Читать книгу Die Namenlosen - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 17

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Kapitel 13

Das Vermögen, das Mr. Vanstone besaß, als Sie ihn kennen lernten“, begann der Anwalt, „war ein Teil und nur ein Teil des Erbes, das ihm nach dem Tod seines Vaters zugefallen war. Mr. Vanstone der Ältere war Fabrikant in Nordengland. Er heiratete frühzeitig, und die Kinder aus dieser Ehe waren sechs oder sieben an der Zahl – ganz sicher bin ich mir nicht. Zuerst kam Michael, der älteste Sohn. Er lebt noch und ist heute ein alter Mann von über siebzig Jahren; die Zweite war Selina, die älteste Tochter, die später heiratete und vor zehn oder elf Jahren gestorben ist. Danach kamen andere Söhne und Töchter, deren früher Tod es unnötig macht, sie im Einzelnen zu erwähnen. Das letzte und mit weitem Abstand jüngste Kind war Andrew, den ich, wie ich Ihnen bereits erzählt habe, erstmals kennen lernte, als er neunzehn war. Mein Vater stand damals gerade im Begriff, sich aus dem aktiven Berufsleben zurückzuziehen; und als ich ihm in seinem Geschäft nachfolgte, rückte ich auch als Familienanwalt in seine Beziehung zu den Vanstones nach.

Zu jener Zeit hatte Andrew gerade sein eigenes Leben begonnen und war in die Armee eingetreten. Nach wenig mehr als einem Jahr im Heimatdienst wurde er mit seinem Regiment nach Kanada abgeordnet. Als er aus England abreiste, ließ er seinen Vater und seinen älteren Bruder Michael in einem ernsthaften Zerwürfnis zurück. Ich brauche Sie nicht damit aufzuhalten, dass ich auf die Gründe für den Streit näher eingehe. Es reicht, wenn ich Ihnen sage, dass der ältere Mr. Vanstone trotz vieler hervorragender Qualitäten ein Mann von wildem, unbezähmbarem Temperament war. Sein ältester Sohn hatte ihm getrotzt, und das unter Umständen, die auch einen Vater von weitaus sanfterem Charakter zu Recht erzürnt hätten; und er erklärte mit unmissverständlichen Worten, er wolle Michaels Gesicht nie wieder sehen. Meinen Beschwörungen und dem Flehen seiner Frau zum Trotz zerriss er in unserem Beisein das Testament, das über Michaels Anteil am väterlichen Erbe bestimmte. So lagen die Dinge in der Familie, als der jüngere Sohn die Heimat in Richtung Kanada verließ.

Einige Monate nachdem Andrew mit seinem Regiment in Quebec eingetroffen war, machte er die Bekanntschaft einer Frau von großer persönlicher Anziehungskraft. Sie kam – oder sagte, sie komme – aus den Südstaaten Amerikas. Diese Frau erlangte sofort Einfluss auf ihn und nutzte ihn zu den niederträchtigsten Zwecken. Sie kannten ja die unbefangene, liebenswürdige, vertrauensselige Natur des Mannes in seinen späteren Jahren – und Sie können sich vorstellen, wie gedankenlos er im Impuls seiner Jugend handelte. Es ist nutzlos, länger bei diesem beklagenswerten Teil der Geschichte zu verweilen. Er war erst einundzwanzig; er war einer unwürdigen Frau blind verfallen; und sie verleitete ihn mit gnadenloser Arglist, bis es zu spät war, sich zurückzuziehen. Mit einem Wort: Er beging den verhängnisvollsten Fehler seines Lebens und heiratete sie.

Sie war klug genug gewesen, in ihrem eigenen Interesse den Einfluss seiner Offizierskollegen zu fürchten; deshalb überredete sie ihn, die geplante Verbindung zwischen ihnen bis zur Zeit der Eheschließungszeremonie geheim zu halten. Das gelang ihr auch, aber sie konnte keine Vorkehrungen gegen die Folgen eines Zufalls treffen. Es waren kaum drei Monate vergangen, da wurde durch eine zufällige Enthüllung klar, was für ein Leben sie vor ihrer Ehe geführt hatte. Ihrem Ehemann blieb nur eine Möglichkeit: die Möglichkeit, sich umgehend von ihr zu trennen.

Welche Auswirkungen die Enthüllung auf den unglückseligen Jungen hatte – denn von seinem Charakter her war er noch ein Junge –, kann man vielleicht anhand des Ereignisses beurteilen, das sich im Gefolge der Offenbarung abspielte. Einer von Andrews vorgesetzten Offizieren – ein gewisser Major Kirke, wenn ich mich recht erinnere – traf ihn in seiner Unterkunft an, wo er an seinen Vater ein Geständnis der beschämenden Wahrheit schrieb. Neben ihm lag eine geladene Pistole. Der Offizier rettete dem jungen Burschen eigenhändig das Leben und vertuschte die skandalöse Angelegenheit mit einem Kompromiss. Da die Ehe vollkommen rechtmäßig geschlossen war und das Fehlverhalten der Frau vor der Zeremonie ihrem Mann keinen Anspruch auf seine Freigabe durch Scheidung verschaffte, konnte man nur an ihr Gespür für ihre eigenen Interessen appellieren. Ihr wurde eine hübsche jährliche Rente zugesichert unter der Bedingung, dass sie an den Ort zurückkehrte, von dem sie gekommen war, dass sie sich nie in England blicken ließ und dass sie nicht mehr den Namen ihres Mannes führte. Hinzu kamen noch weitere vertragliche Bestimmungen. Sie stimmte allem zu, und es wurden private Maßnahmen ergriffen, damit am Ort ihres Rückzuges gut für sie gesorgt war. Was für ein Leben sie dort führte und ob sie alle ihr auferlegten Bedingungen erfüllte, weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass sie, so weit mir bekannt ist, nie nach England kam, dass sie Mr. Vanstone nie belästigte und dass die Jahresrente ihr über einen lokalen Agenten in Amerika bis zum Tag ihres Todes ausgezahlt wurde. Als sie ihn heiratete, wollte sie nur Geld; und Geld hat sie bekommen.

