Читать книгу Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch - Страница 24

Kapitel 9

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Als Akinna an diesem Morgen mit einem lauten „Es ist Zeit aufzubrechen“ unter ihrem Umhang hervorkam, war Dantra bereits abmarschbereit. Er hatte am Vorabend Comal gebeten, ihn so früh wie möglich zu wecken. Einerseits wollte Dantra Akinna mit seinem Tatendrang seine Entschlossenheit zeigen, ihr zu helfen. Andererseits beabsichtigte er, nach einem Lächeln nun auch einmal ein überraschtes Gesicht von ihr zu sehen zu bekommen. Er wurde nicht enttäuscht.

Als sie übers Feld zur Straße zurückgingen, entdeckte Dantra einen Wagentreck, der sich gerade gemächlich durchs Stadttor schob. Erst als alle Fuhrwerke hindurch waren, setzten sich zwei Reiter an deren Spitze, zweifelsohne Zerrocks, und führten den Zug an. Es war ihm nicht möglich, auf die Entfernung Gesichter zu erkennen, aber den bunten Wagen nach mussten das die Gaukler und Artisten sein, die er am Vortag bewundert hatte. Es war üblich, dass Händler oder wie in diesem Fall Schausteller, die in Kolonnen reisten, von Zerrocks begleitet wurden. Nur so waren sie vor Überfällen geschützt. Für diese Sicherheit musste allerdings auch das fahrende Volk, genau wie die Bewohner sicherer Städte und Dörfer, nach den Regeln der Drachen leben.

Die Straße, auf der die drei Gefährten nun dahinschritten, führte sie erst ein Stück zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und ließ sie nach einer Wegkreuzung Richtung Lava abbiegen. Sie waren bereits einige Zeit unterwegs, als Dantra, wie gewöhnlich, als Erster das bis dahin herrschende morgendliche Schweigen brach.

„Was sind das für Leute, zu denen wir gehen? Und aus welchem Grund brauchen sie unsere Hilfe?“, fragte er Akinna.

„Ich kenne sie schon ziemlich lange“, antwortete sie. „Und ich bin seit jeher jederzeit bei ihnen willkommen. Sie haben eine Art Bauernhof. Aber das meiste, was sie auf den Wochenmärkten verkaufen, sind handwerklich hergestellte Dinge. Körbe, Holzbesteck, solche Sachen eben. Ich habe sie gestern in Blommer nicht angetroffen, was sehr ungewöhnlich ist. Daher habe ich Nachforschungen angestellt. Dabei musste ich erfahren, dass sie von einer Bande sadistischer Barbaren belagert werden ...“ Akinnas Gesicht verfinsterte sich und ihre Augen bekamen wieder diesen Ausdruck der unerschütterlichen Entschlossenheit, der Dantra bereits zwei Tage zuvor aufgefallen war, als sie ihm versichert hatte, niemals vor irgendetwas davonzulaufen. „... und deren Leben nur noch dem einen Zweck dient“, hauchte sie knurrig, „dass es ein Ende durch meine Pfeilspitzen findet.“ Sie atmete tief durch und brauchte einen Moment, um sich wieder zu beruhigen. „Es ist fast immer dieselbe Bande, die versucht, das wenige Hab und Gut, das die Falkenfänger besitzen, in ihre schmutzigen Finger zu bekommen. Es ist daher auch nicht das erste Mal, dass wir ihnen helfen müssen und mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal.“

„Warum nennt man sie Falkenfänger?“

„Aus einer alten Tradition heraus züchten sie Falken und richten sie ab. Früher für die Adeligen und sogar für den König. Heute nur noch für den Eigenbedarf.“

„Wofür brauchen sie abgerichtete Falken?“

„Zu ihrem eigenen Schutz. Du wirst sehen, was ich meine, wenn wir die Bastarde niedermetzeln.“

„Warum bist du so überzeugt davon, dass es zu einem Kampf kommen wird? Vielleicht können wir ja mit ihnen reden. Sie zur Vernunft bringen. Sie davon überzeugen, die Belagerung aufzugeben.“

„Nein, können wir nicht.“

„Was macht dich da so sicher?“

Akinna blieb stehen, zog einen ihrer Pfeile aus dem Köcher und hielt Dantra dessen Spitze unter die Nase. „Versuch mal, mit jemandem zu reden, dem so einer im Hals steckt. Dann wirst du die Sinnlosigkeit deines Vorhabens schnell erkennen. Denn jeder von diesen Halunken, der nicht bei meinem bloßen Erscheinen um sein erbärmliches Leben rennt, dem verpasse ich einen davon. Und zwar punktgenau in den Kehlkopf.“ Sie steckte den Pfeil wieder zurück und ging weiter.

Dantra setzte nach: „Diebe, Halunken oder sonst irgendein Pack, du kannst sie nicht einfach alle umbringen. Wer weiß, warum sie zu dem geworden sind, was sie sind. Manche von ihnen hatten vielleicht keine andere Wahl.“

„Man hat immer eine Wahl. Und bevor man anderen Gewalt zufügt, nur weil man glaubt, es gäbe keine andere Möglichkeit, sich mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, kann man sich immer noch selbst einen Strick um den Hals legen. Du musst mir also schon einen besseren Grund nennen, damit ich nicht alle, die ich erwischen kann, umbringe.“

Nun blieb Dantra stehen und streckte seine Arme von sich, um so seine Fassungslosigkeit zu untermalen. „Es sind Menschen wie du und ich“, sagte er aufgebracht.

Doch Akinnas Antwort war kalt und bissig: „Es sind Menschen wie du! Nicht wie ich! Und außerdem wolltest du mir doch einen Grund nennen, sie nicht zu töten.“

„Hab ich doch. Es sind Menschen.“

„Das ist ein Grund mehr, sie zu töten“, erwiderte Akinna nüchtern und setzte ihren Marsch fort.

Dantra musste erst einige schnelle Schritte machen, bis er wieder auf ihrer Höhe war. „Wie meinst du das? Das ist noch ein Grund mehr?“

Nun war es wieder Akinna, die innehielt. „Nun pass mal auf. Ich erzähle dir mal was über die Spezies Mensch.“ Sie sah ihn streng an und stützte ihre Hände dabei in die Hüften. „Die einzelnen Exemplare sind alle unterschiedlich und haben doch eine Sache gemeinsam: Sie sind alle auf ihre Weise schlecht. Jeder einzelne von ihnen hat irgendeine schlechte Seite. Und nimmst du sie alle zusammen und steckst sie in ein Land, so wie Umbrarus, dann legst du damit den Grundstein für das Scheitern eines gemeinsamen friedlichen und harmonischen Zusammenlebens.“

Dantra zögerte kurz. Sollte er ihr seine Meinung kundtun oder lieber erst abwarten, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte? Denn er wollte sie auf keinen Fall völlig in Rage bringen, was sehr wahrscheinlich nur wieder ein erneutes vehementes Schweigen nach sich ziehen würde. Jedoch konnte er auch nicht einfach hinnehmen, was sie gerade über die Menschen und damit auch über ihn selbst gesagt hatte. Also beschloss er, dagegen zu argumentieren, bemühte sich aber, dieses mit möglichst einfühlsamer Stimme zu tun. „Ich finde, du übertreibst ...“

„Oh, du meinst also, ich übertreibe. Na, dann gebe ich dir mal ein paar Beispiele.“ Nun war die Empörung ihrerseits noch weiter angestiegen, allerdings keine Spur von Schweigen. „Der Mensch stellt sich über alles! Nur weil er nicht auf vier Pfoten läuft und die Gabe des logischen Denkens bekommen hat, meint er, jedes andere Geschöpf hätte sich ihm unterzuordnen. Der Sinn des logischen Denkens ist allerdings, dass man es auch nutzen sollte. Dann kämen die Menschen vielleicht endlich zu der Erkenntnis, dass man nur miteinander leben kann. Und damit meine ich nicht nur Mensch und Tier, sondern alles, vom Baum über die Flüsse bis hin zur Luft. Aber ihr Menschen holzt im Übermaß ab, verseucht mit euren Exkrementen jedes Gewässer und dort, wo viele Menschen aufeinandertreffen, atmet man keine Luft mehr, sondern Gestank.“

