Читать книгу Die Namenlosen - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 14

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Kapitel 10

Als Magdalen zum Haus zurückgekehrt war und die Diele durchquerte, spürte sie plötzlich, wie jemand von hinten ihre Schulter berührte. Sie drehte sich um und stand ihrer Schwester gegenüber. Bevor sie irgendeine Frage stellen konnte, wandte sich Norah verlegen mit folgenden Worten an sie: „Entschuldige bitte; ich bitte dich, mir zu verzeihen.“

Magdalen sah ihre Schwester voller Erstaunen an. Auf ihrer Seite waren alle Erinnerungen an die scharfen Worte, die sie im Sträuchergarten gewechselt hatten, durch die neuen Interessen, in die sie sich vertieft hatte, verloren gegangen – so verloren, als hätte das wütende Gespräch niemals stattgefunden. „Verzeihen?“, wiederholte sie erstaunt. „Verzeihen weswegen?“

„Ich habe von deinen neuen Aussichten gehört“, fuhr Norah fort. Sie sprach mit einer mechanischen Unterwürfigkeit, die fast unfreundlich wirkte. „Ich möchte die Dinge zwischen uns in Ordnung bringen; ich möchte dir sagen, dass es mir Leid tut, was geschehen ist. Wirst du es vergessen? Wirst du vergessen und vergeben, was im Sträuchergarten geschehen ist?“ Sie wollte weiterreden, aber ihre unüberwindliche Zurückhaltung – oder vielleicht ihr hartnäckiges Festhalten an ihren eigenen Meinungen – brachte sie nach diesen Worten zum Schweigen. Ganz plötzlich umwölkte sich ihr Gesicht. Bevor ihre Schwester ihr noch antworten konnte, drehte sie sich abrupt um und lief die Treppe hinauf.

Magdalen wollte ihr folgen, aber da öffnete sich die Tür der Bibliothek, und Miss Garth trat heraus, um die der Gelegenheit angemessenen Empfindungen zu äußern.

Es waren nicht die mechanisch-unterwürfigen Empfindungen, die Magdalen gerade gehört hatte. Norah hatte aus Hochachtung vor der unwiderruflichen Entscheidung ihrer Eltern gegen ihr tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber Frank angekämpft; und sie hatte den offenen Ausdruck ihrer Abneigung unterdrückt, obwohl das Gefühl selbst unbesiegt blieb. Miss Garth hatte dem Hausherrn und der Hausherrin kein solches Zugeständnis gemacht. Bisher hatte sie die Stellung einer hohen Autorität in allen häuslichen Fragen genossen; und sie lehnte es rundheraus ab, aus Rücksichtnahme auf irgendeine Veränderung der Familienverhältnisse von ihrem Sockel herabzusteigen, ganz gleich, wie erstaunlich oder unerwartet diese Veränderung auch sein mochte.

„Bitte nimm meine Glückwünsche entgegen“, sagte Miss Garth, wobei sie vor unausgesprochenen Einwänden gegen Frank bebte. „Meine Glückwünsche und meine Entschuldigung. Als ich dich erwischt habe, wie du Mr. Francis Clare im Sommerhaus geküsst hast, hatte ich keine Ahnung, dass du im Begriff warst, die Absichten deiner Eltern auszuführen. Ich äußere keine Meinung zu dem Thema. Ich bedaure nur mein zufälliges Erscheinen in Gestalt eines Hindernisses für den Lauf der wahren Liebe – der offensichtlich in Sommerhäusern reibungslos dahinströmt, was Shakespeare auch Gegenteiliges dazu sagen mag. Für die Zukunft betrachte mich bitte als ein Hindernis, das aus dem Weg geräumt wurde. Mögest du glücklich sein!“ Mit diesem letzten Satz schlossen sich Miss Garth’ Lippen wie eine Falle, und ihre Augen blickten ahnungsvoll prophetisch in die eheliche Zukunft.

Wären Magdalens Ängste nicht viel zu ernst gewesen, als dass sie ihr den üblichen freimütigen Gebrauch ihrer Zunge gestattet hätten, sie wäre augenblicklich bereit gewesen, eine angemessen sarkastische Antwort zu geben. So aber verwirrte Miss Garth sie nur. „Puh!“, sagte sie und lief nach oben zum Zimmer ihrer Schwester.