Andrew hatte mittlerweile das Regiment verlassen. Nach allem, was geschehen war, hätte nichts ihn dazu veranlassen können, seinen Offizierskollegen noch einmal unter die Augen zu treten. Er nahm seinen Abschied und kehrte nach England zurück. Die erste Nachricht, die ihn nach seiner Ankunft erreichte, war die Nachricht vom Tod seines Vaters. Er war nach London in mein Büro gekommen, bevor er nachhause fuhr, und dort erfuhr er aus meinem Mund, dass der Familienzwist zu Ende war.

Das Testament, das Mr. Vanstone der Ältere in meinem Beisein vernichtet hatte, war nach meiner Kenntnis nie durch ein anderes ersetzt worden. Als man wie üblich im Gefolge seines Todes nach mir schickte, rechnete ich voll und ganz damit, dass es dem Gesetz überlassen bleiben würde, die gewöhnliche Aufteilung zwischen seiner Witwe und seinen Kindern vorzunehmen. Zu meiner Überraschung tauchte aber unter seinen Papieren dann doch ein Testament auf. Es war ordnungsgemäß aufgesetzt, beurkundet und auf einen Tag datiert, der ungefähr eine Woche nach der Vernichtung des ersten Testaments lag. Er hatte seine nachtragende Haltung gegenüber seinem ältesten Sohn beibehalten und sich der juristischen Unterstützung eines Fremden versichert; ich glaube ganz ehrlich, dass er sich schämte, mich dabei um Mithilfe zu bitten.

Sie mit den Bestimmungen des Testaments im Einzelnen zu behelligen, ist nicht nötig. Neben der Witwe gab es drei lebende Kinder, für die gesorgt werden musste. Die Witwe erhielt einen lebenslangen Nießbrauch an einem Teil des Eigentums des Erblassers. Der andere Teil wurde unter Andrew und Selina aufgeteilt – zwei Drittel für den Bruder, ein Drittel für die Schwester. Nach dem Tod der Mutter sollte das Geld, aus dem ihre Rente bezahlt wurde, zu den gleichen Anteilen wie zuvor an Andrew und Selina gehen, nachdem zuvor fünftausend Pfund von der Summe abgezogen und an Michael ausgezahlt wurden – das einzige Erbteil, das der unversöhnliche Vater seinem ältesten Sohn zugestanden hatte.

„In runden Zahlen ausgedrückt, sah die Aufteilung des Vermögens, wie sie durch das Testament verfügt wurde, folgendermaßen aus: Vor dem Tod der Mutter hatte Andrew siebzigtausend Pfund; Selina hatte fünfunddreißigtausend Pfund; Michael – hatte nichts. Nach dem Tod der Mutter hatte Michael fünftausend Pfund, während Andrews Erbteil sich auf hunderttausend Pfund und das seiner Schwester auf fünfzigtausend vermehrte. Bitte glauben Sie nicht, dass ich mich unnötigerweise so lange bei diesem Aspekt des Themas aufhalte. Jedes Wort, das ich jetzt sage, hat Auswirkungen auf noch ungeklärte Interessen, die für Mr. Vanstones Töchter von entscheidender Bedeutung sind. Wenn wir von der Vergangenheit zur Gegenwart kommen, behalten Sie bitte im Kopf, welch entsetzliche Ungleichheit zwischen Michaels und Andrews Erbteil bestand. Der Schaden, den dieses rachsüchtige Testament angerichtet hat, ist, so befürchte ich stark, bis heute nicht behoben.

Als Andrew die Nachricht hörte, die ich ihm zu überbringen hatte, war sein erster Impuls der offenherzigen, großzügigen Natur des Mannes angemessen. Er schlug sofort vor, sein Erbteil mit seinem älteren Bruder zu teilen. Aber dem stand ein schwer wiegendes Hindernis im Weg. Als er in mein Büro kam, wartete dort ein Brief von Michael auf ihn, und in diesem Brief wurde ihm vorgeworfen, er sei ursprünglich der Grund für die Entfremdung zwischen seinem Vater und dem älteren Bruder gewesen. Die Anstrengungen, die er unternommen hatte – ungehobelt und unvorsichtig, wie ich eingestehen muss, aber wie ich weiß, auch mit den reinsten und freundlichsten Absichten –, um den Streit beizulegen, bevor er die Heimat verließ, wurden in einer höchst boshaften Fehlkonstruktion so verdreht, dass sie für einen Vorwurf der Betrügerei und Falschheit sprachen, der jeden Mann im Innersten getroffen hätte. Andrew spürte das Gleiche wie ich: Die Unterstellungen würden nicht zurückgenommen werden, bevor seine großzügigen Absichten gegenüber seinem Bruder in die Tat umgesetzt waren, und schon die Tatsache ihrer Ausführung wäre gleichbedeutend mit einem Eingeständnis, dass Michaels Vorwürfe gegen ihn gerechtfertigt waren. Er schrieb mit den nachsichtigsten Worten an seinen Bruder. Die Antwort, die er erhielt, war so beleidigend, wie Worte nur sein können. Michael hatte das Temperament seines Vaters geerbt, ohne dass es aber durch die besseren Qualitäten seines Vaters abgemildert wurde: In dem zweiten Brief wiederholte er die Vorwürfe, die er schon in dem ersten erhoben hatte, und erklärte, er werde die vorgeschlagene Aufteilung nur als Akt der Buße und Wiedergutmachung von Andrews Seite akzeptieren. Als Nächstes schrieb ich an die Mutter, damit sie ihren Einfluss geltend machte. Aber auch sie war verärgert, dass ihr vom Vermögen ihres Mannes nicht mehr geblieben war als eine Leibrente; sie schlug sich völlig auf Michaels Seite und brandmarkte Andrews Vorschlag als Versuch, ihren ältesten Sohn zu bestechen, damit dieser den Vorwurf gegenüber dem Bruder zurücknahm, von dem der Bruder angeblich wusste, dass er stimmte. Nach dieser letzten Zurückweisung war nichts mehr zu machen. Michael zog sich auf den Kontinent zurück, und seine Mutter folgte ihm dorthin. Sie lebte noch so lange und sparte von ihrem Einkommen noch so viel, dass sie zu den fünftausend Pfund ihres älteren Sohnes bei ihrem Tod einen beträchtlichen Betrag hinzufügen konnte. Dieser hatte selbst seine finanzielle Situation zuvor bereits durch eine vorteilhafte Heirat weiter verbessert, und heute verbringt er seinen Lebensabend entweder in Frankreich oder in der Schweiz – ein Witwer mit einem Sohn. Auf den Sohn werden wir in Kürze zurückkommen. Vorerst brauche ich Ihnen nur noch zu sagen, dass Andrew und Michael sich nie wieder begegnet sind und auch schriftlich nicht miteinander verkehrt haben. Unter allen praktischen Gesichtspunkten war jeder der beiden für den anderen seit jener Frühzeit bis heute tot.

