Читать книгу Die Namenlosen - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 16

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Kapitel 12

Am Donnerstag, dem dreiundzwanzigsten Juli, erschien Mr. Clare früher als gewöhnlich an der Tür seines Cottage und trat hinaus auf den kleinen Gartenstreifen, der zu seinem Wohnsitz gehörte.

Nachdem er allein einige Wendungen rückwärts und vorwärts vollführt hatte, gesellte sich ein schlanker, stiller, grauhaariger Mann zu ihm, dessen persönlichem Erscheinungsbild ein deutlicher Charakter irgendeiner Art völlig fehlte; sein ausdrucksloses Gesicht und seine konventionell-ruhige Art boten nichts, was Zustimmung auf sich zog, und nichts, was Abneigung ausgelöst hätte. Das war Mr. Pendril – der Mann, an dessen Lippen die Zukunft der Waisen von Combe-Raven hing.

„Die Zeit verrinnt“, sagte er und blickte in Richtung des Sträuchergartens, während er sich Mr. Clare anschloss.

„Meine Verabredung mit Mis Garth ist um elf Uhr; es fehlen nur noch zehn Minuten zur vollen Stunde.“

„Werden Sie allein mit ihr sprechen?“, fragte Mr. Clare.

„Ich habe es Miss Garth überlassen, das zu entscheiden – nachdem ich sie zuallererst gewarnt habe, dass die Umstände, die zu enthüllen ich gezwungen bin, von sehr ernster Natur sind.“

„Und hat sie entschieden?“

„Sie schreibt mir, dass sie den Termin mit mir gegenüber beiden Töchtern erwähnt und die Warnung, die ich ausgesprochen habe, wiederholt habe. Die ältere der beiden schreckt – wer würde sich darüber wundern? – vor jedem Gespräch im Zusammenhang mit der Zukunft zurück, welches ihre Gegenwart schon am Tag nach der Bestattung erfordert. Die jüngere hat, wie es scheint, keine Meinung zu dem Thema geäußert. Wie ich es verstehe, duldet sie es, sich passiv vom Beispiel ihrer Schwester leiten zu lassen. Das Gespräch wird also mit Miss Garth allein stattfinden – und das zu wissen, ist für mich eine große Erleichterung.“

Die letzten Worte sprach er mit mehr Nachdruck und Energie, als es sonst seine Gewohnheit zu sein schien. Mr. Clare blieb stehen und sah seinen Gast aufmerksam an.

„Sie sind fast so alt wie ich, Sir“, sagte er. „Hat Ihre lange Erfahrung als Anwalt Sie noch nicht abgehärtet?“

„Ich wusste nie, wie wenig sie mich abgehärtet hat“, entgegnete Mr. Pendril leise, „bis ich gestern von London zurückgekehrt bin, um an der Bestattung teilzunehmen. Man hatte mich nicht gewarnt, dass die Töchter sich entschlossen hatten, ihren Eltern bis zum Grab zu folgen. Ich glaube, ihre Gegenwart hat die letzte Szene dieses entsetzlichen Schicksalsschlages doppelt schmerzlich und doppelt rührend gemacht. Sie haben gesehen, wie bewegt die große Menschenmenge war – und sie waren in Unkenntnis der Wahrheit; sie wussten nichts von der grausamen Notwendigkeit, die mich heute Morgen in das Haus führt. Das Wissen um diese Notwendigkeit – und der Anblick der armen Mädchen zu der Zeit, als ich meine schwere Pflicht gegen sie am schmerzlichsten spürte – haben mich erschüttert, wie ein Mann in meinen Jahren und mit meiner Lebensweise nicht oft durch einen Kummer in der Gegenwart oder eine Unsicherheit in der Zukunft erschüttert wird. Ich habe die Fassung auch heute Morgen nicht wiedergewonnen. Bisher fühle ich mich meiner selbst kaum sicher.“