Sie klopfte an die Tür, erhielt aber keine Antwort. Sie versuchte die Tür zu öffnen, aber die leistete von innen Widerstand. Die mürrische, widerspenstige Norah hatte sich eingeschlossen.

Wären die Umstände andere gewesen, Magdalen hätte sich nicht mit Klopfen zufrieden gegeben. Sie hätte laut und immer lauter durch die Tür gerufen, bis im Haus Unruhe aufkam und sie sich durchgesetzt hatte. Aber die Zweifel und Ängste des Vormittags hatten ihr bereits zugesetzt. Leise ging sie wieder nach unten und nahm ihren Hut von dem Ständer in der Diele. „Er hat gesagt, ich soll den Hut aufsetzen“, sagte sie zu sich selbst mit einer kleinlauten kindlichen Fügsamkeit, die überhaupt nicht zu ihrem Charakter passte.

Sie ging auf der Seite der Sträucher in den Garten und wartete darauf, ihren Vater bei seiner Rückkehr als Erste zu sehen. Eine halbe Stunde verging; vierzig Minuten vergingen – da klang seine Stimme von den Bäumen in der Ferne herüber. „Hierher! Bei Fuß!“, hörte sie ihn laut zum Hund sagen. Ihr Gesicht wurde blass. „Er ist böse auf Snap!“, heulte sie im Flüsterton zu sich selbst. Im nächsten Augenblick erschien er in ihrem Blickfeld, schnellen Schrittes, mit gesenktem Kopf und dem in Ungnade gefallenen Snap an den Fersen. Als sie diese Unheil verkündenden Anzeichen sah, stachelte das plötzliche Übermaß ihrer Beunruhigung ihre natürliche Energie an, so dass sie nun verzweifelt entschlossen war, das Schlimmste zu erfahren. Sie ging geradewegs auf ihren Vater zu.

„Dein Gesicht verkündet die Neuigkeit“, sagte sie schwach. „Mr. Clare war so herzlos wie gewöhnlich – Mr. Clare hat nein gesagt?“

Ihr Vater wandte sich ihr mit einem plötzlichen Ernst zu, der in ihren Erfahrungen mit ihm so gar nicht seinesgleichen hatte, dass sie in regelrechtem Entsetzen zurückfuhr.

„Magdalen!“, sagte er, „wenn du jemals wieder von meinem alten Freund und Nachbarn sprichst, bedenke eines: Mr. Clare hat mir gerade eine Verpflichtung auferlegt, an die ich mich bis zum Ende meines Lebens voller Dankbarkeit erinnern werde.“

Nachdem er diese bemerkenswerten Worte ausgesprochen hatte, blieb er plötzlich stehen. Als er sah, wie sehr er seine Tochter verblüfft hatte, veranlasste ihn seine natürliche Freundlichkeit, den Tadel sofort abzumildern und die Ungewissheit zu beenden, unter der sie so offenkundig litt. „Gib mir einen Kuss, mein Liebes“, fuhr er fort, „dann erzähle ich dir im Gegenzug, dass Mr. Clare – JA gesagt hat.“

Sie wollte ihm danken; aber das plötzliche Glück der Erleichterung war zu viel für sie. Sie konnte nur schweigend seinen Hals umschlingen. Er spürte, wie sie von Kopf bis Fuß zitterte, und sagte ein paar Worte, um sie zu beruhigen. Auf den veränderten Ton der Stimme seines Herrn hin kam Snaps schmaler Schwanz wieder lebhaft zwischen seinen Beinen zum Vorschein; und Snaps Lunge prüfte die Lage bescheiden mit einem kurzen, versuchsweisen Bellen. Dass der Hund auf so drollig angemessene Art seine alte Stellung wieder für sich reklamierte, war die geeignetste Unterbrechung, durch die Magdalen wieder sie selbst werden konnte. Sie schloss den struppigen kleinen Terrier in die Arme und küsste ihn als Nächsten. „Mein Liebling“, sagte sie zu ihm, „du bist fast ebenso froh wie ich!“ Mit einem Ausdruck des sanften Tadels wandte sie sich wieder an ihren Vater. „Du hast mir Angst gemacht, Papa“, sagte sie. „Du warst so gar nicht du selbst.“