Jetzt können Sie einschätzen, in welcher Lage Andrew war, als er seinen Beruf aufgab und nach England zurückkehrte. Im Besitz eines Vermögens, war er allein auf der Welt; seine Zukunft war ganz zu Beginn seines Lebens zunichte gemacht; Mutter und Bruder waren von ihm entfremdet; seine Schwester heiratete spät mit Interessen und Hoffnungen, an denen er keinen Anteil hatte. Männer von festerem geistigem Kaliber hätte in einer solchen Situation Zuflucht in einer erfüllenden intellektuellen Tätigkeit gefunden. Zu solchen Anstrengungen war Andrew nicht in der Lage; die ganze Stärke seines Charakters lag in der Zuneigung, die er vergeudet hatte. Sein Platz in der Welt war ein stiller Platz zuhause, mit einer Frau und Kindern, die ihn glücklich machten – ein Platz, den er für immer verloren hatte. Zurückzublicken wagte er nicht. Vorwärts zu blicken, war mehr, als er leisten konnte. In schierer Verzweiflung ließ er sich von den Impulsen einer Jungend treiben und stürzte sich in die niedrigsten Zerstreuungen des Londoner Lebens.

Die Falschheit einer Frau hatte ihn in den Ruin getrieben. Die Liebe einer Frau bewahrte ihn gleich zu Beginn vor der schiefen Bahn. Lassen Sie uns nicht streng von ihr sprechen – wir haben sie gestern mit ihm ins Grab gelegt.

Sie, die Sie Mrs. Vanstone nur im späteren Leben kannten, als Krankheit und Kummer und heimliche Sorge sie verändert und traurig gemacht hatten, können sich keine hinreichende Vorstellung davon machen, welche persönliche und charakterliche Anziehungskraft sie ausübte, als sie ein Mädchen von siebzehn Jahren war. Ich war bei Andrew, als er ihr zum ersten Mal begegnete. Ich hatte mich bemüht, ihn zumindest für eine Nacht vor entwürdigenden Kumpanen und entwürdigenden Freuden zu bewahren, indem ich ihn überredete, mit mir zu einem Ball zu gehen, der von einer der großen Firmen der Stadt gegeben wurde. Dort lernten sie sich kennen. Sie machte vom ersten Augenblick an, als er sie sah, einen starken Eindruck auf ihn. Für mich wie für ihn war sie eine vollkommen Fremde. Als er ihr auf die übliche Weise vorgestellt wurde, erfuhr er, dass sie die Tochter eines gewissen Mr. Blake war. Alles andere hörte er von ihr selbst. Sie tanzten den ganzen Abend zusammen (was in dem überfüllten Ballsaal unbemerkt blieb).

Die Umstände waren von Anfang an gegen sie. Zuhause war sie unglücklich. Ihre Angehörigen und Freunde nahmen im Leben keine anerkannte Stellung ein: Sie waren ärmliche, hinterlistige Menschen und ihrer in jeder Hinsicht unwürdig. Es war ihr erster Ball – das erste Mal, dass sie einen Mann kennen lernte, der die Herkunft, die Manieren und die Sprechweise eines Gentleman hatte. Sind das Entschuldigungen für sie, die anzubringen ich kein Recht habe? Sicher nicht, wenn wir überhaupt ein menschliches Gefühl für menschliche Schwächen haben.

Das Zusammentreffen an jenem Abend entschied über ihre Zukunft. Nachdem weitere Begegnungen gefolgt waren, nachdem das Eingeständnis ihrer Liebe ihr entschlüpft war, schlug er (arglos und unbewusst) unter allen Wegen denjenigen ein, der für sie beide am gefährlichsten war. Seine Aufrichtigkeit und sein Ehrgefühl verboten es ihm, sie zu täuschen: Er schüttete ihr sein Herz aus und sagte ihr die Wahrheit. Sie war ein großzügiges, impulsives Mädchen; sie hatte keine starken häuslichen Bindungen, die sie hätten zurückhalten können; sie war ihm leidenschaftlich zugetan; und er hatte an ihr Mitgefühl appelliert – einem solchen Appell zu widerstehen ist, das sei zur ewigen Ehre aller Frauen gesagt, am schwersten. Sie sah und sah aufrichtig, dass nur sie zwischen ihm und seinem Ruin stand. Die letzte Chance zu seiner Rettung hing von ihrer Entscheidung ab. Sie entschied sich; und rettete ihn.

Ich möchte nicht missverstanden werden; ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, ich würde leichtfertig mit der ernsten gesellschaftlichen Frage umgehen, die zu berühren meine Erzählung mich zwingt. Ich werde ihr Andenken nicht durch falsche Überlegungen verteidigen, sondern nur die Wahrheit sagen. Und die Wahrheit ist, dass sie ihn vor irrwitzigen Exzessen bewahrte, die zu seinem frühen Tod hätten führen müssen. Die Wahrheit ist, dass sie ihm das glückliche häusliche Dasein zurückgab, an das Sie sich mit solcher Zärtlichkeit erinnern – und an das er sich so liebevoll erinnerte, dass er sie an dem Tag, da er frei war, zu seiner Ehefrau machte. Lassen Sie meinethalben die strenge Moral ihr Recht beanspruchen, und verurteilen Sie ihren frühzeitigen Fehler. Ich habe mein Neues Testament in der Tat umsonst gelesen, wenn christliche Barmherzigkeit das harte Urteil über sie nicht abmildert – wenn christliche Nächstenliebe nicht in der Liebe und Treue, in dem Leiden und den Opfern ihres ganzen Lebens ein Plädoyer zu ihrem Andenken findet.

