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Alle meine Götter sind tot.

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„The eyes of the Lord are everywere.“ Der Spruch ist in einer Zelle des ‚Castle’ zu Norwich in England zu lesen. Noch vor fünfzig Jahren hätte man ihn in jedem ‚Gotteshaus’, in vielen Sprachen, zu unterschiedlichen Anlässen gehört. Er war das beste religiöse Erziehungsmittel, um Gott im Leben der Menschen, besonders der Kinder und der Jugendlichen obsessiv präsent zu halten. Dass dieser Spruch nun in einem früheren Gefängnis eines englischen Schlosses zu lesen ist, ist ein echtes Sinnbild für die damalige religiöse Erziehung, die viele Menschen krank und unfrei gemacht hat und sie religiös zwanghaft fesselte.

Heute früh bin auch ich aufgewacht. Um mich herum waren sämtliche Götter verschwunden. Kein Gott war mit mir aufgestanden. Komisch, dachte ich, gerade habe ich aufgehört, an Götter zu glauben, und sie sind alle spurlos verschwunden. Ein Gefühl des Glücks übermannte mich.

Früher - eigentlich bis kurz vor diesem Morgen - wusste mein Gott über mich gut Bescheid. Er wusste, dass ich aufgewacht war, und er gab mir unterschwellig bereits erste Anweisungen, etwa wie ich zu beten hätte, an wen ich denken, was ich dringend erledigen sollte. Er war mein allgegenwärtiger Begleiter, er sah alles, er durchschaute das Innerste meines Herzens, ihm etwas vorenthalten zu wollen, war unmöglich. Er wusste genau, was für mich gut und was nicht gut war, entsprechend waren seine Erwartungen an mich. Das machte mich damals gar nicht unglücklich. Ich wähnte mich sogar glücklich aufgehoben – ein Gefühl, das mir ermöglichte, mich diesem inneren Gott gerne zu fügen.

Später, als religiöser Spätpubertärer, lehnte ich mich immer stärker gegen seine Weisungen auf, wurde ihm gegenüber immer kritischer. Das geschah aber schrittchenweise, und ich bildete mir ein, der liebe Gott merkte gar nicht, dass ich immer stärker auf Distanz zu ihm ging. Oder vielleicht, anders ausgedrückt, mir selbst wurde nicht ganz bewusst, dass ich Gott immer weniger brauchte.

‚Heute früh’ bedeutet also nicht die Morgenröte des heutigen Tages, sondern den Beginn einer neuen Zeit, deren Anfänge weit zurück reichen, als man sich denken mag. Aber nun ist es soweit: Alle meine Götter sind tot.

Nach einem Augenblick der Desorientierung fühle ich mich ‚heute früh’ endlich wohl.

Ich muss wohl erklären, was ich mit dem Satz meine, dass alle meine Götter tot waren, damit man mich nicht mit Nietzsches’ Übermensch verwechselt. Ich bin nicht Nietzsches’ Übermensch, eher ein Durchschnittsmensch, hoffentlich ein normaler Mensch.

Die Wirklichkeit ist wie immer vielschichtiger, als sie sich vordergründig zeigt. Ich formuliere deshalb vorsichtiger: Alle meine Götter sind tot. Die Unterstreichung macht deutlich, dass ich zunächst nur meine Götter als tot erfahre und als solche erkläre.

Es ist also kein Bekenntnis, dass Gott, wenn es ihn gibt, tot ist. Wenn es Gott gibt, dann ist er nicht tot, und wenn es Gott nicht gibt, dann hat es ihn nie gegeben, und deshalb ist er auch nie gestorben. Die zwei Aussagen - alle meine Götter sind tot, und: Gott selbst, wenn es ihn gibt, kann so oder so nicht tot sein – sind nicht unsinnig, sie sind Teile eines nur scheinbaren Paradoxes. Die Auflösung des Paradoxes ist sehr einfach: Meine Götter sind seit ihrer Entstehung in meinem Hirn nie Gott gewesen, sie lebten nur in meinem Kopf und in meinem Gefühl. Ob es einen Gott wirklich gibt, weiß ich auch heute nicht.

Der liebe Gott Allahu akbar

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