„Morgen geht es mir wieder gut, mein Liebes“, sagte er. „Heute habe ich mich ein wenig geärgert.“

„Doch nicht über mich?“

„Nein, nein.“

„Über etwas, was du bei Mr. Clare gehört hast?“

„Ja – aber nichts, worüber du dich beunruhigen müsstest. Nichts, was sich nicht bis morgen wieder legen würde. Lass mich jetzt los, mein Liebes. Ich muss einen Brief schreiben; und ich möchte mit deiner Mutter sprechen.“

Er ließ sie stehen und ging zum Haus. Magdalen trödelte noch ein wenig auf dem Rasen herum, um das ganze Glück ihrer neuen Empfindungen zu spüren. Dann wandte sie sich in Richtung des Sträuchergartens, um den noch größeren Luxus zu genießen, sie mitzuteilen. Der Hund folgte ihr. Sie pfiff und klatschte in die Hände. „Such’ ihn!“, sagte sie mit strahlenden Augen. „Such’ Frank!“ Snap flitzte in die Büsche, wobei er anfangs ein blutrünstiges Knurren hören ließ. Vielleicht hatte er seine junge Herrin falsch verstanden und glaubte jetzt, er sei ihr Abgesandter auf der Suche nach einer Ratte?

Währenddessen betrat Mr. Vanstone das Haus. Dort sah er, wie seine Frau gerade langsam die Treppe herunterkam, und trat vor, um ihr seinen Arm zu reichen. „Wie ist es ausgegangen?“, fragte sie ängstlich, während er sie zum Sofa geleitete.

„Gut – wie wir es gehofft hatten“, erwiderte ihr Mann. „Mein alter Freund hat meine Meinung über ihn gerechtfertigt.“

„Gott sei Dank!“, sagte Mrs. Vanstone inbrünstig. „Hast du es gespürt, Liebling?“, fragte sie, während ihr Mann die Sofakissen zurechtrückte. „Hast du es so schmerzlich gespürt, wie ich es befürchtet hatte?“

„Ich hatte eine Pflicht zu erfüllen, mein Liebes – und ich habe sie erfüllt.“

Nachdem er diese Antwort gegeben hatte, zögerte er. Anscheinend hatte er noch mehr zu sagen – vielleicht über das Thema seines vorübergehenden seelischen Unbehagens, das sein Gespräch mit Mr. Clare hervorgerufen hatte und das er auf Magdalens Fragen hin gezwungen war einzuräumen. Ein Blick auf seine Frau, und sein Zweifel war negativ entschieden. Er erkundigte sich nur, ob sie sich wohl fühlte; dann wandte er sich um und wollte das Zimmer verlassen.

„Musst du gehen?“, fragte sie.

„Ich muss einen Brief schreiben, mein Liebes.“

„Irgendetwas wegen Frank?“

„Nein, das hat auch morgen noch Zeit. Ein Brief an Mr. Pendril. Ich möchte, dass er sofort herkommt.“

„Geschäfte, nehme ich an?“

„Ja, mein Liebes, Geschäfte.“

Er ging hinaus und schloss sich in dem kleinen Zimmer vorn neben der Dielentür ein, das als sein Studierzimmer bezeichnet wurde. Von Natur und Gewohnheit ein höchst saumseliger Briefschreiber, öffnete er jetzt ganz gegen sein sonstiges Wesen seinen Schreibtisch und holte die Feder heraus, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Sein Brief war so lang, dass er drei Bögen Schreibpapier füllte; er wurde mit einer Gewandtheit des Ausdrucks und einer Leichtigkeit der Hand verfasst, wie sie sonst kaum einmal sein Handeln kennzeichneten, wenn er mit seiner gewöhnlichen Korrespondenz beschäftigt war. Zuletzt schrieb er folgende Adresse: „Dringend – William Pendril, Esq., Serle Street, Lincoln’s Inn, London.“ Dann schob er den Brief von sich, saß am Tisch und zeichnete gedankenverloren Linien auf das Löschpapier. „Nein“, sagte er zu sich selbst, „bevor Pendril kommt, kann ich nichts mehr tun.“ Er erhob sich; sein Gesicht erhellte sich, als er die Briefmarke auf den Umschlag klebte. Den Brief zu schreiben, hatte ihn sichtlich erleichtert, und das zeigte sich an seinem ganzen Betragen, als er das Zimmer verließ.