„Ja, gut, ein paar Probleme, an denen man arbeiten sollte, gibt es schon, das sehe ich ja ein, aber ...“

„Du hast es immer noch nicht verstanden! Das Gedankengut des Menschen ist unwiderruflich vergiftet. Nimm doch nur die freien Dörfer und Städte. Wo keine Zerrocks oder Dullpins für Recht und Ordnung sorgen, leben die Menschen nicht friedlich miteinander. Dort herrscht das Gesetz des Stärkeren. Und der Stärkste will seine Herrschaft stets weiter ausbauen, denn der Mensch ist machtbesessen. Er will immer mehr Besitz für sich in Anspruch nehmen, denn der Mensch ist maßlos. Und kommt es zu einem Konflikt, dann gibt es keinen Grund für Verhandlungen, denn der Mensch ist arrogant. Wenn er seine Männer allerdings in die Schlacht führt, dann nur von weit hinten, denn der Mensch ist feige. Gleichzeitig lassen sie keine Gnade walten, sobald der Feind in die Knie gezwungen ist, denn der Mensch ist gewissenlos. Und wenn sie niemand aufhält, dann vergewaltigen sie auch noch die Frauen der Gefallenen und schneiden deren Kindern die Kehle durch. Denn der Mensch ist sadistisch. Ich könnte diese Liste der schlechten menschlichen Charaktereigenschaften noch vervollständigen mit Eitelkeit, Habgier, Selbstüberschätzung und vielem mehr. Aber ich denke, nicht die Anzahl meiner Worte sollte dir die Augen öffnen, sondern deren Bedeutung. Also noch eine abschließende Zusammenfassung, die hoffentlich auch du verstehst: Der Mensch ist der Kollateralschaden der Evolution! Denk mal darüber nach.“

Es war bereits kurz nach Mittag, als Akinna an einer unscheinbaren Stelle des Weges unangekündigt in den Wald abbog, von wo aus sie sich einige Hundert Meter durchs Unterholz kämpften. Akinna war wie gewohnt elbisch leise, Dantras Bewegungen verursachten normal laute Knack- und Raschelgeräusche, während Comal, unbekümmert, wie er war, einen Lärm machte, als hätte er fünf Pferde im Schlepptau. Als sie aus einer dichten Tannenschonung wieder in den für diese Gegend typischen lichten Laubwald mit seinen ausgewachsenen Buchen und Eichen gelangten, saßen dort vier Männer und zwei Frauen auf umgestürzten Baumstämmen, welche so angeordnet waren, dass sie ein Dreieck bildeten. Einer der Männer stand auf und sagte leicht rotzig: „Wenn ich euch nicht schon auf dem Weg gesehen hätte, als ich vorhin die Gegend begutachtet habe, hätten wir euch kampfbereit empfangen. Ihr macht einen Krach wie eine Horde Zerrocks nach einem Sturmbefehl. Ist man gar nicht von dir gewohnt, Akinna.“ Nachdem er ihr einen kritischen Blick zugeworfen hatte, sah er nun Dantra und Comal abwertend an. „Was sind das überhaupt für zwei Gestalten? Nicht gerade unauffällig so ein Nalc, vor allem nicht im Kampf.“

„Beruhig dich, Gennaro“, beschwichtigte ihn Akinna. „Er wird nicht mit uns kämpfen.“

„Ach“, motzte der Angesprochene weiter, „und was will er dann hier?“

„Ich kann gut kochen“, warf Comal schnell ein. Er hatte wohl das Gefühl, er müsste seine Anwesenheit irgendwie rechtfertigen.

Während die anderen nur kurz verlegen kicherten oder glucksten, brach Gennaro in lautes Gelächter aus. „Kochen? Was bist du denn für ein Nalc? Leerst du auch meinen Spucknapf, wenn mir dein Essen nicht geschmeckt hat?“

Dantra machte drei Schritte nach vorne, sodass er nun unmittelbar vor Gennaro stand, der gut einen Kopf größer war als er selbst und mindestens sechs oder sieben Jahre älter. Mit gezogenem Schwert sagte er mahnend: „Du solltest vielleicht auch nicht mit uns kämpfen. Denn wenn du wie ein Schlachtschwein aus deinem Mund blutest, weil ich dir deine dreckige Zunge herausgeschnitten habe, ist das auch nicht gerade unauffällig.“

Gennaro starrte grimmig und schweigend auf ihn herab. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck in mitleidig und er wandte sich wieder Akinna zu. „Hat dieser Kampfzwerg noch andere Qualitäten, außer dass er lebensmüde ist? Denn ich finde keinen erkennbaren Grund, warum du glaubst, dass er der Richtige für die Aufgabe sein sollte.“

„Du redest zu viel und urteilst zu schnell“, antwortete Akinna. Man merkte ihr nun an, dass das Verhalten von Gennaro und vielleicht auch das von Dantra sie nervte. Sie stellte sich neben Dantra und umfasste dessen Schwertklinge, die unmittelbar darauf in vollkommener Schönheit und magischem Glanz erstrahlte. Gennaros Augen weiteten sich vor Überraschung. „Er hat es von E’Cellbra bekommen“, erklärte Akinna. „Allein das verlangt, ihn dafür in Betracht zu ziehen.“ Dantra warf Akinna einen strafenden Blick zu. Eigentlich wollte er nicht einmal, dass sie von seiner Bekanntschaft zu E’Cellbra wusste. Und nun erzählte sie es einfach einem Haufen Fremder, deren Anführer anscheinend auch noch ein arroganter Schwachkopf war. Doch Akinna nahm seine Rüge entweder nicht wahr oder ignorierte sie einfach. „Und nun gib deinen Worten endlich einen Sinn und stelle mir die beiden Neuen in deinen Reihen vor“, sagte sie auffordernd zu Gennaro, der seinerseits noch einen zweifelnden Blick auf Dantra warf, um anschließend zu tun wie ihm geheißen.

„Das ist Galasso.“ Er deutete auf einen jungen Mann mittlerer Größe, der den Eindruck erweckte, er könne mit dieser Art zu leben nichts anfangen, da er bisher einen Lebensstil gepflegt hatte, der mit Im-Wald-schlafen und Essen-über-einem-Lagerfeuer-zubereiten nichts zu tun hatte. „Er ist seit gut vier Monaten bei uns. Sein Bruder sollte seinen erstgeborenen Sohn hergeben. Als er sich der Rekrutierung widersetzte, haben sie ihn mitgenommen. Seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Und das hier ist Peewee.“ Nun war eine junge Frau an der Reihe, die über beide Backen grinste.

Nachdem ihr Name gefallen war, redete sie los, als hätte ihr jemand bis dahin den Mund zugehalten. „Hallo Akinna. Darf ich Akinna sagen?“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern streckte der Elbin ihre Hand zum Gruß entgegen, die Akinna etwas missmutig und wohl nur aus dem Grund nahm, weil man Peewee anmerkte, dass es das Größte für sie war, einer Elbin einmal die Hand zu schütteln. „Es ist mir so eine große Ehre, dich kennenzulernen und vor allem an deiner Seite zu kämpfen. Ich habe schon so viel von dir gehört und ...“

„Ja, Peewee, ist ja gut. Sie freut sich sicher auch, dich kennenzulernen.“ Mit diesem Satz brachte Gennaro Peewee zum Schweigen und zum Erröten gleichermaßen.

