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Vorwort

Stellen wir uns vor, Ödipus’ Schicksal, dass er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten wird, ist gar nicht von Apollon verhängt und von der Pythia in Delphi in dessen Auftrag verkündet worden. Stellen wir uns vor, Sisyphos ist gar nicht von Zeus dazu verdammt worden, einen großen Felsen immer wieder den Berg hinauf zu hieven, wissend, dass der Stein anschließend den Berg hinunter rollen wird. Keine Frage: Das können wir uns moderne Menschen sehr gut vorstellen, denn bekanntlich haben Apollon und Zeus nie existiert und keiner von uns glaubt an Zeus und Apollon oder andere griechische Götter. Ödipus und Sisyphos müssen also selbst mit ihrem harten Schicksal zurechtkommen.

‚Ödipus’ und ‚Sisyphos’ sind ihrerseits lediglich literarische Gestalten: Auch sie haben historisch nie existiert. Aber literarische Gestalten sind Sinnbilder für menschliche, im Fall von Ödipus und Sisyphos, tragische Schicksale. Ödipus ohne Apollon und Sisyphos ohne Zeus sind also Menschen, die ohne Gott mit ihrem Leben auskommen, ihr Schicksal bewältigen müssen.

Den literarischen Vorgang, aus den mythischen Erzählungen die Wirkung der Gottheit zu tilgen, nennt man Entmythisierung: Die Handlungen der literarischen Texte deutet man ohne Gottes Einwirkung in der mythischen Geschichte. Aus dem Libretto des Mythos streicht man die Rolle der Götter.

Für den Vorgang, die Geschichte der Erde, sogar das eigene Leben ohne Gottes Wirkung verstehen und meistern zu wollen oder gar zu müssen, gibt es noch keine passende Bezeichnung, denn die Menschen versuchen immer wieder, irgend einen Gott als Beistand zu gewinnen und als Erklärung für die noch offenen Fragen zu finden. Zu diesen Einsichten verhelfen uns Freud und Camus, die sich mit den Mythen vom König Ödipus und von Sisyphos befasst haben.

Die Mythen ohne Götter verlieren allerdings ihren literarischen und sonstigen Reiz, sie wirken plötzlich banal wie der sonstige Alltag. Ein Leben ohne Gott bedeutet für viele auch eine Entzauberung. Ehrlicherweise ist man allerdings genötigt, auf Gott als Erklärung und Beistand zu verzichten, weil man zugeben muss, dass man letztlich nicht weiß, wer Gott ist und ob es ihn überhaupt gibt. Viele Menschen ziehen daraus die Konsequenz, ohne die Gotteshypothese zu leben, ihren Alltag ohne seine Hilfe zu meistern.

„Gott ist nicht“ ist eine der Überschriften gegen Ende dieses Buches. Der Satz stammt aus der ‚negativen Theologie’, aus der theologischen Meinung, dass man über Gott nur in der negativen Satzform reden kann, weil der Mensch außerstande ist, Gott zu erkennen und also auch definitiv zu wissen, ob es ihn gibt oder nicht.

So sind auch wir, wie Ödipus und Sisyphos, gott-los, ohne die liebevolle oder rächende Begleitung einer Gottes auf Erden.

Dieses Buch beschäftigt sich trotzdem mit dem Thema Gott. Man kann feststellen: Je länger man sich mit diesem Thema befasst, desto fremder kommt einem Gott vor. Zwischen der Theologie und der Religion klafft diesbezüglich ein gewaltiger Hiatus, ein riesiger Spalt: Die Theologie lehrt, Gott sei der ganz Andere, und gibt deshalb volens nolens (ungern) denen Recht, die behaupten, Gott, wenn es ihn gibt, ist ihnen vollkommen fremd. Die Religion will aber den Menschen dazu verleiten, diesen Gott anzubeten und sich von ihm, den wir nicht kennen können, leiten zu lassen. Fest steht allerdings: Wir kennen Gott nicht. Und je länger wir ihn suchen, desto nebulöser wirkt er auf uns.