An der Tür traf er auf Norah und Miss Garth, die gerade gemeinsam einen Spaziergang unternehmen wollten.

„In welche Richtung geht ihr?“, fragte er. „Irgendwo in die Nähe des Postamts? Ich wäre froh, wenn du diesen Brief für mich aufgeben könntest, Norah. Er ist sehr wichtig – so wichtig, dass ich es kaum wage, ihn wie üblich Thomas anzuvertrauen.“

Norah nahm den Brief sofort in ihre Obhut.

„Wenn du ihn dir ansiehst“, fuhr ihr Vater fort, „wirst du sehen, dass ich an Mr. Pendril geschrieben habe. Ich erwarte ihn morgen Nachmittag hier. Würden Sie die notwendigen Anweisungen geben, Miss Garth? Mr. Pendril wird morgen Nacht hier schlafen und über den Sonntag bleiben. Augenblick! – heute ist Freitag. Ich hatte doch am Samstagnachmittag einen Termin?“ Er konsultierte sein Notizbuch und las einen der Einträge mit einem Ausdruck des Ärgers. „Mühle in Grailsea, drei Uhr, Samstag. Genau die Zeit, wenn Pendril hier ist; und ich muss zuhause sein und mit ihm sprechen. Wie schaffe ich das? Montag ist für meine Besorgung in Grailsea zu spät. Ich fahre stattdessen heute hin und nutze die Gelegenheit, den Müller beim Abendessen anzutreffen.“ Er sah auf die Uhr. „Keine Zeit, mit dem Wagen zu fahren. Ich muss die Eisenbahn nehmen. Wenn ich sofort aufbreche, bekomme ich an unserem Bahnhof den Zug und fahre nach Grailsea. Kümmere dich um den Brief, Norah. Wartet mit dem Abendessen nicht auf mich; wenn es auf dem Rückweg für den Zug nicht reicht, miete ich mir einen Einspänner und komme damit zurück.“

Als er nach seinem Hut griff, erschien Magdalen an der Tür. Sie kam gerade von ihrem Gespräch mit Frank. Die eiligen Bewegungen ihres Vaters erregten ihre Aufmerksamkeit; sie fragte, wohin er gehe.

„Nach Grailsea“, erwiderte Mr. Vanstone. „Deine Geschäfte, Miss Magdalen, sind meinen in die Quere gekommen – und meine müssen hintanstehen.“

Diese Abschiedsworte sprach er auf seine altbekannte, herzliche Art; dann verließ er sie mit dem charakteristischen Schwenken seines treuen Spazierstocks.

„Meine Geschäfte!“, sagte Magdalen. „Ich dachte, meine Geschäfte seien erledigt.“

Miss Garth deutete vielsagend auf den Brief in Norahs Hand. „Deine Geschäfte, ganz ohne Zweifel“, sagte sie. „Morgen kommt Mr. Pendril, und Mr. Vanstone ist anscheinend ganz außerordentlich erpicht darauf. Das Gesetz und sein Vertreter machen bereits Ärger! Gouvernanten, die durch die Türen von Sommerhäusern schauen, sind nicht die einzigen Hindernisse für den Lauf der wahren Liebe. Manchmal ist auch Pergament hinderlich. Ich hoffe, das Pergament wird für dich ebenso biegsam sein wie ich – ich wünsche dir dabei alles Gute. Komm, Norah!“