Ein paar weitere Worte führen uns in eine spätere Zeit und zu Ereignissen, die sich in Ihrem eigenen Erfahrungsbereich abgespielt haben.

Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, dass die Lage, in die Mr. Vanstone sich jetzt gebracht hatte, am Ende nur zu einem Ergebnis führen konnte: zur mehr oder weniger unvermeidlichen Offenbarung der Wahrheit. Man unternahm Versuche, das hoffnungslose Unglück im Leben von Andrew Vanstone vor Miss Blakes Familie geheim zu halten; und natürlich scheiterten diese Versuche angesichts der erbarmungslosen Nachforschungen ihres Vaters und ihrer Bekannten. Was geschehen wäre, wenn ihre Angehörigen das gewesen wären, was man als „ehrbar“ bezeichnet, vermag ich nicht zu sagen. So aber waren es Menschen, mit denen man, wie man gemeinhin sagt, leicht fertig wird. Der einzige aus dieser Familie, der heute noch lebt, ist ein Spitzbube, der sich Captain Wragge nennt. Wenn ich Ihnen sage, dass er den Preis für sein Schweigen bis zum Äußersten in die Höhe trieb; und wenn ich hinzufüge, dass sein Betragen keine ungewöhnliche Ausnahme vom Betragen der anderen Verwandten zu deren Lebzeiten darstellt, dann verstehen Sie vielleicht, mit was für Menschen ich im Interesse meines Mandanten umgehen musste und wie ihre vorgeschobene Empörung besänftigt wurde.

Nachdem Mr. Vanstone und Miss Blake im ersten Augenblick von England nach Irland gegangen waren, blieben sie einige Jahre dort. Obwohl Miss Blake noch ein Mädchen war, sah sie ihrer Stellung und den Notwendigkeiten ohne Zaudern ins Gesicht. Nachdem sie sich entschlossen hatte, ihr Leben dem Mann zu opfern, den sie liebte, und nachdem sie ihr Gewissen beruhigt hatte, indem sie sich selbst einredete, seine Ehe sei nur eine juristische Farce und sie selbst sei „seine Frau im Angesicht des Himmels“, machte sie sich von Anfang an daran, das vordringlichste Ziel zu erreichen und vor den Augen der Welt so mit ihm zu leben, dass nie der Verdacht aufkam, sie sei nicht seine rechtmäßige Ehefrau. Nur die wenigsten Frauen sind nicht in der Lage, feste Entschlüsse zu fassen, geduldig Pläne zu schmieden und umgehend zu handeln, wenn es um die liebsten Interessen in ihrem Leben geht. Mrs. Vanstone – denken Sie daran: Sie hat jetzt ein Anrecht auf diesen Namen – Mrs. Vanstone hatte mehr als nur den durchschnittlichen Anteil an der Hartnäckigkeit und dem Taktgefühl einer Frau. Und sie ergriff in jener Frühzeit alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen, die zu entwickeln ihr Mann mit seinen weniger ausgeprägten Fähigkeiten nicht die Kunstfertigkeit hatte – Vorsichtsmaßnahmen, denen es im Wesentlichen zu verdanken war, dass ihr Geheimnis auch in späteren Zeiten gewahrt wurde.

Dank ihrer Absicherungen folgte ihnen nicht der Schatten eines Verdachts, als sie nach England zurückkehrten. Sie ließen sich zunächst in Devonshire nieder, und zwar einfach deshalb, weil sie dort weit von jener nördlichen Grafschaft entfernt waren, in der Mr. Vanstones Familie und Verbindungen bekannt gewesen waren. Von Seiten seiner noch lebenden Angehörigen hatte er keine neugierigen Nachforschungen zu fürchten. Seiner Mutter und seinem älteren Bruder war er vollkommen entfremdet. Seiner verheirateten Schwester hatte ihr Mann (der Geistlicher war) seit der Zeit nach seiner Rückkehr aus Kanada, als er in die von mir beschriebene beklagenswerte Lebensweise verfallen war, jeglichen Umgang mit ihm verboten. Andere Angehörige hatte er nicht. Als er und Miss Blake Devonshire verließen, führte sie ihr nächster Wohnsitzwechsel in dieses Haus. Hier fielen sie weder auf noch vermieden sie es, bemerkt zu werden; glücklich mit sich selbst, ihren Kindern und ihrem Landleben, und ohne dass die wenigen Nachbarn, die ihren bescheidenen Bekanntenkreis bildeten, jemals Verdacht schöpften, sie könnten nicht sein, was sie zu sein schienen, blieb die Wahrheit in ihrem Fall wie in so vielen anderen unentdeckt, bis der Zufall sie ans Tageslicht brachte.

Wenn es Ihnen angesichts Ihrer engen Vertrautheit seltsam erscheint, dass sie sich nie verrieten, bitte ich Sie, die Umstände zu bedenken; dann werden Sie die scheinbare Anomalie verstehen. Denken Sie daran, dass die beiden bereits unter allen praktischen Gesichtspunkten (außer dass die Trauungsformel nicht über sie gesprochen wurde) seit fünfzehn Jahren als Mann und Frau zusammenlebten, bevor Sie in dieses Haus kamen. Und bedenken Sie gleichzeitig, dass kein Ereignis stattfand, das Mr. Vanstones Glück in der Gegenwart störte, ihn an die Vergangenheit erinnerte oder ihn vor der Zukunft warnte, bis die Nachricht vom Tod seiner Ehefrau ihn mit jenem Brief aus Amerika erreichte, den Sie in seinen Händen gesehen haben. Von diesem Tag an – als die Vergangenheit, die er verabscheute, sich wieder in seine Erinnerung drängte, und als eine Zukunft, die sie nie abzusehen gewagt hatten, plötzlich in ihre Reichweite kam – belogen die beiden sich immer wieder selbst – das werden Sie bald bemerken, wenn Sie es nicht schon bemerkt haben; nur Ihre Arglosigkeit gegenüber jedem Verdacht und die Arglosigkeit der Kinder gegenüber jedem Verdacht verhinderten, dass Sie die Wahrheit herausfanden.