Dantras Wut kochte wegen dieser herablassenden Art erneut hoch. Doch er hielt sich zurück und schwieg, denn Akinna stellte ihn nun den anderen vor, anschließend Comal. Mit den übrigen beiden aus Gennaros Truppe wurde er nicht bekannt gemacht. Da Akinna sie bereits aus früheren Tagen kannte, hielt das wohl niemand für nötig. Erst aus den weiteren Gesprächen hörte Dantra ihre Namen heraus. Despie war eine stämmige Frau, die von hinten gesehen auch ohne Probleme als Mann durchgehen würde. Die braunen Haare hingen ihr struppig und ungepflegt ins Gesicht. Sie streunte unaufhörlich um Gennaro herum. Aber nicht etwa, um sich an dessen Gesprächen zu beteiligen, eher so, als würde sie nur darauf warten, ihm in irgendeine Weise einen Gefallen tun zu können. Das andere Gruppenmitglied, ein Mann, der rein optisch mindestens doppelt so alt war wie Dantra, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Comal. Er war nur in allem ein bisschen kleiner und hatte einen speckigen Hut auf dem Kopf. Capra war sein Name. Er zog gemächlich an einer Pfeife, die er hin und wieder nachstopfte. Als er bemerkte, dass Dantra ihn beobachtete, grinste er ihn freundlich an und sagte, ohne dafür die Pfeife aus dem Mundwinkel zu nehmen: „Interessantes Schwert. Hoffe, du kannst auch damit umgehen.“

Dantra wollte gerade antworten, als erneutes Rascheln irgendwo in der Tannenschonung zu hören war. „Das werden die Gecko-Brüder sein“, stellte Akinna fest, „sie waren nicht weit hinter uns.“

Dantra hatte sich auf dem Weg zu ihrem Treffen hin und wieder umgesehen. Es war ihm niemand aufgefallen, der ihnen, ob gewollt oder zufällig, gefolgt wäre, zumal der Weg, den sie gegangen waren, sich über lange Zeit durch den Wald geschlängelt und kaum freie Sicht nach hinten geboten hatte. Doch als drei durchtrainierte Männer die letzten Äste beiseiteschoben und sich vor ihnen aufbauten, wurde Dantra klar, woher Akinna wusste, dass sie hinter ihnen her gegangen waren. Die drei gehörten zu der Gauklertruppe, deren Aufbruch Dantra am Morgen beobachtet hatte.

Gut gelaunt wurden Hände geschüttelt, Umarmungen ausgetauscht und es folgte erneut eine Vorstellungsrunde, in der Dantra, Comal, Galasso und Peewee den drei Neuankömmlingen bekannt gemacht wurden. Für die höfliche Geste, nun auch die Namen der Artisten zu nennen, sah man erneut keine Veranlassung, was Dantra zunehmend ärgerte. Wieder musste er aus den Gesprächen heraushören, wer wer war.

Zwei von ihnen flachsten ständig und machten Sprüche, über die sich die anderen amüsierten. Der mit dem Oberlippenbart hieß Revilo, der andere Nats.

Über den dritten Gaukler war bisher nicht gesprochen worden, somit kannte Dantra seinen Namen auch nicht, als dieser unheilvoll seinen Zeigefinger hob und mahnte: „Jeder dritte neue Kämpfer für die Sache überlebt den ersten Kampf nicht, das hat die Vergangenheit uns mehr als nur einmal bewiesen. Und wir haben heute gleich drei neue Kämpfer hier.“ Seine Augen wanderten fast panisch von Peewee über Galasso zu Dantra und wieder zurück, als würde er versuchen, den Todeskandidaten ausfindig zu machen.

Capra war es, der der beklemmenden Stille brummig ein Ende setzte. „Ach, was du wieder redest, Chaspe, du alter Schwarzseher. Was die Vergangenheit uns zeigte, dem kann die Zukunft immer noch trotzen. Sie sind alle drei hervorragende Kämpfer. Nicht wahr, Peewee?“ Er legte seinen stämmigen Arm um Peewees Schultern und drückte sie aufmunternd an sich. Die düstere Vorhersage hatte ihre Lippen blass werden lassen und ihren Frohsinn verjagt. Capras Worte kamen da genau richtig. Sie zwang sich zu einem Lächeln, und ihr leicht rundes, aber dennoch hübsches Gesicht fand langsam wieder zurück zu seiner begeisterten Ausstrahlung. „Und nun lasst uns endlich losgehen und diesen Hornochsen das bisschen Hirn, das sie haben, aus ihren hässlichen Schädeln kloppen“, brüllte Capra in die Runde. Er machte drei Schritte in die Richtung, in die sie mussten, und drehte sich auffordernd zu Akinna und Gennaro um.

„Er hat recht“, bestätigte Akinna, „wir haben schon viel zu lange geredet. Wir wollen doch alle noch vor der Abenddämmerung wieder unserer Wege gehen.“ Sie und Gennaro schritten voran, die anderen folgten in kleinen Grüppchen.

Peewee, die schon nach kürzester Zeit ihre Freude am Reden wiedergefunden hatte, gesellte sich zu Dantra. „Und du reist mit Akinna?“ Für eine Antwort, und wäre es nur ein schlichtes Ja gewesen, war die Pause nach ihrer Frage viel zu knapp. „Das ist so aufregend. Ach, ich beneide dich so. Ich wette, sie hat dir schon viel aus vergangenen Tagen erzählt. Sie ist so weise und viel herumgekommen.“

„Sie ist nicht älter als wir beide. Von weise kann man da wohl nicht ...“

„Ich glaube, wenn man mich ließe, wie ich wollte, würde ich ihr mindestens hundert Fragen auf einmal stellen.“

„Ja, das glaube ich dir. Aber die Anzahl der Antworten, die du bekommen würdest, könntest du an einer Hand abzählen.“

„Eine Elbin. Eine echte Elbin! Und wir werden mit ihr zusammen in den Kampf ziehen. Mit ihr zusammen! Hast du schon mal an ihrer Seite gekämpft?“

„An ihrer Seite nicht direkt. Aber ich habe sie schon töten, äh ... ich meine, kämpfen sehen.“

„Sie strahlt so eine Erhabenheit aus.“

„Das ist keine Erhabenheit. Das ist Arroganz.“

„Ob sie mich wohl mag?“

„Nein!“

„Was? Warum nicht?“

Das war das erste Mal, dass sie auf Dantras Antwort eine Reaktion zeigte, was ihn freute. Hatte er doch bis dahin das Gefühl gehabt, dass es egal wäre, was er erzählte. Für Peewee schien Akinna ohnehin unantastbar zu sein. „Du bist doch ein Mensch, oder?“

„Ja, sicher.“

„Siehst du? Akinna hasst die Menschen. Alle Menschen! Sie sagt allen Ernstes, der Mensch sei der Kollateralschaden der Evolution.“

Peewee nahm sich, was Dantra bei ihr für unmöglich gehalten hatte, eine schweigende Denkpause. Aber bereits nach wenigen Schritten sah sie wieder zu ihm hinüber und stellte ernüchtert fest: „Sie hat ja so recht. Ich sag ja, sie ist so weise.“ Peewee war Dantra auf Anhieb sympathisch gewesen. Aber ihre unanfechtbare Begeisterung für Akinna ging ihm doch etwas auf die Nerven. Nach drei Anläufen gelang es ihm, das Thema zu wechseln. „Wie bist du eigentlich zu Gennaro und seinen Leuten gekommen?“

„Capra ist mein Großonkel. Er hat mich damals zu sich genommen, als sonst niemand mehr da war.“

Dantra war sich nicht sicher, ob er die nächste Frage, die sich ihm aufdrängte, an sie weitertragen konnte oder ob sie vielleicht doch zu direkt war. Da ihre Laune aber bisher ungetrübt war, riskierte er es. „Was ist mit deinen Eltern?“

„Meine Mutter starb, als ich noch klein war, und mein Vater ...“ Sie stockte und Dantra konnte sehen, dass sie schlucken musste.

„Hätte ich doch nur meine Schnauze gehalten“, dachte er und suchte fieberhaft nach einer Ablenkung.