Miss Garth’ zweite Bemerkung wirkte ebenso harmlos wie die erste. Magdalen war ein wenig verwirrt zum Haus zurückgekehrt. Ihr Gespräch mit Frank war durch einen Boten von Mr. Clare unterbrochen worden, der den Sohn zum Aufenthaltsort seines Vaters zitieren sollte. In dem Vieraugengespräch zwischen Mr. Vanstone und Mr. Clare war man sich zwar einig gewesen, dass man die Fragen, die man am Morgen erörtert hatte, den Kindern erst nach dem Ende des Probejahres mitteilen wollte – und obwohl Mr. Clare seinem Sohn unter diesen Umständen nichts zu sagen hatte, was Magdalen ihm nicht auf viel angenehmere Weise hätte mitteilen können, war der Philosoph nichtsdestoweniger entschlossen, seinen Sohn persönlich über das elterliche Zugeständnis in Kenntnis zu setzen, das ihn vor dem chinesischen Exil bewahrte. Die Folge war eine plötzliche Vorladung ins Cottage, die Magdalen verblüffte, während Frank darüber nicht überrascht zu sein schien. Mit seinen Erfahrungen als Sohn durchschaute er das Rätsel von Mr. Clares Motiven nur allzu leicht. „Wenn mein Vater in der richtigen Laune ist, ärgert er mich gern mit meinem Glück“, sagte er. „Und diese Nachricht bedeutet, dass er mich jetzt ärgern will.“

„Geh’ nicht hin“, schlug Magdalen vor.

„Ich muss“, erwiderte Frank. „Wenn ich nicht gehe, bekomme ich es immer wieder zu hören. Er hat geladen und angelegt, und jetzt will er abdrücken. Zum ersten Mal hat er abgedrückt, als der Ingenieur mich genommen hat. Das zweite Mal hat er abgedrückt, als die Firma in der Stadt mich genommen hat. Und jetzt, wo du mich genommen hast, will er zum dritten Mal abdrücken. Wenn du nicht wärst, würde ich mir wünschen, ich wäre nie geboren worden. Ja, dein Vater war nett zu mir, ich weiß – und wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich nach China gehen müssen. Ich weiß, dass ich ihm sehr zu Dank verpflichtet bin. Natürlich haben wir kein Recht, etwas anderes zu erwarten – aber uns ein Jahr warten zu lassen, ist ziemlich entmutigend, findest du nicht?

Magdalen stopfte ihm den Mund in einem Schnellverfahren, dem auch er sich dankbar unterwarf. Gleichzeitig versäumte sie es nicht, ihm seine Unzufriedenheit auf der richtigen Seite gutzuschreiben. „Wie gern er mich hat!“, dachte sie. „Ein Jahr zu warten, ist für ihn eine richtige Entbehrung.“ Sie kehrte zum Haus zurück, wobei sie insgeheim bedauerte, dass sie nicht noch mehr von Franks schmeichelhaften Klagen gehört hatte. Der geistreiche Spott, den Miss Garth an sie richtete, während sie sich in diesem Gemütszustand befand, war eine vollkommen überflüssige Vergeudung von Miss Garth’ Atem. Was hatte Magdalen mit Satire zu schaffen? Womit hatten Jugend und Liebe jemals etwas zu schaffen außer mit sich selbst? Dieses Mal sagte sie nicht einmal „Puh!“ Gelassen legte sie ihren Hut ab und schlenderte lässig ins Frühstückszimmer, um ihrer Mutter Gesellschaft zu leisten. Beim Mittagessen erfuhren ihre düsteren Ahnungen von einem Streit zwischen Frank und seinem Vater gelegentliche Unterbrechungen in Gestalt von kaltem Huhn und Käsekuchen. Eine halbe Stunde vertändelte sie am Klavier; sie spielte Auszüge aus den Liedern von Mendelssohn, den Mazurken von Chopin, den Opern von Verdi und den Sonaten von Mozart – das alles hatte sie bei dieser Gelegenheit zu einem einzigen unsterblichen Werk zusammengefügt und ihm den Titel „Frank“ gegeben. Sie schloss das Klavier und ging nach oben in ihr Zimmer, um die Stunden schwelgerisch in Visionen von ihrer ehelichen Zukunft zu verträumen. Die grünen Fensterläden waren geschlossen, der Sessel war vor den Spiegel gerückt, und wie gewöhnlich wurde die Zofe gerufen; der Kamm unterstützte auf dem Weg über ihre Haare die Überlegungen der Herrin, bis Wärme und Müßiggang ihre betäubenden Einflüsse ausübten und Magdalen einschlafen ließen.

Als sie aufwachte, war es drei Uhr. Sie ging nach unten und traf dort wiederum auf ihre Mutter, Norah und Miss Garth. Alle drei saßen vor dem Haus unter dem offenen Vordach, wo sie sich des Schattens und der Kühle erfreuten.

