenaufgang stattfände. Danach verschwand sie in derselben Ecke wie auch schon in der Nacht zuvor unter ihrem Umhang. Auch Dantra legte sich kurz darauf zum Schlafen hin. Er hatte Akinna zum ersten Mal mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen gesehen. Und auch wenn dieses Comal gegolten hatte, so hatte es ihr doch von Dantras Seite ein großes Stück Sympathie eingebracht.