Doch Peewee redete weiter, wenn auch nun betrübt und mit gesenktem Kopf. „Wir lebten in einem freien Dorf. Unser Haus stand etwas abseits. Sie kamen nachts und stanken nach Bier und Schweiß. Sie wollten Geld oder wenigstens etwas, was sie zu Geld machen konnten. Doch wir waren sehr arm. Es war nichts da, womit sie sich zufriedengeben wollten. Und dann sahen sie mich. Sie hatten kein Interesse mehr an irgendwelche Sachen, die mein Vater ihnen bittend und bettelnd unter die Nase hielt. Sie wollten mich. Jeder von ihnen wollte mich. Mein Vater kämpfte wie ein Bär. Selbst als ihm bereits ein Pfeil die Schulter durchbohrt hatte und er durch mehrere Stichwunden von ihren dreckigen Messern und alten Schwertern mit Blut überströmt war, prügelte er immer noch unerbittlich mit seinen bereits aufgerissenen Fäusten und allem, was er zu greifen bekam, auf sie ein.“

„Ein mutiger Mann, dein Vater“, sagte Dantra leise und verunsichert. Es gab nichts, was ihn so schnell aus der Bahn warf, aber wenn jemand neben ihm weinte und ihm sein Herz ausschüttete, wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte oder welche Worte die richtigen waren. Und Peewee hatte genau diese gerade bitter nötig, denn ihr rollten nun dicke Tränen die Wangen hinunter.

„Ja, mutig war er“, schluchzte sie, „aber zum Schluss waren es einfach zu viele. Als er zu Boden fiel, traten sie noch auf ihn ein, obwohl er sich schon lange nicht mehr bewegte. Er hatte den Kampf verloren.“ Sie seufzte tief. „Wir hatten den Kampf verloren.“ Dantra sah sich verlegen nach den anderen um. Doch die hatten von ihrem Gespräch nichts mitbekommen. Sie redeten selbst miteinander oder waren in ihre eigenen Gedanken vertieft. Peewee schwieg noch eine Zeit lang, wurde aber zunehmend wieder fröhlicher, was nicht zuletzt daran lag, dass Dantra ihr einige Erlebnisse aus dem Klosterheim erzählte, von denen die meisten unfreiwillig komisch waren. Man hätte vermuten können, die Gruppe wäre auf einer Wanderung, gut gelaunt und sorgenfrei. Bis Akinna stehen blieb, ihren Arm hob und in die Hocke ging. Die anderen taten es ihr sofort gleich und schwiegen.

„Es ist zwar noch ein Stück zu laufen, bis wir am Hof der Falkenfänger sind“, erklärte sie, „jedoch sind wir bereits nah genug, um mit Beobachtern rechnen zu müssen. Also, Augen auf und so leise wie möglich bewegen.“

Jeder schien den Ernst der Lage zu begreifen und verhielt sich dementsprechend. Selbst Comal bewies Geschick beim schleichenden Gang. Dantra fand es faszinierend, wie sich so eine große Gruppe fast lautlos und doch zügig bewegen konnte. Sie waren gerade dabei, eine kleine Anhöhe hinaufzugehen, als Akinna erneut ihre Hand hob. Wieder blieben alle stehen und duckten sich. Gennaro und die Elbin hatten beim Haltekommando bereits das Ende der Erhebung erreicht. Akinna drehte sich zu den anderen um und gab ihnen in Zeichensprache unmissverständlich zu verstehen, dass sie einen Beobachtungsposten ausgemacht hatten und dass sie diesen umgehen mussten. Als sie sich wieder in Bewegung setzten, wartete Dantra, bis ihre Anführerin von der Anhöhe heruntergestiegen war.

„Könntest du den Posten nicht mit einem gezielten Pfeil unschädlich machen?“, flüsterte er ihr zu.

„Du meinst, ihn töten?“, gab sie zurück und schaute ihn provozierend mit einem gespielt überraschten Gesichtsausdruck an.

„Sehr witzig“, brummte Dantra. „Es läuft doch ohnehin darauf hinaus, dass du so viele tötest, wie du kriegen kannst, warum also verschonst du ihn? Ich meine, das ist zwar nett, aber es erschließt sich mir nicht ganz.“

„Beobachter, die auf Bäumen ihre Aufgabe verrichten, sind ein sehr leichtes Ziel für einen geübten Bogenschützen. Daher binden sie sich metallische Gegenstände wie Töpfe und Löffel an ihren Gürtel. Wenn du ihm also einen Pfeil direkt in den Hals verpasst, kann er zwar seine Leute nicht mehr mit seinem Geschrei warnen, aber das Herunterfallen vom Baum macht einen unüberhörbaren Lärm.“

Es dauerte noch einige Zeit, bis Dantra durch die nun lichter werdenden Bäume hindurch ein Gebäude erspähen konnte. Ab hier robbten sie alle flach auf dem Boden liegend voran. Der Starkregen, der kurz zuvor eingesetzt hatte, machte diese Prozedur nicht gerade angenehmer. Jedoch war es notwendig, wenn sie bis zum Waldrand unentdeckt bleiben wollten.

Dort angekommen konnte sich Dantra ein Bild von der Lage machen. Vor ihm lag ein Gehöft, das aus drei Gebäudeteilen bestand, die in U-Form angeordnet waren. Um den gesamten Gebäudekomplex war eine Holzpalisade errichtet, die nach außen hin mit unzähligen angespitzten Pfosten versehen war, sodass sie aussah wie ein eingerollter Igel. Nach hinten hin öffnete sich die Umgebung und freie Felder bestimmten die Landschaft. Die anderen drei Seiten waren vom Wald, der bis auf geschätzte dreihundert Schritte an das Gehöft heranreichte, eingeschlossen. Dazwischen schien eine einst schöne, saftige Wiese zu liegen, die nun aber nur noch vereinzelt durch Dreck und Matsch erkennbar war. Mindestens drei Dutzend Männer lungerten dort herum. Sie saßen auf Baumstämmen, rösteten irgendetwas nicht Erkennbares über aufgrund des Regens nur noch schwach lodernden Grubenfeuern und zwischendurch schoss der ein oder andere einen Pfeil willkürlich auf den Innenhof des belagerten Gehöfts.

Akinna teilte die Gruppe in drei Trupps auf, von dem sie selbst einen anführte. Sie erklärte, dass ihr erster Pfeil das Angriffssignal für alle sei, und schickte dann die anderen beiden Trupps auf ihre Positionen. Auf Dantras fragenden Blick hin antwortete sie: „Wenn wir uns verteilen, können wir über eine größere Breite angreifen. So gehen uns weniger durch die Lappen.“

„Das schon“, antwortete er, gab aber zu bedenken: „In einer größeren Gruppe ist man allerdings weniger verwundbar.“

„Verwundbar? Die Feiglinge werden das Weite suchen, sobald sie uns sehen.“ Nach einem kurzen Blick zurück auf den Ort des Geschehens fügte sie noch hinzu: „Aber egal, was passiert, du darfst nicht deine magischen Kräfte einsetzen, verstanden?“

„Ja, ja, ich weiß. Falls sich doch einer deinen Pfeilspitzen entziehen kann, hätten wir sonst ein ziemlich großes Problem.“

„Richtig. Aber auch auf unserer Seite sind zwei Neue, die ich nicht kenne. Und wen ich nicht kenne, dem traue ich auch nicht.“

Die Zeit verging. Akinna beobachtete das Treiben vor sich und schaute gelegentlich nach links und rechts, als wollte sie sehen, ob die anderen schon in Position waren. Das war allerdings wegen kleinerer Hügel und wegen des Strauchbewuchses unmöglich.

Dantra wurde zunehmend ungeduldiger. „Woher willst du wissen, dass alle ihre Angriffsstellung eingenommen haben?“

„Ich weiß es eben.“

„Gut, und wann ist es so weit?“

„Etwas dauert es noch“, antwortete Akinna genervt, „und jetzt halt deinen Mund und übe dich in Geduld.“ Sie lenkte mit ihrem Blick auch Dantras Aufmerksamkeit zurück auf die regendurchtränkte Moderwiese. Einer der Männer war aufgestanden und ging auf das Tor der Palisadenumzäunung zu. Zwei tote Kühe lagen davor. Ihre gewichtigen Körper waren mit Pfeilen übersät. Man konnte leicht erkennen, dass diese alle von hinten auf ihr Ziel abgefeuert worden waren. Anscheinend hatte man noch vergebens versucht, das Vieh in Sicherheit zu bringen, als die Banditen anrückten.

