Читать книгу Die Namenlosen - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 8

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Kapitel 4

Sie brachten keine neuen Offenbarungen mit: Keine Erwartung, die sich mit ihrer Rückkehr verbunden hatte, erfüllte sich. Was das verbotene Thema ihrer Besorgung in London anging, trat weder beim Herrn noch bei der Dame des Hauses eine Veränderung ein. Was ihr Vorhaben auch gewesen sein mochte, sie hatten es allem Anschein nach erfolgreich bewältigt, denn beide kehrten im Vollbesitz ihres alltäglichen Aussehens und Verhaltens zurück. Mrs. Vanstones Stimmung war auf ihr natürliches, ruhiges Niveau zurückgegangen; Mr. Vanstones unbeirrbare Fröhlichkeit zeigte sich so leicht und selbstverständlich wie üblich. Das war die einzige wahrnehmbare Folge ihrer Reise – mehr nicht. Hatte der häusliche Aufruhr bereits seinen Lauf genommen? War das bisher verborgene Geheimnis undurchdringlich und für immer verborgen?

Nichts in dieser Welt ist für immer verborgen. Das Gold, das Jahrhunderte unbemerkt in der Erde gelegen hat, offenbart sich eines Tages an der Oberfläche. Sand wird zum Verräter und gibt Auskunft über den Fuß, der auf ihm gegangen ist; Wasser gibt der sichtbaren Oberfläche den Körper dessen wieder, der ertrunken ist. Selbst das Feuer hinterlässt in der Asche das Geständnis, welche Substanz von ihm verzehrt wurde. Hass bricht durch das Tor der Augen aus seinem Geheimgefängnis in den Gedanken aus; und Liebe findet den Judas, der sie mit einem Kuss verrät. Wir können blicken, wohin wir wollen: Das unausweichliche Gesetz der Offenbarung ist ein Gesetz der Natur. Die dauerhafte Bewahrung eines Geheimnisses ist ein Wunder, welches die Welt noch nie gesehen hat.

Und das Geheimnis, das jetzt in dem Haushalt von Combe-Raven verborgen lag? Auf welche Weise war es dazu verdammt, ans Licht zu kommen? Durch welches bevorstehende Ereignis im täglichen Leben von Vater, Mutter und Töchtern sollte das Gesetz der Offenbarung den fatalen Weg zur Aufdeckung finden? Der Weg eröffnete sich (ungesehen von den Eltern, unerwartet von den Kindern) durch das erste Ereignis, das sich nach Mr. und Mrs. Vanstones Rückkehr abspielte – ein Ereignis, das auf den ersten Blick von keinem wichtigeren Interesse sein sollte als die banale gesellschaftliche Zeremonie eines morgendlichen Besuches.

Drei Tage nachdem der Herr und die Herrin von Combe-Raven zurückgekehrt waren, saßen die weiblichen Familienmitglieder zufällig gerade zusammen im Frühstückszimmer. Aus den Fenstern eröffnete sich der Blick über den Blumen- und Sträuchergarten; letzterer war an seinem äußersten Rand durch einen Zaun geschützt, und von dem Weg dahinter erreichte man ihn durch ein Gartentor. Während einer Gesprächspause wurde die Aufmerksamkeit der Damen plötzlich durch das scharfe Geräusch des eisernen Riegels, der in seine Halterung fiel, auf dieses Tor gelenkt. Jemand war von dem Fahrweg in den Sträuchergarten getreten; Magdalen postierte sich sofort am Fenster, um durch die Bäume einen ersten Blick auf den Besucher zu erhaschen.

Nach einigen Minuten wurde an der Stelle, wo der von Sträuchern gesäumte Weg sich mit dem gewundenen Gartenpfad vereinigte, die Gestalt eines Gentleman sichtbar. Magdalen betrachtete ihn aufmerksam und anfangs offenbar ohne zu wissen, wer er war. Als er aber näher kam, sprang sie erstaunt auf, wandte sich schnell zu ihrer Mutter und Schwester, und erklärte, der Gentleman im Garten sei kein anderer als „Mr. Francis Clare“.