Götter kennen wir hingegen haufenweise. Es sind die unzähligen und unseligen Gottesbilder aus der eigenen Werkstatt der Menschheit, die von verschiedenen Kulturen und Religionen stammen. Auch wenn wir unmöglich alle Götter und Gottesbilder kennen können - die, die wir kennen, könnten genügen, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie mit dem echten Gott, wenn es ihn gibt, eigentlich nichts zu tun haben.

Gottesbilder sind Ausdruck unserer Wunschvorstellungen. Das zeigt sich, wenn man die Inhalte der religiösen Sprache analysiert. Religiöse Aussagen über Gott verraten die Interessenlage einzelner Menschen oder das Anliegen von Interessengemeinschaften eher als Eigenschaften eines uns unbekannten Gottes. Unterschiedliche Bedürfnisse erzeugen unterschiedliche Gottesvorstellungen und unterschiedliche religiöse Glaubensrichtungen.

Die Theorie, dass Aussagen über Gott nur Projektionen menschlicher Bedürfnisse seien, ist nicht neu. Feuerbach, Nietzsche, Freud und Camus sind nur einige der bekannten Verfechter dieser These und sie verhelfen uns zu interessanten Einsichten. Sie werden in diesem Buch gebührend gewürdigt, zum Teil im Zusammenhang mit der Deutung wichtiger Mythen der Menschheit. Aber es werden hier auch viele Texte aus der Bibel und dem Koran hinterfragt: Sie alle – nicht nur die Mythen, sondern auch die sogenannten ‚Offenbarungstexte’ – zeigen unmissverständlich, dass sie menschliche Wortschöpfungen sind.

Das aktuelle Buch setzt sich besonders mit den drei monotheistischen Religionen auseinander, hauptsächlich mit dem Christentum, in dem die meisten potentiellen Leser aufgewachsen und beeinflusst worden sind, aber auch mit dem Judentum und dem Islam, weil diese Religionen unsere Kultur maßgeblich geprägt haben und den Anspruch erheben, jeweils den richtigen Gott zu verehren.

Dieses Buch ist zum Teil auch die Fortsetzung meiner eigenen Auseinandersetzung mit der Thematik. Bereits mein erstes Buch Gott Götter und Idole. Und der Mensch schuf sie nach seinem Bild brachte es auf den Punkt, der im Untertitel formuliert ist: Die Menschen haben die Gottesbilder erschaffen und auch die Götter und Idole, die diese Bilder vergegenständlichen. Ihr ‚Gott’ ist nicht anderes ist als ein Sammelbegriff, ein Namen für ein Sammelsurium der von ihnen produzierten Gottesbilder. In den zwei weiteren Büchern von mir - Wir sterben und wissen nicht wohin und Die letzte Beichte von Maria Magdalena - wurde diese These zu einer tiefer gehenden Überzeugung. Allerdings hatte ich die praktischen Folgen aus der Theorie bisher nicht ausführlich formuliert. Ich denke, dass es mir in diesem Buch besser gelingt.

Das Buch hat also mitunter einen persönlichen Charakter, und die Leser die sich bis hierhin verirrt haben, werden es mir verzeihen, wenn dann und wann der Schreibstil von der unpersönlichen Sachargumentation in den Ich-Stil wechselt.

Bei mir hat es lange gedauert, bis ich der logischen Einsicht auch psychologisch Folge leistete. Es war eher ein Prozess als eine Wende. Süchtig nach religiöser Praxis bin ich zwar nie gewesen. Die Freude, die auch ich zu früheren Zeiten in den Gottesdiensten spürte, machte zunächst der Gleichgültigkeit, dann der Unlust, zuletzt dem Unverständnis Platz, wie der Kultvorsteher so fröhlich sicher über Gott faseln kann und wie die Kultteilnehmer sich vor einem Wesen, das sie nicht kennen, das möglicherweise überhaupt nicht zugegen ist, bücken können.

Existiert Gott? Vielleicht. Wir werden es aber vermutlich nie erfahren. Deshalb plädiert das Buch für ein Leben ohne die Gotteshypothese: „Etsi deus non daretur“, schrieb Bonhoeffer.

Leben unter einem Himmel ohne Götter ist gar nicht so schwer, es kann sogar eine große Erleichterung sein.

Der liebe Gott Allahu akbar

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