Der Mann stellte sich direkt vor einen der beiden Kadaver und rief: „Hey, ihr da drin? Wollt ihr dieses Vieh nicht wenigstens noch essen, wenn es euch schon keine Milch mehr geben kann? Ihr könnt sie unbesorgt reinholen. Es passiert euch auch nichts. Ich gebe euch mein Wort.“ Einige der anderen lachten kurz auf. „Ich sag euch was“, fuhr der Wortführer fort, „ich werde euren Festschmaus sogar schon mal für euch würzen.“ Er fasste sich in die Hose und holte das heraus, was wahrscheinlich seiner Meinung nach der Größte von ganz Umbrarus war, und urinierte auf den leblosen Tierkörper. Die anderen kugelten sich vor Lachen.

Trotz des Gegröles nahm Dantra das Summen der Sehne wahr, die sich neben ihm in diesem Moment entspannte. Akinna hatte einen Pfeil abgeschossen. Zwei Sachen waren damit klar. Erstens, der Angriff begann, und zweitens, in dem vermeintlich Größten von ganz Umbrarus steckte nun ein Pfeil, der auf seinem Weg auch gleich die haltende Hand durchbohrt hatte. Der schmerzerfüllte Schrei des Mannes war nur von kurzer Dauer. Der zweite von Akinna abgefeuerte Pfeil traf ihn direkt in den Hals und so fiel er röchelnd vornüber in seinen eigenen Urin. Bevor die übrigen Männer überhaupt richtig begriffen, was passiert war, stürmten bereits die anderen beiden Trupps mit kampfbereit erhobenen Waffen, begleitet von zu allem entschlossenen Gebrüll, auf sie los. Und auch Dantra stürmte Akinna und Peewee hinterher auf das Schlachtfeld.

Bevor das Gefecht Mann gegen Mann überhaupt beginnen konnte, hatte Akinna bereits vier von ihnen mit gezielten Pfeilen niedergestreckt. Nun aber entbrannte für jeden der Kampf ums eigene Überleben. Dantra hatte sich nach Akinnas prophezeienden Worten darauf eingestellt, ein paar flüchtigen, verlotterten Banditen schreiend hinterherzulaufen. Diese Männer, einer größer und breiter als der andere, machten allerdings keinerlei Anstalten zu flüchten. Im Gegenteil, sie kamen ihnen sogar entgegengestürmt. Der Erste, auf den Dantra traf, schleuderte, ohne zu zögern und mit voller Wucht, eine Eisenkugel, die an einer Kette hing auf Dantras Kopf zu. Dieser duckte sich und wich dem Angriff aus. Gekonnt ließ der wütend schnaufende Kerl die Kugel einmal in der Luft kreisen, sodass sie erneut blitzschnell auf Dantras Kopf zuraste. Erneut wich er aus. Der ganze Vorgang wiederholte sich ein ums andere Mal. Dantra suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Er kam überhaupt nicht nah genug an seinen Gegner heran, um den Kampf mit seinem Schwert zu erwidern. Und seine magische Kraft einzusetzen, war ihm ausdrücklich untersagt. Mittlerweile hatte er den Überblick verloren, wer von seinen Leuten gerade wo und gegen wen kämpfte. Aber er war sich sicher, dass er der Einzige war, der rückwärts über den matschigen Acker getrieben wurde. Erst ein Pfeil, der sein bissiges Gegenüber ins Rückenmark traf, beendete endlich das peinliche Schauspiel. Dantras Blick fiel auf Akinna, die einige Schritte vor ihm stand.

Sie legte bereits ein neues Geschoss auf die Sehne und rief dabei: „Den Nächsten erledigst du alleine. Aber ohne vorher mit deinen mittelmäßigen Tanzkünsten zu prahlen.“

„Als wäre meine Unbeholfenheit nicht schon peinlich genug, da musst du natürlich noch einen obendrauf setzen“, murmelte Dantra vor sich hin. „Aber wenn ich gleich mit meiner magischen Kraft unkontrolliert um mich werfe, dann will ich kein Nörgeln hören. Denn dann bist du schuld.“ Beleidigt zu sein konnte einem hier schnell den Kopf kosten. Dessen bewusst lenkte er seine ganze Konzentration wieder auf das Wesentliche. Auf die Schlacht. Doch auch als einer der Banditen mit einem Schwert auf ihn losging und er dessen Angriff problemlos parieren konnte, hatte Dantra dennoch seine Schwierigkeiten. Denn es widerstrebte ihm zutiefst, den tödlichen Stoß zu setzen. Und das, obwohl er den Hieb schon so abgewehrt hatte, dass der Mann neben ihm ins Straucheln gekommen war und er eigentlich nur noch zuschlagen musste. Aber seine Hände zitterten, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Die Selbstzweifel, ob er nicht lieber mit Comal in einem sicheren Versteck hätte ausharren sollen, bis das Gemetzel vorbei wäre, wichen schnell einer wachsenden Zufriedenheit. Denn es schien ihm, als sei er der Einzige auf diesem Schlachtfeld, der noch wahre Menschlichkeit in sich trug und keine gefühllose und abgestumpfte Kreatur war, der ein Leben nichts bedeutete. Er entschloss sich, sein Schwert so zu drehen, dass er dem Mann die breite Seite anstatt der scharfen über den Schädel zog und dieser so nur bewusstlos zu Boden ging.

Es blieb ihm keine Zeit, seine Kampftaktik nochmals zu überdenken. Es fehlte nicht viel und seine instinktive Drehung wäre seine letzte Handlung gewesen. So aber konnte er noch knapp dem nächsten auf ihn niedergehenden Hieb ausweichen und dabei seine Schwertspitze in der Wade seines Gegners versenken, der daraufhin schreiend in den Dreck fiel. Nun hatte Dantra für einen kurzen Moment die Zeit, sich einen kleinen Überblick zu verschaffen, sofern das der immer stärker werdende Regen zuließ. Es schien so, als wären nun mehr Banditen auf dem Feld als noch vor Beginn des Kampfes. Mit beunruhigenden Befürchtungen sah er, wie aus dem Wald, der ihnen gegenüberlag, noch weitere Männer in die Schlacht stürmten.

Ein lautes Kreischen lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Gehöft. Einige Falken stiegen von dort empor und flogen auf sie zu. Er hätte sie zu gerne dabei beobachtet, wie sie sich in den Kampf mit einbrachten. Doch er musste stattdessen sein ganzes Können am Schwert aufbringen, da er von zwei Banditen gleichzeitig attackiert wurde. Er kämpfte, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Dabei achtete er aber weiterhin darauf, seine Gegner nur zu verletzen. Getötet hatte er noch keinen von ihnen, was ihn mit einem beruhigenden Stolz beflügelte.

Doch diese Taktik beizubehalten, wurde zunehmend schwerer. Unkontrolliert zuzuschlagen war wesentlich leichter und damit auch schneller als gezielte Hiebe. Und da die Übermacht von Banditen stetig zunahm, war es genau das, was von ihm gefordert wurde. Dantra versuchte, Akinna ausfindig zu machen. Die zahllosen Angriffe und der heftige Regen ließen ihm aber keine große Chance. Also entschloss er sich, einfach zu rufen. Weit konnte sie ja nicht sein. „Akinna! Nur mit Schwertern schaffen wir es nicht!“

Es dauerte nicht lang und er hörte sie kurz und knapp antworten: „Denk nicht mal dran! Es muss ohne gehen!“

Dantra hatte gerade wieder einen Doppelangriff erfolgreich abgewehrt, als er hinter sich ein kurzes Aufstöhnen hörte und ihm zugleich warmes Blut in den Nacken spritzte. Er sah sich um. Vor ihm ging ein Mann zu Boden, der sein Schwert noch am ausgestreckten Arm in Schlaghaltung hielt, dessen Gesicht jedoch von einer klaffenden Wunde überzogen war. Hinter ihm kam Peewee zum Vorschein. Sie lächelte Dantra an, was ihm in diesem grausigen Todesgetümmel vorkam wie der erste wärmende Sonnenstrahl nach einem langen, harten Winter.

„Das war knapp“, sagte sie.