„Die Fassung eines Mannes – wenn es ein Mann wie Sie ist – kommt mit der Notwendigkeit“, sagte Mr. Clare. „Sie hatten sicher schon Pflichten zu erfüllen, die auf ihre Weise ebenso aufreibend waren wie diejenige, die heute Morgen vor Ihnen liegt.“

Mr. Pendril schüttelte den Kopf. „Viele ebenso schwere Pflichten; viel romantischere Geschichten. Aber keine Pflicht war so misslich, keine Geschichte so hoffnungslos wie diese.“

Mit diesen Worten gingen sie auseinander. Mr. Pendril verließ den Garten auf dem Weg zwischen den Sträuchern, der nach Combe-Raven führte. Mr. Clare kehrte in sein Cottage zurück.

Als er im Korridor stand, blickte er durch die offene Tür seines kleinen Salons und sah Frank in untätiger Erbärmlichkeit dort sitzen; sein Kopf ruhte erschöpft auf seiner Hand.

„Ich habe eine Antwort von deinen Arbeitgebern in London erhalten“, sagte Mr. Clare. „In Anbetracht der Ereignisse halten sie das Angebot, das sie dir gemacht haben, noch einen weiteren Monat aufrecht.“

Frank wechselte die Farbe und erhob sich nervös von seinem Stuhl.

„Haben meine Aussichten sich geändert?“, fragte er. „Werden Mr. Vanstones Pläne für mich nun nicht mehr ausgeführt? Er hat zu Magdalen gesagt, in seinem Testament werde für sie gesorgt. Sie hat seine Worte vor mir wiederholt; sie hat gesagt, ich solle alles wissen, was er in seiner Güte und Großzügigkeit für uns beide getan hätte. Wie kann sein Tod eine Veränderung bedeuten? Ist irgendetwas geschehen?“

„Warte, bis Mr. Pendril von Combe-Raven zurückkommt“, sagte sein Vater. „Frage ihn – frage nicht mich.“

In Franks Augen stiegen die Tränen hoch.

„Du wirst doch nicht streng zu mir sein?“, bettelte er schwach. „Du erwartest doch nicht, dass ich wieder nach London fahre, ohne dass ich zuvor Magdalen gesehen habe?“

Mr. Clare sah seinen Sohn nachdenklich an und überlegte ein wenig, bevor er antwortete.

„Du kannst dir die Augen abtrocknen“, sagte er. „Du wirst Magdalen sehen, bevor du zurückfährst.“

Nachdem er diese Antwort gegeben hatte, verließ er den Salon und kehrte in sein Studierzimmer zurück. Die Bücher lagen wie gewöhnlich griffbereit. Er schlug eines davon auf und machte sich auf die übliche Weise daran, es zu lesen. Aber seine Aufmerksamkeit schweifte ab; von Zeit zu Zeit wanderten seine Blicke zu dem leeren Sessel gegenüber – dem Sessel, auf dem sein alter Freund und Plauderkamerad in so manchem vergangenen Jahr gesessen und humorvoll mit ihm gestritten hatte. Nachdem er mit sich gekämpft hatte, schloss er das Buch. „Verd…mmter Stuhl!“, sagte er. „Er wird von ihm reden. Und ich muss zuhören.“ Er nahm seine Pfeife von der Wand und füllte sie mechanisch mit Tabak. Seine Hand bebte, seine Blicke wanderten an den alten Platz, und unwillkürlich entrang sich ihm ein Seufzen. Der leere Sessel war das einzige irdische Argument, auf das er keine Antwort hatte. Sein Herz räumte die Niederlage ein und ließ seine Augen trotz allem feucht werden. „Am Ende hat er mich doch besiegt“, sagte der mürrische alte Mann. „Es gibt immer noch eine schwache Stelle in mir – und er hat sie gefunden.“

Währenddessen betrat Mr. Pendril den Sträuchergarten und folgte dem Pfad, der zu dem einsamen Garten und dem trostlosen Haus führte. An der Tür empfing ihn der Diener, der offensichtlich schon in Erwartung seiner Ankunft bereitstand.