Jetzt ist Ihnen die traurige Geschichte der Vergangenheit ebenso bekannt wie mir. Ich musste harte Worte aussprechen. Gott weiß, dass ich sie in wahrem Mitgefühl für die Lebenden und mit wahrer Zuneigung zum Andenken an die Toten ausgesprochen habe.“

Er hielt inne, wandte das Gesicht ein wenig ab und stützte den Kopf auf die ruhige, unaufdringliche Art, die seine Natur war, auf seine Hand. Miss Garth hatte seinen Bericht bisher nur durch ein gelegentliches Wort oder ein stummes Zeichen ihrer Aufmerksamkeit unterbrochen. Sie gab sich keine Mühe, ihre Tränen zu verbergen; schnell und leise rannen sie über ihre hageren Wangen, als sie aufblickte und das Wort an ihn richtete. „Ich habe Ihnen in meinen Gedanken in gewisser Weise Unrecht getan, Sir“, sagte sie mit edler Einfachheit. „Jetzt kenne ich Sie besser. Lassen Sie mich um Vergebung bitten; lassen Sie mich Ihre Hand nehmen.“

Ihre Worte und die Tat, die sie begleitete, rührten ihn zutiefst. Schweigend nahm er ihre Hand. Sie sprach als Erste wieder, gab als Erste ein Beispiel für Selbstbeherrschung. Es gehört zu den edlen Instinkten der Frauen, dass nichts sie machtvoller dazu anregt, ihren eigenen Kummer zu bekämpfen, als der Anblick des Elends eines Mannes. Still trocknete sie ihre Tränen; still zog sie ihren Stuhl um den Tisch, so dass sie näher bei ihm saß, als sie wieder sprach.

„Ich bin durch das, was in diesem Haus geschehen ist, auf traurige Weise zermürbt, Mr. Pendril“, sagte sie, „sonst hätte ich das, was Sie mir erzählt haben, besser ertragen als ich es heute ertragen konnte. Gestatten Sie mir, eine Frage zu stellen, bevor Sie fortfahren? Mein Herz fühlt mit den Kindern, die ich liebe – und die jetzt mehr als je zuvor meine Kinder sind. Besteht für ihre Zukunft keine Hoffnung? Bleibt ihnen keine andere Aussicht als die Armut?“

Der Anwalt zögerte, bevor er die Frage beantwortete.

„Sie sind jetzt abhängig von der Justiz und der Barmherzigkeit eines Fremden.“

„Durch das Missgeschick ihrer Geburt?“

„Durch die Missgeschicke, die auf die Hochzeit ihrer Eltern folgten.“

Mit dieser verblüffenden Antwort erhob er sich, hob das Testament vom Fußboden auf und legte es wieder an seinen früheren Platz auf dem Tisch zwischen ihnen.

„Ich kann Ihnen die Wahrheit nur in Form einfacher Worte erläutern“, fuhr er fort. „Die Eheschließung hat dieses Testament ungültig und Mr. Vanstones Töchter von ihrem Onkel abhängig gemacht.“

Während er sprach, strich die Brise wiederum durch die Sträucher unter dem Fenster.

„Von ihrem Onkel?“, wiederholte Miss Garth. Sie dachte einen Augenblick nach und legte dann plötzlich eine Hand auf Mr. Pendrils Arm. „Doch nicht von Michael Vanstone.“

„Doch. Von Michael Vanstone.“

Miss Garth’ Hand umklammerte mechanisch den Arm des Anwalts. Ihr Geist war vollkommen damit beschäftigt, sich über die Erkenntnis klar zu werden, die jetzt über sie hereingebrochen war.

„Abhängig von Michael Vanstone!“, sagte sie zu sich selbst. „Abhängig vom ärgsten Feind ihres Vaters? Wie kann das sein?“

„Schenken Sie mir noch einmal für einige Minuten Ihre Aufmerksamkeit“, sagte Mr. Pendril, „dann sollen Sie es erfahren. Je schneller wir dieses schmerzhafte Gespräch zu Ende bringen, desto eher kann ich die Korrespondenz mit Mr. Michael Vanstone eröffnen, und desto schneller werden Sie erfahren, was er sich für die verwaisten Töchter seines Bruders zu tun entschließt. Ich kann nur noch einmal wiederholen, dass sie völlig von ihm abhängig sind. Wie und warum, werden Sie am einfachsten verstehen, wenn wir die Kette der Ereignisse da wieder aufnehmen, wo wir sie liegen gelassen haben: zur Zeit der Eheschließung von Mr. und Mrs. Vanstone.“

„Einen Augenblick, Sir“, sagte Miss Garth. „Waren Sie in das Geheimnis dieser Eheschließung zu der Zeit, als sie stattfand, eingeweiht?“

„Leider nein. Ich war zu jener Zeit weit weg von London – sogar weit weg von England. Hätte Mr. Vanstone sich mit mir in Verbindung setzen können, als der Brief aus Amerika ihn über den Tod seiner Ehefrau in Kenntnis setzte, stünde das Vermögen seiner Töchter heute nicht auf dem Spiel.“

Er legte eine Pause ein. Bevor er fortfuhr, sah er sich noch einmal die Briefe an, die er in einem früheren Abschnitt des Gesprächs bereits zu Rate gezogen hatte. Er zog einen Brief zwischen den anderen heraus und legte ihn neben sich auf den Tisch.