„Ja, das war es wohl“, lächelte Dantra zurück. „Vielen Dank.“

Doch in diesem Moment erstarb Peewees Seelentrost spendender Gesichtsausdruck. An seine Stelle traten nun weit aufgerissene Augen mit zu einem Schreien aufgerissenen Mund, dem jedoch kein Ton entwich. Dantra sah auf ihren Bauch. Schock. Panik. Das Gefühl, in einem Augenblick gefangen zu sein, der nicht real war. Der nicht sein durfte. Wie ein Traum ohne erlösendes Erwachen. Die Spitze eines Schwertes, benetzt mit ihrem Blut, ragte ihm aus ihrem Bauch heraus entgegen. Ihr Blick folgte dem von Dantra. Dorthin, wo hellrotes Metall ihr ihren sicheren Tod vor Augen führte. Sie sah auf. Hilflos. Flehend. Eine Spur erlöst. Ein kaum wahrnehmbares Geräusch von unbeschreiblichem Schmerz entglitt ihrer Kehle, als die Schwertspitze mit einem Ruck ihren Körper wieder verließ. Sie sank auf die Knie. Wankend. Halt suchend. Hinter ihr stand ein Mann, dessen Augen durch den Wahnsinn des Tötens ein kranker Glanz verliehen wurde. Er hatte sie besiegt. Wenn auch hinterhältig, rücklings. Dennoch würde er sich mit dieser feigen Tat vor dem anderen Gesindel rühmen. Bereit, sein Werk zu vollenden, hob er das Schwert, beide Hände fest am Griff, über seinen Kopf. Dantras Handeln war nun nur noch von Hass gelenkt, gegenüber dem Mörder und wieder einmal gegenüber sich selbst. Denn der Mann, dem nach zwei schnellen Schritten Dantras Elbenschwert im Hals steckte und dessen Augen nun selbst ein ängstliches Flehen widerspiegelten, war ihm in dieser Schlacht schon einmal gegenübergestanden. Doch hatte Dantra ihn nur verletzt.

„Kein Töten. Wenn es vermeidbar ist, kein Töten.“ Dieser Gedanke hatte bis dahin sein Kampfverhalten gesteuert. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Glaubte er wirklich, wenn er sie verschonte, würde das seine Angreifer wieder auf den rechten Weg der Tugend zurückbringen? Dachte er wirklich, ein Mann, der lebte, um zu töten und zu rauben, würde am Boden bleiben, weil ihm eine Schnittwunde zugefügt worden war? Was hatte er damit nur erreichen wollen? Töten. Hier und jetzt war es unvermeidbar. Er zog das Schwert zurück, verfolgt von spritzendem Blut, und der tödlich Verletzte sank zu Boden.

Auch Peewee, die mit gesenktem Kopf noch immer zwischen den beiden kniete, fiel nun leblos zur Seite in den hässlich braunen Schlamm. Dantra sah auf sie herab. Beobachtete, wie der Regen auf sie niederprasselte. Wie das Blut sich schwallartig durch ihr selbst gewebtes Gewand drückte. Wie ihr Schwert, mit dem sie gerade noch sein Leben gerettet hatte, nun nutzlos in ihrer offenen Hand lag.

„Es ist ein Hinterhalt!“ Comals brüllende Stimme riss ihn aus seiner Trance.

Dantra sah auf. Es grenzte an ein Wunder, dass ihm niemand den Schädel eingeschlagen hatte. Denn während um ihn herum das todbringende Chaos herrschte, hatte er nur dagestanden und geschockt auf Peewee heruntergeblickt. Aber nun war seine Aufmerksamkeit, wenn auch nur widerwillig, zum Kampf zurückgekehrt. Er versuchte, Comal zu finden. Doch schien dieser noch im schützenden Wald zu sein. Einen Hünen seiner Art konnte man auf dem freien Feld nicht übersehen. Dafür erkannte Dantra aber, was Comal mit Hinterhalt meinte. Auf dem Weg, der aus dem Wald über das freie Gelände zum Tor führte, kamen mehrere Reiter auf sie zugaloppiert.

Auf den meisten Pferden saßen immer zwei Reiter. Der vordere in eine Rüstung gekleidet, der hintere leicht und beweglich. Sie ritten um das Schlachtfeld herum und umzingelten sie. Dantra konnte ihr genaues Vorhaben aber nicht weiter beobachten, er war erneut in offene Kampfhandlungen verstrickt. Aber ab jetzt ließ er das Elbenschwert das tun, wofür es einst gemacht worden war. Keine Verletzungen, kein Erbarmen, kein Risiko. Zwischendurch hatte er immer wieder kurz die Gelegenheit, einen Blick auf den einen oder anderen Reiter zu werfen. Sie schienen alle auf denselben Punkt fixiert zu sein. Auf welchen, erkannte Dantra in dem Moment, als sie begannen, Pfeile darauf zu schießen. Es war Akinna. Sie ritten einen Angriff nach dem anderen. Es war zwar allseits bekannt, dass die von Menschenhand gefertigten Pfeile ein elbisches Wesen nicht töten konnten, jedoch beschlich Dantra ein ungutes Gefühl, da das den Banditen sicher ebenfalls bewusst war und diese gewiss noch eine wirkungsvollere Taktik gegen sie verfolgten.

Er kämpfte sich Mann um Mann näher an Akinna heran. Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, sah er sie bereits am Boden liegen. Die Reiter hatten Netze auf sie geworfen. Wobei der vordere gerüstete Reiter dem hinteren, der das Netz warf, Deckung und Schutz bot. Und selbst wenn der Pfeil die Rüstung durchbohrte, so war sie doch dick genug, um zu verhindern, dass der Pfeil hinten wieder austrat. Die einzig wirkungsvolle Waffe gegen die Reiter waren die Krallen und Schnäbel der Falken. Im Sturzflug attackierten sie die Männer am Kopf und im Gesicht. Sie krallten sich fest und hackten auf sie ein. Aber auch wenn sie alles ihnen Antrainierte in die Tat umsetzten, waren es einfach zu wenig Falken und zu viele Banditen. Wenn sie es einmal schafften, dass einer von ihnen vom Pferd fiel, so schwang sich sofort der nächste wieder drauf. Denn das war es, worauf der Plan ihrer Gegner basierte: ihre zahlenmäßige Überlegenheit.

Akinna war nun fast vollständig bewegungsunfähig. Es war ein seltsamer Anblick, die sonst so stolze und scheinbar unbesiegbaren Elbin, die einem Volk angehörte, das dem der Menschen in allem uneinholbar überlegen war, hilflos auf dem Boden liegen zu sehen. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke und Dantra erkannte, dass, auch wenn bereits einige der Banditen an sie herangetreten waren und mit Knüppeln auf sie einschlugen, ihr Stolz noch lange nicht gebrochen war. Ihr nun folgender Befehl, wenn auch mit fester Stimme ausgesprochen, schien diese Beobachtung allerdings etwas infrage zu stellen. „Tu es, Dantra! Tu es jetzt!“

Natürlich wusste er genau, was sie meinte, doch während er noch zwei weitere Angreifer niederstreckte, stieg ein Groll in ihm auf, der ein sofortiges Handeln verhinderte. Als er ihr gesagt hatte, dass sie es nicht ohne seine Magie schaffen würden, hatte sie es ihm noch einmal ausdrücklich verboten. Doch hätte sie Dantra geglaubt und die rettende Kraft schon da von ihm gefordert, würde Peewee wahrscheinlich noch leben. Nun aber, da sie selbst in Bedrängnis war, in einer schier ausweglosen Situation, sollte er den Sieg mit seiner Magie herbeiführen. Für einen kurzen Augenblick rissen seine Vorwurfsgedanken ab und er machte sich stattdessen bewusst, warum er überhaupt hier war. Es war die Schuld, die er bei ihr abzutragen hatte, die ihn in diesem Moment an diesem unheilvollen Ort sein ließ. Dennoch widerstrebte es ihm, ihr nun zu helfen, da sie selbst sich doch anscheinend in keiner Weise für ihre eigenen Leute und die Gefahr, in der diese sich befanden, interessierte.