Der so angekündigte Besucher war der Sohn von Mr. Vanstones ältestem Gesellschafter und nächsten Nachbarn.

Mr. Clare der Ältere bewohnte ein unscheinbares kleines Cottage unmittelbar außerhalb des Gartenzauns, der die Grenze der Ländereien von Combe-Raven kennzeichnete. Er gehörte zum jüngeren Zweig einer sehr alten Familie, aber das einzige nennenswerte Erbe, das er von seinen Vorfahren erhalten hatte, war eine großartige Bibliothek, die nicht nur alle Zimmer seiner bescheidenen kleinen Behausung einnahm, sondern auch die Treppenhäuser und Korridore. Mr. Clares Bücher stellten das einzige bedeutsame Interesse in Mr. Clares Leben dar. Er war schon seit vielen Jahren Witwer und machte kein Geheimnis aus seiner philosophischen Resignation über den Tod seiner Frau. Als Vater betrachtete er seine Familie aus drei Söhnen im Licht eines notwendigen häuslichen Übels, welches ständig die Unantastbarkeit seines Studierzimmers und die Sicherheit seiner Bücher bedrohte. Wenn die Jungen in die Schule gingen, sagte Mr. Clare „Auf Wiedersehen“ zu ihnen und „Gott sei Dank“ zu sich selbst. Wie sein kleines Einkommen und seine noch kleinere häusliche Umgebung, so betrachtet er auch sie aus dem gleichen satirisch-gleichgültigen Blickwinkel. Sich selbst bezeichnete er als Almosenempfänger mit Stammbaum. Die gesamte Leitung seines Haushalts hatte er einer schlampigen alten Frau übertragen, die sei einziger Dienstbote war, und dabei hatte er nur die Bedingung gestellt, dass sie sich während des ganzen Jahres nie mit dem Staubwedel seinen Büchern nähern durfte. Seine Lieblingsdichter waren Horaz und Pope; die Philosophen seiner Wahl waren Hobbes und Voltaire. Körperliche Betätigung und frische Luft ließ er sich nur unter Protest angedeihen; dabei ging er stets auf der hässlichsten Landstraße der ganzen Gegend die gleiche Strecke bis zu einem Gatter. Er war krumm im Rücken und hitzig im Gemüt. Er konnte Radieschen verdauen und nach grünem Tee schlafen. Seine Ansichten über die Natur des Menschen waren die Ansichten eines Diogenes, abgemildert durch Rochefoucauld; in seinen persönlichen Gewohnheiten war er in höchstem Maße nachlässig; und am liebsten prahlte er damit, er habe alle menschlichen Vorurteile überlebt.

So war er, dieser einzigartige Mann, was seine vordergründigeren Eigenschaften anging. Welche edleren Qualitäten er vielleicht unter der Oberfläche besaß, hatte nie jemand herausgefunden. Mr. Vanstone behauptete zwar steif und fest, Mr. Clares schlimmste Seite sei seine Außenseite, aber mit dieser Meinungsäußerung stand er unter seinen Nachbarn allein. Die Verbindung zwischen den beiden höchst ungleichen Männern hatte schon viele Jahre überdauert und war fast so eng, dass man von Freundschaft sprechen konnte. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, an manchen Abenden der Woche im Studierzimmer des Zynikers gemeinsam zu rauchen und dabei über jedes nur vorstellbare Thema zu diskutieren – wobei Mr. Vanstone die harten Keulen der Behauptung schwang und Mr. Clare mit den scharf geschliffenen Instrumenten der Sophisterei parierte. Im Allgemeinen gerieten sie abends in Streit, und am nächsten Morgen trafen sie sich auf dem neutralen Boden des Sträuchergartens, um sich wieder zu versöhnen. Die so geschlungenen Bande des Umganges wurden auf Mr. Vanstones Seite durch ein herzliches Interesse an den drei Söhnen seines Nachbarn gestärkt – ein Interesse, von dem die Söhne umso stärker profitierten, weil sie sahen, dass eines der Vorurteile, die ihr Vater hinter sich gelassen hatte, das Vorurteil zu Gunsten seiner eigenen Kinder war.