„Zu Beginn des gegenwärtigen Jahres“, fuhr er fort, „erforderte eine sehr ernste geschäftliche Notwendigkeit im Zusammenhang mit Besitztümern in Westindien, die einem alten Freund und Mandanten gehörten, entweder meine Gegenwart oder die eines meiner beiden Partner in Jamaika. Einer der beiden war unabkömmlich; der andere konnte die Reise aus gesundheitlichen Gründen nicht unternehmen. Mir blieb keine andere Wahl als selbst zu fahren. Ich schrieb an Mr. Vanstone und teilte ihm mit, dass ich England Ende Februar verlassen würde; die Natur der Geschäfte, die mich beanspruchten, so schrieb ich ihm, ließ wenig Hoffnung, dass ich vor dem Juni aus Westindien zurückkehren würde. Den Brief schrieb ich nicht aus einem bestimmten Beweggrund. Aber da meine Partner keinen Zugang zu meinen Kennnissen über Mr. Vanstones private Angelegenheiten hatte, hielt ich es für richtig, ihm meine Abwesenheit anzukündigen. Es war eine formelle Vorsichtsmaßnahme, und ich hatte Recht, sie zu ergreifen. Ende Februar verließ ich England, ohne dass ich etwas von ihm gehört hatte. Als ihn am vierten März die Nachricht vom Tod seiner Ehefrau erreichte, war ich auf hoher See. Und ich kehrte erst Mitte des vergangenen Juni zurück.“

„Sie haben ihm Ihre Abreise angekündigt“, sagte Miss Garth. „Haben Sie ihn nicht über Ihre Rückkehr in Kenntnis gesetzt?“

„Nicht persönlich. Mein Bürovorsteher schickte ihm einen der Rundbriefe, die von meinem Büro in verschiedene Richtungen ausgesandt wurden und meine Rückkehr ankündigten. Es war nach meinem Dafürhalten der beste Ersatz für den persönlichen Brief, den zu schreiben ich unter dem Druck der unzähligen Verpflichtungen, die nach meiner langen Abwesenheit auf mich einstürzten, nicht die Zeit hatte. Einen knappen Monat später erreichte mich die erste Nachricht über seine Eheschließung in Form eines Briefes von ihm selbst, den er am Tag vor dem tödlichen Unfall geschrieben hatte. Die Umstände, die ihn veranlassten, den Brief zu schreiben, erwuchsen aus einem Ereignis, das auch für Sie von einem gewissen Interesse gewesen sein muss – damit meine ich die Verbindung zwischen Mr. Clares Sohn und Mr. Vanstones jüngster Tochter.“

„Ich kann nicht behaupten, dass ich gegenüber dieser Verbindung zu jener Zeit sehr wohlwollend eingestellt war“, erwiderte Miss Garth. „Ich war in völliger Unkenntnis über das Familiengeheimnis. Heute weiß ich es besser.“

„Genau. Der Beweggrund, den Sie jetzt richtig einschätzen, ist der Beweggrund, der uns zum Kern der Sache führt. Die junge Dame selbst gestand (wie ich von Mr. Clare dem Älteren gehört habe, dem ich für meine detaillierten Kenntnisse über die Umstände zu Dank verpflichtet bin) ihre Zuneigung gegenüber ihrem Vater ein und traf ihn unwissentlich durch eine zufällige Erwähnung seines früheren Lebens bis ins Innerste. Er führte ein langes Gespräch mit Mrs. Vanstone, und darin waren sich beide einig, dass man Mr. Clare im Vertrauen über die Wahrheit ins Bild setzen musste, bevor man zuließ, dass die Verbindung zwischen den beiden jungen Leuten weiter ihren Lauf nahm. Für Mann und Frau war es in höchstem Maße schmerzhaft, dass ihnen nur diese Alternative blieb. Aber sie waren entschlossen, ehrenhaft entschlossen, ihre eigenen Gefühle zum Opfer zu bringen; und Mr. Vanstone begab sich auf der Stelle zu Mr. Clares Cottage. Sie haben doch zweifellos an einem Tag eine bemerkenswerte Veränderung in Mr. Vanstones Betragen bemerkt; haben Sie jetzt eine Erklärung dafür?“

Miss Garth neigte den Kopf, und Mr. Pendril fuhr fort.

„Sie sind hinreichend vertraut mit Mr. Clares Verachtung für alle gesellschaftlichen Vorurteile“, sagte er, „und ahnen deshalb sicher schon, wie er das Geständnis aufnahm, das sein Nachbar ihm gegenüber ablegte. Fünf Minuten nachdem das Gespräch begonnen hatte, waren die beiden alten Freunde so unbefangen und ungezwungen wie immer. Im Laufe der Unterhaltung erwähnte Mr. Vanstone, welche finanziellen Regelungen er zu Gunsten seiner Tochter und ihres zukünftigen Ehemannes getroffen hatte – und dabei nahm er natürlich auch Bezug auf sein Testament, das hier zwischen uns auf dem Tisch liegt. Mr. Clare erinnerte sich daran, dass sein Freund im März dieses Jahres geheiratet hatte, und erkundigte sich sofort, wann das Testament aufgesetzt worden sei; er erhielt die Antwort, dies sei vor fünf Jahren geschehen, und verblüffte Mr. Vanstone, indem er ihm unverblümt erklärte, dann sei das Dokument vor dem Gesetz nur ein Fetzen Papier. Bis zu diesem Augenblick war Mr. Vanstone wie viele andere Menschen in völliger Unkenntnis darüber, dass die Eheschließung eines Mannes juristisch wie auch gesellschaftlich als das wichtigste Ereignis in seinem Leben betrachtet wird; dass sie die Gültigkeit jedes Testaments aufhebt, das er als alleinstehender Mann möglicherweise gemacht hat; und dass es unbedingt notwendig ist, seine testamentarischen Absichten in seiner Eigenschaft als Ehemann neu zu bekräftigen. Die Darlegung dieser einfachen Tatsache schien Mr. Vanstone völlig zu überwältigen. Er erklärte, sein Freund habe ihm einen Dienst erwiesen, an den er sich bis zu seinem Todestag erinnern werde; dann verließ er sofort das Cottage, kehrte nach Hause zurück und schrieb mir diesen Brief.“

Er reichte Miss Garth den aufgeschlagenen Brief. In tränenloser, sprachloser Trauer las sie folgend Worte:

„Mein lieber Pendril – Seit wir uns das letzte Mal geschrieben haben, ist in meinem Leben eine außergewöhnliche Veränderung eingetreten. Ungefähr eine Woche nach Ihrer Abreise erhielt ich aus Amerika die Nachricht, dass ich frei bin. Muss ich Ihnen sagen, was ich mit dieser Freiheit angefangen habe? Muss ich Ihnen sagen, dass die Mutter meiner Kinder jetzt meine Frau ist?