„Ich habe eine Verabredung mit Miss Garth. Ist sie bereit, mich zu empfangen?“

„Durchaus bereit, Sir.“

„Ist sie allein?“

„Ja, Sir.“

„In dem Zimmer, das Mr. Vanstones Studierzimmer war?“

„In diesem Zimmer, Sir.“

Der Diener öffnete die Tür, und Mr. Pendril trat ein.

Die Gouvernante stand allein am Fenster des Studierzimmers. Der Vormittag war drückend heiß; als Mr. Pendril hereinkam, schob sie gerade den unteren Teil des Schiebefensters hoch, um mehr Luft hereinzulassen.

Sie verbeugten sich mit einer formellen Höflichkeit, die auf beiden Seiten ein unbehagliches Gefühl des Gehemmtseins verriet. Mr. Pendril gehörte zu den vielen Männern, die auf den ersten Blick höchst unvorteilhaft wirken, wenn sie unter dem Einfluss starker geistiger Erregung stehen, die sie notwendigerweise unter Kontrolle halten müssen. Miss Garth hatte ihrerseits nicht vergessen, mit welchen unziemlich reservierten Worten der Anwalt auf ihren Brief geantwortet hatte, und die natürliche Angst, die sie wegen des Themas ihres Gesprächs empfand, wurde nicht durch eine vorteilhafte Meinung über den Mann, der darum ersucht hatte, gemildert. Als sie einander in der Stille des Sommermorgens gegenüberstanden – beide schwarz gekleidet; Miss Garth’ harte Gesichtszüge hager und ausgezehrt vor Kummer; das kalte, farblose Gesicht des Anwalts ohne jeglichen erkennbaren Ausdruck, so dass es an eine geschäftliche Peinlichkeit und sonst nichts denken ließ – hätte man schwerlich zwei Menschen finden können, die äußerlich weniger stark jedes gewöhnliche Mitgefühl auf sich gezogen hätten als die beiden, die jetzt zusammengetroffen waren, der eine, um die Geheimnisse der Toten zu offenbaren, die andere, um sie zu hören.

„Ich bedaure es aufrichtig, Miss Garth, dass ich Sie in einer solchen Zeit belästigen muss. Aber wie ich bereits erläutert habe, lassen die Umstände mir keine andere Wahl.“

„Möchten Sie Platz nehmen, Mr. Pendril? Ich nehme an, Sie wollten in diesem Zimmer mit mir sprechen?“

„Nur in diesem Zimmer, denn hier werden Mr. Vanstones Papiere aufbewahrt, und ich könnte es für notwendig erachten, einige davon zu Rate zu ziehen.“

Nach diesem formellen Austausch von Frage und Antwort setzten sie sich beiderseits eines Tisches, der dicht unter dem Fenster stand. Der eine wartete darauf, zu sprechen, die andere wartete darauf, es zu ertragen. Vorübergehend herrschte Schweigen. Mr. Pendril brach es, indem er mit dem üblichen Ausdruck des Mitgefühls von den jungen Damen sprach. Miss Garth antwortete ihm mit der gleichen Zeremonie in dem gleichen konventionellen Ton. Eine zweite Pause des Schweigens trat ein. Das Summen der Fliegen zwischen den immergrünen Sträuchern unter dem Fenster drang träge ins Zimmer; und das Stampfen eines schwerfüßigen Karrengauls, der jenseits des Gartens die Straße entlang trottete, war in der Stille so deutlich zu hören als wäre es Nacht.

Der Anwalt nahm seine erlahmende Entschlossenheit zusammen, und als er das nächste Mal zum Sprechen ansetzte, kam er zur Sache.