Norah hatte den Eisenbahnfahrplan in der Hand. Sie hatten darüber gesprochen, welche Aussichten Mr. Vanstone hatte, den Zug zurück noch zu erreichen und zu einer angenehmen Zeit wieder zu Hause zu sein. Von diesem Thema waren sie auf seine geschäftliche Besorgung in Grailsea zu sprechen gekommen; es war wie gewöhnlich eine Besorgung aus Freundlichkeit: Er hatte sie zum Wohle des Müllers unternommen, der sein alter Bauernknecht gewesen war und jetzt durch ernste finanzielle Schwierigkeiten belastet wurde. Von da aus waren sie wie von selbst auf ein Thema gekommen, das sie oft unter sich diskutierten und das sich trotz der Wiederholung nie erschöpfte: das Lob von Mr. Vanstone selbst. Jede der drei hatte ihre eigenen Erfahrungen im Umgang mit seiner einfachen, großherzigen Natur. Für seine Frau schien das Gespräch fast schmerzlich interessant zu sein. Sie war der Zeit ihrer Prüfung jetzt zu nahe, als dass sie keine nervöse Empfindlichkeit gegenüber dem Thema empfunden hätte, das in ihrem Herzen den vordersten Platz einnahm. Als Magdalen sich zu der kleinen Gruppe unter dem Verandadach gesellte, gingen ihrer Mutter die Augen über; ihre schmale Hand zitterte, als sie der jüngsten Tochter bedeutete, sie solle auf dem leeren Stuhl an ihrer Seite Platz nehmen. „Wir sprechen gerade von deinem Vater“, sagte sie sanft. „Ach, mein Liebes, wenn dein Eheleben doch nur so glücklich wird…“ Ihre Stimme versagte; sie hielt sich eilig ihr Taschentuch vor das Gesicht und legte den Kopf auf Magdalens Schulter. Norah blickte flehend zu Miss Garth, die das Gespräch sofort wieder auf das trivialere Thema von Mr. Vanstones Rückkehr lenkte. „Wir haben uns gerade gefragt“, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick zu Magdalen, „ob dein Vater in Grailsea so rechtzeitig aufbrechen wird, dass er den Zug noch erreicht – oder ob er ihn verpasst und mit dem Wagen zurückfahren muss. Was meinst du?“

„Ich glaube, Papa wird den Zug verpassen“, erwiderte Magdalen, womit sie Miss Garth’ Hinweise mit ihrer üblichen Gewandtheit aufnahm. „Das Geschäft, dessentwegen er nach Grailsea gefahren ist, wird das Letzte sein, was er dort unternimmt. Wenn er etwas Geschäftliches zu tun hat, schiebt er es immer bis zum letzten Moment vor sich her, nicht wahr, Mama?“

Die Frage erregte ihre Mutter genau so, wie Magdalen es beabsichtigt hatte. „Nicht wenn die Besorgung eine Besorgung aus Freundlichkeit ist“, sagte Mrs. Vanstone. „Er ist hingefahren, um dem Müller bei einer sehr dringenden Schwierigkeit zu helfen.“ „Und weißt du, was er tun wird?“, beharrte Magdalen. „Er wird mit den Kindern des Müllers herumtoben und mit der Mutter tratschen und mit dem Vater gemütlich plaudern. Und im letzten Augenblick, wenn er noch fünf Minuten hat, um den Zug zu erreichen, sagt er dann: ‚Gehen wir ins Büro und sehen wir uns die Bücher an.‘ Dann stellt er fest, dass die Bücher entsetzlich kompliziert sind; er wird vorschlagen, nach einem Buchhalter zu schicken; inzwischen erledigt er schnell das Geschäft, indem er dem Müller das Geld leiht; er wird bequem in dem Einspänner des Müllers zurücktraben; und dann wird er uns erzählen, wie angenehm die Straßen in der abendlichen Kühle waren.“

Die kleine Charakterskizze, die diese Worte zeichneten, war ein zu genaues Abbild, als dass man sie nicht wiedererkennen konnte. Mrs. Vanstone zeigte ihre Anerkennung mit einem Lächeln. „Wenn dein Vater zurückkommt, werden wir deine Beschreibung seiner Vorgehensweise einer Prüfung unterziehen“, sagte sie. Dann fuhr sie fort, wobei sie sich träge aus ihrem Sessel erhob: „Ich gehe jetzt besser wieder nach drinnen und ruhe mich auf dem Sofa aus, bis er zurück ist.“

Die kleine Gruppe unter dem Verandadach löste sich auf. Magdalen schlich sich in den Garten, um Franks Bericht über das Gespräch mit seinem Vater zu hören. Die drei anderen Damen gingen gemeinsam ins Haus. Als Mrs. Vanstone es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, ließen Norah und Miss Garth sie allein, damit sie ruhen konnte, und zogen sich in die Bibliothek zurück, wo sie sich das neueste Bücherpaket aus London ansahen.