„Ich betrachte diese Jungen mit vollkommen unparteiischem Blick“, pflegte der Philosoph zu sagen. „Ich schließe den unwichtigen Zufall ihrer Geburt aus allen Überlegungen aus; und ich halte sie in jeder Hinsicht für unterdurchschnittlich. Die einzige Ausrede, die ein armer Gentleman hat, wenn er sich erdreistet, im neunzehnten Jahrhundert zu leben, ist die Ausrede einer außergewöhnlichen Befähigung. Meine Jungen waren von frühester Kindheit an Hohlköpfe. Hätte ich Kapital, das ich ihnen geben könnte, ich würde Frank zum Metzger machen, Cecil zum Bäcker und Arthur zum Gemüsehändler – das sind nach meiner Kenntnis die einzigen Berufe, für die mit Sicherheit immer Bedarf besteht. Aber wie die Dinge liegen, habe ich kein Geld, um ihnen zu helfen; und sie haben kein Gehirn, um sich selbst zu helfen. Sie kommen mir vor wie drei menschliche Überflüssigkeiten in schmutzigen Jacken und lärmenden Stiefeln; und wenn sie sich nicht selbst aus der Gemeinde fortscheren und weglaufen, behaupte ich nicht, ich könnte erkennen, was mit ihnen anzufangen wäre.“

Zum Glück für die Jungen waren Mr. Vanstones Ansichten noch fest in den üblichen Voreingenommenheiten gefangen. Durch seine Vermittlung und seinen Einfluss wurden Frank, Cecil und Arthur in eine gut beleumundete Oberschule aufgenommen. In den Ferien wurde es ihnen wohlwollend gestattet, auf Mr. Vanstones Pferdekoppel herumzulaufen; und im Haus wurden sie durch die Mrs. Vanstones Gesellschaft und die ihrer Töchter gesitteter und kultivierter. Bei solchen Gelegenheiten pflegte Mr. Clare manchmal (in Hausmantel und Pantoffeln) von seinem Landhaus herüberzukommen und die Jungen durch das Fenster oder über den Zaun verächtlich anzusehen, als wären sie drei wilde Tiere, die sein Nachbar zu zähmen versuchte. „Sie und Ihre Gattin sind hervorragende Menschen“, sagte er häufig zu Mr. Vanstone. „Ich respektiere von ganzem Herzen Ihre ernsthaften Vorurteile zu Gunsten meiner Jungen. Aber Sie haben so Unrecht damit – ja, wirklich! Ich möchte niemanden beleidigen; ich spreche vollkommen unparteiisch – aber denken Sie an meine Worte, Vanstone: Alle drei werden sich als schlecht erweisen, trotz allem, was Sie tun können, um es zu verhindern.“

Später, als Frank das Alter von siebzehn Jahren erreicht hatte, wurde die seltsame Verschiebung im Verhältnis zwischen der Eltern- und Freundesstellung der beiden Nachbarn anschaulicher und absurder als je zuvor. Ein Bauunternehmer im Norden Englands, der gegenüber Mr. Vanstone gewisse Verpflichtungen hatte, brachte seine Bereitschaft zum Ausdruck, Frank unter Bedingungen der vorteilhaftesten Art in seine Obhut zu nehmen. Als der Vorschlag eintraf, verlagerte Mr. Clare zuerst wie gewöhnlich seine Verantwortung als Franks Vater auf die Schultern von Mr. Vanstone – um dann die väterliche Begeisterung seines Nachbarn aus dem Blickwinkel des unparteiischen Zuschauers zu mäßigen.

„Das ist für Frank die größte Chance, die sich überhaupt bieten kann“, rief Mr. Vanstone in einem Aufglühen väterlicher Begeisterung.

„Mein lieber Kamerad, er wird sie nicht ergreifen“, erwiderte Mr. Clare mit der eisigen Gelassenheit des uninteressierten Freundes.