Es war Capra, der ihn dazu brachte, das zu tun, was Akinna von ihm erwartete. Er hockte neben seiner Großnichte, neben dem ausgebluteten und bleich gewordenen Körper von Peewee. Durch den langsam nachlassenden Regen und das Gewirr der Schlacht sah er zu Dantra herüber und brüllte ihn nach Leibeskräften an: „Nun mach schon! Was es auch ist, was sie von dir verlangt. Tu es! Tu es jetzt!“ Augenblicklich war die Dringlichkeit da, die Dantra brauchte, um sogleich zu handeln. Im Rücken des trauernden Capra baute sich gerade einer der Banditen auf, um ihm das gleiche feige Schicksal zukommen zu lassen, das auch Peewee erleiden musste. Im Bruchteil eines Wimpernschlags flog erst sein direktes Gegenüber und dann der Feigling hinter Capra haltlos durch die Luft.

Dantra steckte sein Schwert weg, als wollte er mit dem Ganzen nichts mehr zu tun haben. Er sammelte seine Konzentration und seine Kraft. Und schon brach es aus ihm heraus. Der Hass, die Wut, die Genugtuung, dass sie endlich das bekamen, was sie verdient hatten. Er traf die Schläger über Akinna mit solch einer Wucht, dass sie nicht nur nach hinten weggedrückt wurden, sie überschlugen sich auch mehrmals in der Luft und keiner von ihnen stand nach seiner unkontrollierten Ladung wieder auf. Denn auch jetzt, das Schwert am Gürtel und mit seiner Magie kämpfend, gab es für Dantra keine Kompromisse mehr. Die Banditen schlugen ihrerseits gnadenlos und mit aller Härte zu, also sollten sie genau das mit gleicher Münze zurückbekommen.

Wenn es ging, zielte Dantra punktgenau, und wenn nicht, musste ihm beziehungsweise seinen Mitstreitern das Glück helfen. Es machte den Eindruck, als würde er mit unsichtbaren Gesteinsbrocken nach den Halunken werfen. Zuerst kämpfte er gegen die, die in seiner Nähe waren, danach bekamen auch die anderen, die zu Pferd angriffen, ihren Anteil ab. Anschließend nahm er sich die größeren Gruppen vor, die nun wie von Akinna vorausgesagt die Flucht ergriffen. Er überwältigte sie, indem er ihnen die auf dem Feld verstreuten Baumstämme hinterherschleuderte. Mit dem letzten fallenden Regentropfen war auch der letzte Bandit niedergestreckt. Eine Stille kam auf, die unwirklicher nicht sein konnte. Nur das Winseln und Jammern der Verletzten und Sterbenden, die zwischen den zahllosen Toten lagen, war zu hören. Es hatte den Anschein, als hätte sich das Tor zur Hölle aufgetan und dessen Hausherr hätte hier unbarmherzig gewütet, um kurz darauf auf gleiche teuflische Weise wieder zu verschwinden. Was zurück blieb, waren Chaos, Tod und Trauer. Schnell war klar, dass es in den eigenen Reihen zwar Verletzte gab, das Schicksal, im Kampf gefallen zu sein, teilte aber niemand mit Peewee. Nachdem die anderen dafür gesorgt hatten, dass das Jammern der fluchtunfähigen Banditen verstummt war, versammelten sie sich alle um den Leichnam ihrer Kampfgefährtin. Ein jeder schien stumm Abschied von ihr zu nehmen. Chaspe war der Erste, der das Wort erhob. „Ich hab es ja gesagt. Von dreien überlebt ...“

Das kalte Metall von Capras Messer an seiner Kehle ließ ihn verstummen. Hatte dieser gerade noch Peewees leblose Hand gehalten, war er nun aufgesprungen und drohte Chaspe mit bebenden Lippen: „Noch ein einziges von deinen Unheil bringenden Worten und dieses war auch deine letzte Schlacht.“

Gennaro trat an Capra heran und legte ihm seine Hand auf den Arm, an dessen Ende die Klinge das Sonnenlicht, das sich nun einen Weg durch die Wolken bahnte, widerspiegelte. „Worte, und seien sie noch so dumm und unangebracht, bekämpft man mit Worten. Also, lass es gut sein und steck das Messer wieder ein. Du wirst sicher noch oft die Gelegenheit haben, es zu nutzen, um Peewees Tod hundertfach zu rächen.“

Capra löste seinen zu allem entschlossenen Blick von Chaspe und sah erst zu Gennaro, dann weiter zu Peewee, bevor er das Messer sinken ließ und an die Seite seiner toten Großnichte zurückkehrte. Gennaro sah zu Akinna und beide nickten sich wortlos zu. Dann ging er zu Dantra und betrachtete ihn auf eine Art, die dieser nicht richtig einordnen konnte.

Da es ihm allerdings ziemlich schnell unangenehm wurde, so rätselhaft gemustert zu werden, beschloss er, sich mit einer Frage und der hoffentlich folgenden Antwort Klarheit zu verschaffen, wie der starre Blick gemeint war. „Sieht ziemlich böse aus deine Verletzung.“

Gennaro hatte eine lange Platzwunde, die einen Fingerbreit neben seinem linken Nasenflügel anfing und erst am Kiefergelenk endete. „Einer von den umherfliegenden Mistkerlen hat mich ein Stück mitgerissen. Habe dabei seinen Unterarmschutz ins Gesicht bekommen.“

Dantra wurde etwas unwohl in seiner Haut: „Oh, das tut mir leid. Ich habe versucht, so gut es ging, nur die ...“ Dantra brach den Satz ab, da Gennaro ihm die Hand hinhielt. Verunsichert nahm er sie.

„Danke“, sagte Gennaro, „es war mir eine große Ehre, an deiner Seite gekämpft zu haben. Ich hoffe, ich behalte eine Narbe zurück. Dann kann ich immer sagen, dass sie aus der Schlacht stammt, in die ich mit dir, dem lang Gesuchten und endlich Gefundenen, gezogen bin.“ Er senkte seinen Kopf und verharrte kurz in dieser Stellung. Galasso und Despie taten es ihm gleich. Und auch die drei Artisten senkten ihr Haupt, nachdem sie sich mit einem kurzen Blickwechsel verständigt hatten.

Dantras Verwunderung war grenzenlos. Das war eine Geste, wie man sie Königen, Helden oder Tyrannen zuteilwerden ließ, aber doch nicht ihm. Nur Akinna sah eher ein wenig genervt von der ganzen Situation aus.

Ein Knarren ließ sie alle aufschauen. Das Tor zum Gehöft hatte sich geöffnet. Gennaro wandte sich Capra zu. „Es ist Zeit, mein Freund.“ Dieser nickte nur kurz und stand auf.

Dantra konnte nicht anders. Wollte er gerade noch die Schmach für immer für sich behalten, so brach die Wahrheit nun doch aus ihm heraus. „Capra“, sagte er leise und voll Reue, „Peewee starb, als sie mein Leben rettete. Diese Schuld und ihr Angesicht werde ich mein Leben lang in mir tragen.“ Vielleich hätte er noch mehr sagen sollen, noch mehr sagen müssen. Jedoch steckte ihm ein Kloß im Hals, der etwaiges Weiterreden unmöglich machte.

Capra wandte sich ihm zu. „Ist das wirklich wahr?“, fragte er ausdruckslos.

„So wahr ich hier stehe“, würgte Dantra heraus.

Capra machte einen schnellen Schritt nach vorn, wobei Dantra das Motiv dafür egal war. Was nun auch immer passierte, er hatte es verdient und würde die Konsequenzen seines Handelns tragen. Doch das, was folgte, war eine weitere Überraschung. Die muskulösen Arme umschlangen ihn und der buschige Bart streifte sein Gesicht. Capra drückte ihn so fest an sich, dass es schon schmerzte. „Danke!“, flüstert er Dantra ins Ohr. „Danke, dass du ihrem Tod nicht nur die Sinnlosigkeit nimmst, sondern ihm auch noch einen höheren Wert gibst, als der unsrige jemals erreichen könnte. Jedes Mal, wenn du dich ihrer erinnerst, wird Stolz mein geschundenes Herz durchfahren. Danke. Bis ans Ende aller Einhörner soll man deinen Namen weitertragen.“ Er wandte sich ab und ließ Dantra zurück, mit einem Gesichtsausdruck, der alles ausstrahlte, nur keine Intelligenz. Der Mund stand ihm offen und die Augen schauten in ein Meer von Fragezeichen.