„Sie haben einen gewissen Anlass, Miss Garth“, begann er, „mit meinem Betragen Ihnen gegenüber insbesondere in einer Angelegenheit nicht ganz zufrieden zu sein. Während Mrs. Vanstones tödlicher Erkrankung haben Sie einen Brief an mich gerichtet und darin gewisse Fragen gestellt, die ich, während sie noch lebte, unmöglich beantworten konnte. Ihr beklagenswerter Tod befreit mich von der Beschränkung, die ich mir selbst auferlegt hatte, und erlaubt es mir – oder richtiger gesagt, verpflichtet mich –, zu sprechen. Sie sollen erfahren, welche schwer wiegenden Gründe ich hatte, Tag und Nacht zu warten in der Hoffnung, jenes Gespräch führen zu können, das unglücklicherweise nie stattgefunden hat; und um Mr. Vanstones Andenken Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollen Ihre eigenen Augen Sie davon in Kenntnis setzen, dass er sein Testament gemacht hat.“

Er erhob sich, öffnete einen kleinen eisernen Safe in einer Ecke des Zimmers und kehrte mit einigen gefalteten Blättern Papier an den Tisch zurück, wo er sie unter Miss Garth’ Blicken offen ausbreitete. Als sie die ersten Worte „Im Namen Gottes, Amen“ gelesen hatte, drehte er das Blatt um und deutete auf das Ende der nächsten Seite. Dort sah sie die wohlbekannte Unterschrift: „Andrew Vanstone“. Sie sah die üblichen Bestätigungen der beiden Zeugen und das Datum des Dokuments, das um einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren zurücklag. Nachdem sie sich von der formellen Richtigkeit des Testaments überzeugt hatte, schaltete der Anwalt sich ein, bevor sie ihm eine Frage stellen konnte, und wandte sich an sie:

„Ich darf Sie nicht täuschen“, sagte er. „Ich habe meine Gründe, Ihnen dieses Dokument vorzulegen.“

„Was für Gründe, Sir?“

„Das werden Sie erfahren. Wenn Sie im Besitz der Wahrheit sind, werden diese Seiten Ihnen vielleicht helfen, den Respekt für Mr. Vanstones Andenken zu bewahren…“

Miss Garth fuhr auf ihrem Stuhl zurück.

„Was meinen Sie damit?“, fragte sie in kühner Direktheit.

Er nahm von der Frage keine Notiz und fuhr fort, als hätte sie ihn nicht unterbrochen.

„Ich habe noch einen zweiten Grund, Ihnen das Testament zu zeigen“, fuhr er fort. „Wenn ich Sie dazu bewegen kann, unter meiner Aufsicht gewisse Klauseln darin zu lesen, werden Sie selbst die Entdeckung machen und die Umstände herausfinden, die zu enthüllen ich hier bin – Umstände, die so schmerzlich sind, dass ich gar nicht weiß, wie ich sie Ihnen mit meinen eigenen Lippen offenbaren soll.“

Miss Garth sah ihm unverwandt in die Augen.

„Umstände, Sir, welche die verstorbenen Eltern oder die lebenden Kinder betreffen?“

„Sie betreffen sowohl die Toten als auch die Lebenden“, antwortete der Anwalt. „Umstände, so muss ich zu meinem Bedauern sagen, die auch die Zukunft von Mr. Vanstones unglücklichen Töchtern einschließen.“

„Warten Sie“, sagte Miss Garth, „warten Sie einen Augenblick.“ Sie schob sich die grauen Haare von den Schläfen zurück und kämpfte gegen den Schmerz in ihrem Herzen, gegen jene grausige Müdigkeit des Entsetzens, die eine jüngere oder weniger entschlossene Frau überwältigt hätte. Ihre Blicke – düster vom Beobachten, erschöpft vom Kummer – musterten das undurchdringliche Gesicht des Anwalts. „Seine unglücklichen Töchter?“, wiederholte sie geistesabwesend zu sich selbst. „Er redet, als gäbe es einen noch schlimmeren Schicksalsschlag als den, der sie zu Waisen gemacht hat.“ Wieder hielt sie inne und nahm ihren sinkenden Mut zusammen. „Wenn ich kann, möchte ich Ihnen Ihre schmerzliche Pflicht nicht noch schwerer machen“, setzte sie wieder an. „Zeigen Sie mir die Stelle in dem Testament. Lassen Sie mich lesen und das Schlimmste erfahren.“