Es war ein stiller, wolkenloser Sommertag. Die Hitze wurde durch eine leichte westliche Brise gemildert; die Stimmen der Arbeiter auf einem nahe gelegenen Feld klangen fröhlich zum Haus herüber; wenn die Dorfkirche die Viertelstunden schlug, strömte der Klang der Glocke mit dem Wind als klareres Läuten herüber, eine lautere Melodie als gewöhnlich. Süße Düfte von den Feldern und aus dem Blumengarten stahlen sich durch die Fenster herein und erfüllten das Haus mit ihren Aromen; und die Vögel oben in Norahs Vogelhaus sangen in der Sonne jubelnd das Lied ihres Glücks.

Als die Kirchturmuhr Viertel nach vier schlug, öffnete sich die Tür des Frühstückszimmers, und Mrs. Vanstone durchquerte allein die Diele. Sie hatte vergeblich versucht, ihre Fassung wiederzugewinnen, und war so unruhig, dass sie nicht still liegen und schlafen konnte. Einen Augenblick lang lenkte sie ihre Schritte in Richtung der Veranda – dann drehte sie sich, sah sich um, wusste nicht, was sie als Nächstes tun oder wohin sie gehen sollte. Während sie noch zögerte, zog die halb geöffnete Tür des Studierzimmers ihres Mannes ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das Zimmer schien ein trauriges Durcheinander zu sein. Schubladen standen offen, Mäntel und Hüte, Rechnungsbücher und Papiere, Pfeifen und Angelleinen waren überall verstreut. Sie ging hinein und drückte die Tür zu – aber so sanft, dass sie ein Stück offen blieb. „Es wird mir Freude machen, dieses Zimmer in Ordnung zu bringen“, dachte sie bei sich. „Ich möchte gern noch etwas für ihn tun, bevor ich hilflos im Bett liege.“ Sie begann, seine Schubladen aufzuräumen, und fand dabei sein offen daliegendes Kontobuch. „Mein armer Liebling, wie achtlos er ist! Wenn ich nicht zufällig hier hereingeschaut hätte, die Diener hätten alle seine Angelegenheiten sehen können.“ Sie brachte die Schubladen in Ordnung und wandte sich dann dem wirren Wust auf einem Beistelltisch zu. In dem Durcheinander der Papiere kam ein kleines Notenheft zum Vorschein, in dem mit verblichener Tinte ihr Name stand. Im ersten Glück der Entdeckung errötete sie wie ein junges Mädchen. „Wie gut er zu mir ist! Er erinnert sich an mein altes Notenheft und hebt es meinetwegen auf.“ Als sie sich an den Tisch setzte und das Heft aufschlug, kam die verflossene Zeit in aller Zärtlichkeit zu ihr zurück. Die Uhr schlug die halbe Stunde, schlug Dreiviertel – und immer noch saß sie dort, das Notenheft auf dem Schoß, und träumte glückselig von den alten Liedern; dachte voller Dankbarkeit an die goldenen Tage, als seine Hand für sie die Seiten umgeblättert hatte, als seine Stimme die Worte geflüstert hatte, die das Gedächtnis einer Frau niemals vergisst.

Norah blickte von dem Buch auf, in dem sie gerade las, und sah zu der Uhr auf dem Kaminsims in der Bibliothek.

„Wenn Papa mit der Eisenbahn zurückkommt, ist er in zehn Minuten hier“, sagte sie.

Miss Garth fuhr hoch und hob den Blick schläfrig von dem Buch, das ihr gerade aus der Hand fiel.