Wenn Sie sich wundern, dass Sie nicht schon in dem Augenblick, als Sie zurückkamen, von mir gehört haben, führen Sie mein Schweigen bitte zu einem großen Teil – wenn nicht sogar vollständig – auf meine völlige Unkenntnis der juristischen Notwendigkeit zurück, ein neues Testament zu verfassen. Vor noch nicht einmal einer halben Stunde wurde ich darüber (unter Umständen, die ich erläutern werde, wenn wir uns sehen) von meinem alten Freund Mr. Clare aufgeklärt. Auch familiäre Ängste haben ein wenig mit meinem Schweigen zu tun. Die Bettlägerigkeit meiner Frau steht kurz bevor; und neben dieser schweren Befürchtung hat meine jüngste Tochter sich gerade verlobt und will heiraten. Bevor ich heute mit Mr. Clare sprach, haben diese Angelegenheiten mich so ausgefüllt, dass ich nicht daran gedacht habe, Ihnen in dem letzten kurzen Monat zu schreiben, und mehr Zeit ist seit der guten Nachricht von Ihrer Rückkehr nicht verstrichen. Nachdem ich jetzt weiß, dass ich noch einmal mein Testament machen muss, schreibe ich sofort. Kommen Sie um Gottes Willen an dem Tag, an dem Sie diese Zeilen erhalten – kommen Sie und erlösen Sie mich von dem entsetzlichen Gedanken, dass für meine beiden geliebten Mädchen in diesem Augenblick nicht gesorgt ist. Wenn mir irgendetwas zustößt, und wenn mein Wunsch, ihrer Mutter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, durch meine elende Unkenntnis der Gesetze am Ende dazu führt, dass Norah und Magdalen enterbt zurückbleiben, werde ich in meinem Grab keine Ruhe finden! Kommen Sie um jeden Preis, immer Ihr

A. V.“

„Diese Zeilen erreichten mich am Samstagmorgen“, sagte Mr. Pendril. „Ich ließ sofort alles stehen und liegen und fuhr zum Bahnhof. Auf der Station in London hörte ich zum ersten Mal von dem Zug­unglück am Freitag; ich erfuhr davon mit widersprüchlichen Berichten über die Zahl und Namen der getöteten Fahrgäste. In Bristol war man besser unterrichtet, und die grausige Wahrheit über Mr. Vanstone wurde bestätigt. Ich hatte Zeit, mich zu erholen, bevor ich Ihre Station hier erreichte, und traf auf Mr. Clares Sohn, der mich erwartete. Er brachte mich zum Cottage seines Vaters, und dort setzte ich, ohne einen Augenblick zu verlieren, Mrs. Vanstones Testament auf. Es war mein Ziel, ihren Töchtern die einzige Versorgung zu sichern, die jetzt noch möglich war. Da Mr. Vanstone ohne Testament verstorben war, würde ein Drittel seines Vermögens an seine Witwe gehen; der Rest würde unter seinen nächsten Angehörigen aufgeteilt. Mr. Vanstones Töchter hätten als uneheliche Kinder unter den Umständen, unter denen ihr Vater gestorben war, keinen größeren Anspruch auf einen Anteil an seinem Vermögen als die Töchter irgendeines Arbeiters aus dem Dorf. Es blieb nur die Chance, dass ihre Mutter sich weit genug erholte und ihnen für den Fall ihres Todes testamentarisch ihren Anteil von einem Drittel vererben konnte. Jetzt wissen Sie, warum ich Ihnen geschrieben und um ein Gespräch gebeten habe – und warum ich Tag und Nacht wartete in der Hoffnung, zum Haus gerufen zu werden. Ich war ehrlich betrübt, dass ich Ihnen auf Ihre Anfrage die Antwort schicken musste, die zu schreiben ich gezwungen war. Aber solange noch die Aussicht bestand, Mrs. Vanstones Leben zu erhalten, war das Geheimnis ihrer Ehe das ihre und nicht das meine; und alle Erwägungen der Diskretion verboten mir, es zu offenbaren.“

„Das haben Sie richtig gemacht, Sir“, sagte Miss Garth. „Ich verstehe Ihre Beweggründe und respektiere sie.“

„Mein letzter Versuch, für die Töchter zu sorgen“, fuhr Mr. Pendril fort, „war, wie Sie wissen, durch die heimtückische Natur von Mrs. Vanstones Krankheit zum Scheitern verurteilt. Bei ihrem Tod hinterließ sie den Säugling, der sie um wenige Stunden überlebte (dieses Kind wurde, wie Sie sich erinnern werden, ehelich geboren) und nach der gesetzlichen Erbfolge im Besitz von Mr. Vanstones gesamten Vermögen war. Beim Tod des Kindes – die Folge wäre dieselbe gewesen, selbst wenn es die Mutter nicht um Stunden, sondern nur um einige Sekunden überlebt hätte – erhalten die nächsten Verwandten des legitimen Nachkommen das Geld, und dieser nächste Verwandte ist der Onkel väterlicherseits des Säuglings, also Michael Vanstone. Das gesamte Vermögen von achtzigtausend Pfund ist praktisch bereits in seinen Besitz übergegangen.“

„Gibt es keine anderen Verwandten?“, fragte Miss Garth. „Besteht keine Hoffnung auf irgendjemand anderen?“

„Es gibt keine anderen Verwandten mit Michael Vanstones Anspruch“, sagte der Anwalt. „Es gibt (auf seiten beider Eltern) keine heute noch lebenden Großväter oder Großmütter des toten Kindes. Das wäre auch unwahrscheinlich angesichts des Alters, in dem Mr. und Mrs. Vanstone gestorben sind. Aber dass keine anderen Onkel oder Tanten mehr leben, ist ein Pech, das man zu Recht beklagen kann. Cousins und Cousinen leben noch: ein Sohn und zwei Töchter der älteren Schwester von Mr. Vanstone, die den Erzdiakon Bartram heiratete und, wie ich Ihnen schon sagte, vor einigen Jahren verstorben ist. Aber ihr Interesse steht hinter dem Interesse der näheren Blutsverwandtschaft zurück. Nein, Miss Garth, wir müssen den Tatsachen so, wie sie sind, entschlossen ins Auge sehen. Mr. Vanstones Töchter sind Niemandes Kinder; und das Gesetz überlässt sie hilflos der Gnade ihres Onkels.“