Mr. Pendril blätterte zurück zur ersten Seite und zeigte auf eine bestimmte Stelle in den eng geschriebenen Zeilen. „Fangen Sie dort an“, sagte er.

Sie bemühte sich, mit dem Lesen zu beginnen. Sie bemühte sich, seinem Finger zu folgen, wie sie ihm bereits bei den Unterschriften und Datumsangaben gefolgt war. Aber es schien, als teilten ihre Sinne die Verwirrung ihres Geistes – die Worte flossen ineinander, und die Zeilen verschwammen vor ihren Augen.

„Ich kann Ihnen nicht folgen“, sagte sie. „Sie müssen es mir sagen oder vorlesen.“ Sie schob ihren Stuhl vom Tisch zurück und versuchte, sich zu sammeln. „Halt!“, rief sie, als der Anwalt die Papiere mit sichtbarem Zögern und Widerstreben in die Hand nahm. „Zuerst eine Frage. Sorgt das Testament für seine Kinder?“

„Es hat für seine Kinder gesorgt, als er es gemacht hat.“

„Als er es gemacht hat!“ Als sie die Antwort wiederholte, brach in ihrem Betragen ein wenig von ihrer natürlichen Unverblümtheit hervor. „Sorgt es heute für sie?“

„Nein.“

Sie riss ihm das Testament aus der Hand und warf es in eine Ecke des Zimmers. „Sie meinen es gut“, sagte sie. „Sie wollen mich schonen – aber Sie vergeuden nur Ihre Zeit und meine Kraft. Wenn das Testament nutzlos ist, soll es dort liegen bleiben. Sagen Sie mir die Wahrheit, Mr. Pendril – Sagen Sie sie geradeheraus und augenblicklich mit Ihren eigenen Worten!“

Er spürte, dass es unnütze Grausamkeit gewesen wäre, sich diesem Appell zu widersetzen. Es gab keine barmherzigere Alternative als auf der Stelle zu antworten.

„Ich muss Sie auf den Frühling des gegenwärtigen Jahres verweisen, Miss Garth. Erinnern Sie sich an den vierten März?“

Wieder schweifte ihre Aufmerksamkeit ab; anscheinend war ihr in dem Augenblick, in dem er sprach, ein Gedanke gekommen. Anstatt auf seine Frage zu antworten, stellte sie selbst eine.

„Lassen Sie mich selbst die Nachricht finden“, sagte sie. „Lassen sie mich Ihnen vorgreifen, wenn ich dazu in der Lage bin. Sein nutzloses Testament, die Art, wie Sie über seine Töchter sprechen, der Zweifel, den Sie offenbar empfinden, was meinen fortgesetzten Respekt für sein Andenken angeht, all das hat mir eine neue Sichtweise eröffnet. Mr. Vanstone ist als mittelloser Mann gestorben – war es das, was Sie mir sagen wollten?“

„Keineswegs. Mr. Vanstone hat bei seinem Tod ein Vermögen von mehr als achtzigtausend Pfund hinterlassen – ein Vermögen, das in ausgezeichneten Sicherheiten angelegt ist. Er hat seinen Verhältnissen entsprechend gelebt, aber nie darüber hinaus, und alle seine Schulden würden sich zusammengenommen auf noch nicht einmal zweihundert Pfund summieren. Wäre er als mittelloser Mann gestorben, ich hätte tiefes Mitgefühl für seine Kinder empfunden. Aber ich hätte nicht so gezögert, Ihnen die Wahrheit zu sagen, wie ich jetzt zögere. Lassen Sie mich eine Frage wiederholen, die Ihnen, so scheint mir, entgangen ist, als ich sie zum ersten Mal gestellt habe. Versetzen Sie sich noch einmal in den Frühling dieses Jahres. Erinnern Sie sich an den vierten März?