„Ich glaube nicht, dass er mit dem Zug kommen wird“, erwiderte sie. „Er wird mit dem Einspänner des Müllers zurücktraben, wie Magdalen es so schnoddrig ausgedrückt hat.“

Gerade als sie diese Worte sagte, klopfte es an der Tür. Der Diener erschien und wandte sich an Miss Garth.

„Jemand möchte Sie sehen, Madam.“

„Wer ist es?“

„Ich weiß nicht, Madam. Ich kenne den Mann nicht – aber er sieht ehrbar aus und sagte ausdrücklich, er wolle Sie sehen.“

Miss Garth ging hinaus in die Diele. Der Diener schloss die Tür der Bibliothek hinter ihr und zog sich die Küchentreppe hinunter zurück.

Der Mann stand gerade innerhalb der Tür auf der Fußmatte. Seine Blicke irrten umher, sein Gesicht war blass – er sah schlecht aus und wirkte verängstigt. Er hantierte nervös mit seiner Kappe und schob sie vorwärts und rückwärts und von einer Hand in die andere.

„Sie wollten mich sprechen?“, sagte Miss Garth.

„Ich bitte um Verzeihung, Madam – Sie sind nicht Mrs. Vanstone, nichtwahr?“

„Ganz bestimmt nicht. Ich bin Miss Garth. Warum fragen Sie?“

„Ich bin Mitarbeiter im Büro des Bahnhofsvorstehers von Grailsea…“

„Ja?“

„Man hat mich hergeschickt…“

Wieder hielt er inne. Seine Blicke wanderten hinunter zur Fußmatte, und seine ruhelosen Hände zerknüllten die Kappe immer heftiger. Er feuchtete sich die trockenen Lippen an und versuchte es noch einmal.

„Man hat mich in einer sehr ernsten Angelegenheit hergeschickt.“

„Ernst für mich?“

„Ernst für alle hier im Haus.“

Miss Garth trat einen Schritt näher auf ihn zu – warf ihm einen unverwandten Blick ins Gesicht. Ihr wurde trotz der sommerlichen Hitze kalt. „Halt!“, sagte sie mit plötzlichem Misstrauen und blickte besorgt zur Tür des Frühstückszimmers. Sie war fest geschlossen. „Sagen Sie mir das Schlimmste; und sprechen Sie nicht laut. Es hat einen Unfall gegeben. Wo?“

„Auf der Eisenbahnstrecke. In der Nähe des Bahnhofs von Grailsea.“

„Der nördliche Zug nach London?“

„Nein. Der südliche Zug um ein Uhr fünfzig…“

„Gott der Allmächtige helfe uns! Der Zug, mit dem Mr. Vanstone nach Grailsea gefahren ist?“

„Eben dieser. Man hat mich mit dem nördlichen Zug hergeschickt. Die Strecke wurde gerade rechtzeitig wieder frei gemacht. Sie wollten nicht schreiben – sie haben gesagt, ich muss ‚Miss Garth‘ aufsuchen und es ihr sagen. Sieben Fahrgäste sind schwer verletzt. Und zwei…“

Die nächsten Worte erstarben auf seinen Lippen; er hob in tiefem Schweigen die Hand. Mit Augen, die sich vor Entsetzen weit geöffnet hatten, hob er die Hand und zeigte über Miss Garth’ Schulter.

Sie drehte sich ein wenig und sah sich um.

Ihr genau gegenüber, auf der Schwelle des Studierzimmers, stand die Hausherrin. Sie hielt ihr altes Notenheft mit beiden Händen mechanisch umklammert und stand da, ein Gespenst ihrer selbst. Mit einer entsetzlichen Leere im Blick, mit einer entsetzlichen Stille in der Stimme, wiederholte sie die letzten Worte des Mannes:

„Sieben Fahrgäste sind schwer verletzt; und zwei…“

Ihre gequälten Finger lockerten ihren Griff, das Heft entglitt ihnen; sie sank schwer nach vorn. Miss Garth fing sie auf, bevor sie hinstürzen konnte – griff nach ihr und wandte sich, den bewusstlosen Körper der Ehefrau in den Armen, an den Mann, um das Schicksal des Ehemannes zu erfahren.

„Der Schaden ist angerichtet“, sagte sie. „Sie können offen sein. Ist er verletzt oder tot?“

„Tot.“

Die Namenlosen

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