„Ein grausames Gesetz, Mr. Pendril – ein grausames Gesetz in einem christlichen Land.“

„So grausam es auch ist, Miss Garth, so lässt es sich doch durch die erschreckende Besonderheit dieses Falles entschuldigen. Ich bin weit davon entfernt, das Gesetz Englands zu verteidigen, soweit es illegitime Kinder betrifft. Im Gegenteil: In meinen Augen ist es eine Schande für unsere Nation. Es lässt die Sünden der Eltern über die Kinder kommen; es begünstigt das Laster, weil es Väter und Mütter des stärksten aller Beweggründe beraubt, die Wiedergutmachung durch die Ehe zu leisten; und diese beiden verabscheuungswürdigen Folgen zieht es angeblich im Namen von Moral und Religion nach sich. Aber im Fall der beiden unglücklichen Mädchen muss es sich nicht wegen außerordentlicher Unterdrückung rechtfertigen. Auch das barmherzigere, christlichere Gesetz anderer Länder, das zulässt, dass die Kinder durch die Heirat der Eltern legitim werden, hätte für diese Kinder keine Gnade. Der Zufall, dass ihr Vater verheiratet war, als er ihre Mutter kennen lernte, hat sie zu den Ausgestoßenen der ganzen gesellschaftlichen Gemeinschaft gemacht; er hat sie außerhalb der Domäne der bürgerlichen Gesetze Europas gestellt. Ich will Ihnen die harte Wahrheit sagen – sie zu bemänteln, wäre nutzlos. Es gibt keine Hoffnung, wenn wir in die Vergangenheit blicken; aber vielleicht besteht Hoffnung, wenn wir in die Zukunft schauen. Der beste Dienst, den ich Ihnen jetzt leisten kann, besteht darin, die Zeit der Ungewissheit abzukürzen. In weniger als eine Stunde werde ich auf dem Rückweg nach London sein. Unmittelbar nach meiner Ankunft werde ich mich des schnellsten Mittels versichern, um mich mit Mr. Vanstone in Verbindung zu setzen, und ich werde Sie über das Ergebnis unterrichten. So traurig die Lage der beiden Schwestern jetzt auch ist, wir müssen sie von ihrer besten Seite betrachten. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.“

„Hoffnung?“, wiederholte Miss Garth. „Hoffnung auf Michael Vanstone!“

„Ja. Hoffnung auf den Einfluss der Zeit auf ihn, wenn schon nicht auf den Einfluss der Barmherzigkeit. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, ist er heute ein alter Mann; er kann nach dem natürlichen Lauf der Dinge nicht damit rechnen, noch lange zu leben. Wenn er auf die Zeit zurückblickt, in der er und sein Bruder zum ersten Mal Streit hatten, muss er mehr als dreißig Jahre in die Vergangenheit schauen. Das sind doch sicher Einflüsse, die jeden Mann weicher machen? Und sein Wissen um die erschreckenden Umstände, unter denen er in den Besitz dieses Geldes gelangt ist, wird ihn doch sicher rühren, wenn ihn sonst nichts rührt?“

„Ich werde mir Mühe geben, so zu denken wie Sie, Mr. Pendril – ich werde mir Mühe geben, das Beste zu hoffen. Werden wir lange im Ungewissen bleiben, bevor uns die Entscheidung erreicht?“

„Ich glaube nicht. Auf meiner Seite wird die einzige Verzögerung durch die Notwendigkeit verursacht werden, den Wohnort von Michael Vanstone auf dem Kontinent in Erfahrung zu bringen. Ich glaube, ich verfüge über die Mittel, um diese Schwierigkeit erfolgreich zu meistern; in dem Augenblick, in dem ich in London eintreffe, werde ich diese Mittel nutzen.“

Er griff nach seinem Hut, kehrte aber dann noch einmal an den Tisch zurück, auf dem der letzte Brief des Vaters und sein nutzloser letzter Wille nebeneinander lagen. Nach kurzem Nachdenken legte er beide in Miss Garth’ Hände.

„Vielleicht hilft es Ihnen, den verwaisten Schwestern die harte Wahrheit zu überbringen, wenn sie sehen, wie ihr Vater in seinem Testament von ihnen spricht“, sagte er auf seine ruhige, beherrschte Weise. „Und wenn sie diesen Brief an mich lesen können – den letzten, den er in seinem Leben geschrieben hat. Diese Zeichen sollen ihnen sagen, dass es der einzige Gedanke im Leben ihres Vaters war, seinen Kindern gegenüber Wiedergutmachung zu üben. ‚Vielleicht denken sie verbittert an ihre Geburt‘, sagte er einmal zu mir, ‚aber sie sollen nie verbittert an mich denken. Ich werde sie mit nichts ärgern; sie sollen nie eine Sorge kennen, die ich ihnen ersparen kann, und keinen Mangel leiden, den ich befriedigen kann.‘ Er ließ mich diese Worte in sein Testament schreiben, damit sie für ihn sprachen, wenn die Wahrheit, die er zu Lebzeiten vor seinen Kindern verheimlicht hatte, ihnen nach seinem Tod offenbart wurde. Kein Gesetz kann seinen Töchtern das Vermächtnis seiner Reue und seiner Liebe nehmen. Ich lasse das Testament und den Brief hier, damit sie Ihnen helfen; ich gebe beides in Ihre Obhut.“

Er sah, wie seine Freundlichkeit sie rührte, und beschleunigte absichtlich den Abschied. Sie nahm seine Hand in ihre und murmelte einige stockende Worte der Dankbarkeit. „Vertrauen Sie darauf, dass ich mein Bestes tun werde“, sagte er, drehte sich mit barmherziger Abruptheit um und ging. Im hellen, fröhlichen Sonnenschein war er gekommen, um die verhängnisvolle Wahrheit zu offenbaren. Im hellen, fröhlichen Sonnenschein ging er – nachdem die Wahrheit offenbart war – hinaus.

Die Namenlosen

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