Miss Garth schüttelte den Kopf. „Mein Gedächtnis für Daten ist auch in den besten Zeiten schlecht“, sagte sie. „Ich bin zu verwirrt, als dass ich es kurzfristig zur Anwendung bringen könnte. Ist es nicht möglich, Ihre Frage in anderer Form zu stellen?“

Er stellte sie so:

„Erinnern Sie sich im Frühling des gegenwärtigen Jahres an ein häusliches Ereignis, das Mr. Vanstone schwerer zu betreffen schien als gewöhnlich?“

Miss Garth beugte sich auf ihrem Stuhl nach vorn und sah Mr. Pendril über den Tisch hinweg eifrig an. „Die Reise nach London!“, rief sie aus. „Ich habe der Reise nach London von Anfang an misstraut! Ja! Ich erinnere mich, dass Mr. Vanstone einen Brief bekam – ich weiß noch, wie er ihn las und anschließend so verändert aussah, dass wir alle verblüfft waren.“

„Ist Ihnen ein offenkundiges Einvernehmen zwischen Mr. und Mrs. Vanstone hinsichtlich des Themas dieses Briefes aufgefallen?“

„Ja, durchaus. Eines der Mädchen – es war Magdalen – erwähnte den Poststempel; irgendein Ort in Amerika. Jetzt fällt mir alles wieder ein, Mr. Pendril. Mrs. Vanstone wirkte von dem Augenblick an, da sie den Namen des Ortes hörte, aufgeregt und ängstlich. Am nächsten Tag fuhren sie zusammen nach London; sie erklärten ihren Töchtern nichts und mir nichts. Mrs. Vanstone sagte, es sei eine Reise in Familienangelegenheiten. Ich vermutete, dass etwas nicht stimmte, aber ich konnte nicht sagen, was. Mrs. Vanstone schrieb mir aus London in dem Sinn, es sei ihre Absicht, wegen ihres Gesundheitszustandes einen Arzt zu konsultieren, und ich solle ihre Töchter nicht beunruhigen, indem ich es ihnen erzählte. Irgendetwas in dem Brief verletzte mich zu jener Zeit. Ich dachte, es könne ein anderes Motiv geben, das sie vor mir verbarg. Habe ich ihr damit Unrecht getan?“

„Sie haben ihr nicht Unrecht getan. Es gab tatsächlich ein Motiv, das sie vor Ihnen geheim hielt. Indem ich Ihnen dieses Motiv enthülle, enthülle ich auch das schmerzliche Geheimnis, das mich in dieses Haus geführt hat. Was ich tun konnte, um Sie vorzubereiten, habe ich getan. Lassen Sie mich jetzt die Wahrheit in möglichst einfachen und möglichst wenigen Worten sagen. Als Mr. und Mrs. Vanstone im März des gegenwärtigen Jahres aus Combe-Raven abreisten…“

Bevor er den Satz vollenden konnte, wurde er durch eine plötzliche Bewegung von Miss Garth unterbrochen. Sie fuhr heftig hoch und blickte sich zum Fenster um. „Nur der Wind in den Blättern“, sagte sie schwach. „Meine Nerven sind so erschüttert, dass die kleinste Kleinigkeit mich erschreckt. Sprechen Sie es aus, in Gottes Namen! Als Mr. und Mrs. Vanstone aus diesem Haus abreisten, warum sind sie nach London gefahren?“

„Sie sind nach London gefahren, um zu heiraten.“

Mit dieser Antwort legte er ein Blatt Papier auf den Tisch. Es war die Heiratsurkunde der verstorbenen Eltern, und sie trug das Datum des zwanzigsten März achtzehnhundertsechsundvierzig.