Sie nahmen Peewee hoch. Galasso und Despie je ein Bein, Gennaro und Capra die Arme, hoben sie die gefallene Kameradin auf ihre Schultern. Mit den Füßen voran trugen sie sie Richtung Gehöft. Ihr Kopf hing dabei schlaff im Nacken und aus ihren Haaren tropfte die braune Brühe, in der sie gerade noch gelegen hatte. Als Dantra sie zum ersten Mal gesehen hatte, war sie voller Leben, Fröhlichkeit und Farbe gewesen. Nun, als er sie zum letzten Mal betrachtete, war sie bereits ganz woanders, in einer besseren Welt. In ihrer eigenen heilen Welt. Bei ihrem Vater, den sie so vermisst hatte. Bei ihrer Mutter, die sie nie richtig kennenlernen durfte. Sie war in Freiheit. Frei von Angst, frei von Unterdrückung und frei von schmerzlichen Erinnerungen. Das war es, was Dantra glaubte. Was er hoffte. Das war es, was er ihr wünschte. Die Peewee, der er nun hinterhersah, war nur noch eine verblasste, leere Hülle. Still und farblos auf ewig.

Er drückte sich seine Faust auf die Stelle, wo sein Herz heftig schlug und murmelte leise: „Da bist du drin. Und da bleibst du, bis wir uns wiedersehen. Denn das werden wir. Uns und alle, die wir lieben.“

Der trauernde Leichenzug ging auf das Tor zu, aus dem kurz zuvor ein Mann getreten war, der nun seinerseits auf Dantra und seine Gefährten zukam. Kurz bevor der Zug ihn passierte, blieb der Mann stehen und senkte vor Peewee sein Haupt, bis sie an ihm vorbei waren. Dann setzte er seinen Weg fort und machte erst wieder halt, als er vor Akinna stand. Der graue Bart ließ ihn viel älter erscheinen, als er vermutlich war, und der Kummer in seinen Augen bestärkte den Eindruck zusätzlich. Auf seinem linken Unterarm saß ein Falke, der mit den eleganten Bewegungen seines gefiederten Körpers das leichte Schwingen des Armes ausglich. Eine kleine Haube war ihm über den Kopf gezogen worden, sodass er nichts sehen konnte. Wortlos nahm der alte Mann Akinna in den noch freien Arm. Ein Zeichen von Herzlichkeit, das man meist zur Begrüßung oder zum Dank verwendete. In diesem Fall war es wohl von beidem etwas. Akinna erwiderte die Umarmung und streichelte ihm dabei liebevoll über den Rücken. Dantra war überrascht, war der alte Mann doch ein Mensch und Akinna eine bekennende Menschenhasserin. Das, was er hier beobachtete, hatte mit Hass und Abneigung allerdings nichts zu tun.

Der Mann wandte sich nun an Dantra und streckte ihm seine Hand entgegen. „Mein Name ist Nei-Klot. Ich bin der älteste unter den Falkenfängern. Unsere Gemeinschaft ist dir und deinen Männern zu ewigem Dank verpflichtet.“

„Oh, das sind nicht meine Männer, sie sind alle ihr eigener Herr“, korrigierte ihn Dantra.

„Gewiss sind sie das. Und um es zu bleiben, kämpfen sie Tag für Tag. Aber um es endgültig zu sein, brauchen sie einen starken Anführer.“

„Ich glaube nicht, dass ich dafür der Richtige bin“, unterbrach Dantra ihn erneut.

„Tut mir leid. Aber du bist nicht der Richtige, wenn es darum geht, diese Entscheidung zu treffen. Nicht Worte oder die Anzahl derer, die einem folgen, und auch nicht das Erbe eines Titels machen einen zum Anführer, sondern die Taten, die man selbst vollbringt. Und du, mein Freund, bist ein Anführer. Das hast du hier und heute eindrucksvoll bewiesen.“

Dantra war so viel Zuspruch unangenehm. Er hatte zwar immer gehofft, eines Tages einmal große Anerkennung für ehrenhaftes Handeln zu bekommen, wirklich daran geglaubt hatte er aber nicht einmal mit einer Haarspitze. „Ich danke Euch für Euer Vertrauen in meine Fähigkeiten und hoffe, ich werde Euch nie enttäuschen“, sagte er peinlich berührt.

„Du hast Akinna aus den Fängen dieser Barbaren befreit. Nichts, was dir die Zukunft bringt, könnte mich je enttäuschen. Meiner Gastfreundschaft kannst du dir jederzeit gewiss sein. Und noch etwas möchte ich dir zum Geschenk machen.“ Er nahm dem Falken die Haube vom Kopf. Nervös blinzelte dieser wegen des hellen Sonnenlichts und wurde zunehmend unruhiger. „Ein Falke ist und bleibt, ob gezähmt oder nicht, immer ein freies Tier. Wenn wir sie fliegen lassen, kommen sie immer zurück. Nicht weil sie dumm sind und ihre Chance zur Flucht nicht erkennen, sondern weil sie loyal sind. Eine Loyalität, die durch Respekt entsteht. Denn wir respektieren sie und behandeln sie mit Ehrfurcht, und das honorieren sie mit ihrer Treue. Würden die Menschen so miteinander umgehen, wäre Frieden keine Hoffnung, sondern Normalität.“ Er sah den Falken an und hob den Zeigfinger seiner rechten Hand. Dann sagte er laut und fragend einen Namen. „Gwai?!“ Dadurch gewann er die ungeteilte Aufmerksamkeit des Greifvogels. „Hier. Ein großer Mann.“ Er zeigte dabei auf Dantra und der Falke folgte dem Finger mit seinen nun ruhig gewordenen nachtschwarzen Augen. „Er hat Großes vollbracht und wird noch viel Großes vollbringen. Ihm zu Ehren schenke ich dir die ewig anhaltende Freiheit.“

Dantra hatte das Gefühl, der Falke würde ihn mit seinem Blick durchbohren. Als würde er sein Inneres lesen, so wie er seinerzeit alles Wissenswerte über Falken in einem Buch gelesen hatte.

„Flieg, mein Freund. Flieg in die Freiheit“, sagte Nei-Klot und der Falke spannte seine Flügel, krächzte laut und mit dem Lösen seiner Krallen vom Unterarm Nei-Klots ließ auch sein starrer Blick von Dantra ab.

Er stieg hoch hinauf in das nun nahezu wolkenlose Himmelblau. Seine Silhouette war kaum noch als die eines Falken zu erkennen, als er zum Sturzflug ansetzte und mit ungeheurer Geschwindigkeit gen Boden raste. Kurz vor dem Aufschlag fing er seinen freien Fall ab und flog schnell wie ein Pfeil zwischen Dantra und Nei-Klot hindurch, um anschließend erneut aufzusteigen und irgendwo hinter den Bäumen zu verschwinden. Als Dantra wieder nach vorn schaute, hatte Nei-Klot abermals seine Hand ausgestreckt. Mit einem festen Griff bedankte er sich noch einmal bei ihm und nach einem kurzen Nicken in Akinnas Richtung, das diese erwiderte, ging er zurück zum Gehöft.

Noch während Dantra ihm nachsah, hatte Akinna bereits einige Sätze mit den Gauklern gewechselt, worauf diese das Schlachtfeld in Richtung Culter verließen. Sie selbst ging auf die Stelle zu, an der sie sich von Comal getrennt hatten. Dantra hastete ihr stumm hinterher. Bei dem Nalc angekommen bedankte sich Akinna für seinen warnenden Hinweis, dass es sich um einen Hinterhalt handelte, und sagte dann in Dantras Richtung: „Wir müssen uns nun beeilen, um noch vor der Dunkelheit ein sicheres Nachtquartier zu erreichen. Eine Scheune oder sonst irgendein gewöhnlicher Unterschlupf reicht ab jetzt nicht mehr aus. Ab dem heutigen Tag werden wir von all denen verfolgt, die den Drachen hörig sind. Also lasst uns gehen.“

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster

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