Miss Garth bewegte sich nicht und sagte nichts. Die Urkunde lag unbeachtet vor ihr. Ihre Blicke waren am Gesicht des Anwalts festgeheftet; ihr Geist war betäubt, ihre Sinne hilflos. Wie er erkannte, waren alle seine Bemühungen, den Schock der Offenbarung abzumildern, vergeblich gewesen; er spürte die unbedingte Notwendigkeit, sie aufzumuntern, und wiederholte energisch und deutlich die schicksalsschweren Worte.

„Sie sind nach London gefahren, um zu heiraten“, sagte er. „Versuchen Sie, sich zu beruhigen. Versuchen Sie, sich zuerst die schlichte Tatsache klar zu machen; die Erklärung kommt später. Miss Garth, ich spreche die unglückselige Wahrheit! Im Frühling dieses Jahres verließen sie ihr Haus; sie lebten zwei Wochen in London in strengster Abgeschiedenheit; nach Ablauf dieser Zeit wurden sie amtlich getraut. Das hier ist eine Abschrift der Urkunde, die ich mir erst letzten Montag beschafft habe. Lesen Sie selbst das Datum der Eheschließung. Es ist Freitag, der zwanzigste März – der März des gegenwärtigen Jahres.“

Während er auf die Urkunde deutete, bewegte der schwache Lufthauch zwischen den Sträuchern unter dem Fenster, der Miss Garth beunruhigt hatte, wiederum die Blätter. Dieses Mal hörte er es auch selbst und drehte das Gesicht, um die Brise darauf spielen zu lassen. Die Brise kam nicht; kein Lufthauch, der so stark gewesen wäre, dass er ihn hätte spüren können, strömte ins Zimmer.

Miss Garth richtete sich mechanisch auf und las die Urkunde. Sie schien bei ihr keinen besonderen Eindruck zu hinterlassen; verloren und fassungslos legte sie das Papier beiseite. „Zwölf Jahre“, sagte sie mit leiser, hoffnungsloser Stimme, „zwölf stille, glückliche Jahre habe ich in dieser Familie gelebt. Mrs. Vanstone war meine Freundin; meine liebe, geschätzte Freundin – ich könnte fast sagen: meine Schwester. Ich kann es nicht glauben. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, Sir, ich kann es noch nicht glauben.“

„Es wird Ihnen helfen, es zu glauben, wenn ich Ihnen mehr erzähle“, sagte Mr. Pendril. „Sie werden mich besser verstehen, wenn ich Sie mit in die Zeit von Mr. Vanstones jungen Jahren nehme. Ich bitte jetzt noch nicht um Ihre Aufmerksamkeit. Warten wir ein wenig, bis Sie sich erholt haben.“

Sie schwiegen einige Minuten. Der Anwalt nahm ein paar Briefe aus der Tasche, konsultierte sie aufmerksam und steckte sie wieder ein. „Können Sie mich jetzt anhören?“, fragte er freundlich. Sie neigte zur Antwort den Kopf. Mr. Pendril ging einen Augenblick mit sich selbst zu Rate. „In einem Punkt muss ich Sie warnen“, sagte er. „Wenn der Aspekt von Mr. Vanstones Charakter, den ich Ihnen jetzt erläutern werde, in mancher Hinsicht von Ihren späteren Erfahrungen abweicht, bedenken Sie bitte, dass er, als Sie ihn vor zwölf Jahren kennen lernten, ein Mann von vierzig Jahren war; als ich das erste Mal mit ihm zusammentraf, war er ein junger Bursche von neunzehn.“

Seine nächsten Worte lüfteten den Schleier und zeigten die unwiderrufliche Vergangenheit.

Die Namenlosen

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