„Aber er soll sie ergreifen“, beharrte Mr. Vanstone.

„Vorausgesetzt, er hätte einen Sinn für Mathematik“, gab Mr. Clare zurück. „Vorausgesetzt, er besäße Fleiß, Ehrgeiz und Zielstrebigkeit. Pah! Pah! Sie sehen ihn nicht mit meinen unparteiischen Augen. Ich sage: keine Mathematik, kein Fleiß, kein Ehrgeiz, keine Zielstrebigkeit. Frank ist ein Ausbund des Negativen – so ist das nun einmal.“

„Zum Teufel mit ihrem Negativen!“, rief Mr. Vanstone „Ich schere mich keinen Deut um Negatives oder auch Positives. Frank soll diese glänzende Chance haben; und ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, dass er das Beste daraus machen wird.“

„Ich bin nicht reich genug, um Wetten einzugehen, jedenfalls gewöhnlich“, antwortete Mr. Clare; „aber ich glaube, ich habe im Haus noch irgendwo eine Guinee; und ich wette mit Ihnen um diese Guinee, dass Frank in unsere Hände zurückkehren wird wie ein falscher Shilling.“

„Die Wette gilt!“, sagte Mr. Vanstone. „Nein! Warten Sie! Ich werde dem Charakter des Jungen nicht die Ungerechtigkeit widerfahren lassen, mit dem gleichen Betrag zu wetten. Ich wette fünf zu eins, dass Frank sich in diesem Beruf hervortun wird! Sie sollten sich schämen, so über ihn zu reden. Ich gebe nicht vor zu wissen, mit welchem Hokuspokus Sie es anstellen, aber Sie sorgen stets dafür, dass ich am Ende seine Partei ergreife, als wäre ich sein Vater und nicht Sie. Ach ja! Man gibt Ihnen Zeit, und Sie verteidigen sich. Ich werde Ihnen keine Zeit geben; ich werde nichts von Ihrer Widerlegung zur Kenntnis nehmen. Schwarz ist weiß, wenn es nach Ihnen geht. Mich kümmert das nicht: Es ist trotzdem schwarz. Sie können reden, so viel Sie wollen – ich werde mit der heutigen Post an meinen Freund schreiben und ja sagen, in Franks Interesse.“

Derart waren also die Umstände, unter denen Mr. Francis Clare im Alter von siebzehn Jahren nach Nordengland reiste, um ein Leben als Bauingenieur zu beginnen.

Von Zeit zu Zeit korrespondierte Mr. Vanstones Freund mit ihm über das Thema des neuen Lehrlings. Frank wurde als stiller, Gentleman-artiger, interessanter Bursche gelobt – aber es wurde auch berichtet, er eigne sich die Grundzüge der Ingenieurwissenschaft nur sehr langsam an. Andere Briefe mit späterem Datum schilderten ihn als ein wenig zu schnell bereit, an sich selbst zu verzweifeln; man habe ihn deswegen zu Arbeiten an einer neuen Eisenbahn geschickt, damit die veränderte Umgebung ihn möglichst aufheiterte; und er habe von dem Experiment in jeder Hinsicht profitiert – außer vielleicht im Hinblick auf seine beruflichen Studien, mit denen es immer noch nicht recht voranging. In späteren Mitteilungen wurde berichtet, er sei in der Obhut eines vertrauenswürdigen Vorarbeiters zu staatlichen Bauarbeiten nach Belgien gereist; es wurde erwähnt, er habe aus der neuerlichen Veränderung anscheinend großen Nutzen gezogen; man lobte seine ausgezeichneten Manieren und seine Redeweise, welche eine große Hilfe seien und den geschäftlichen Umgang mit den Ausländern stark erleichterten – aber über die Hauptfrage nach seinem Fortschritt im Erwerb von Kenntnissen wurde in rätselhaftem Schweigen hinweggegangen. Diese Berichte und viele andere, die ihnen ähnelten, wurden von Franks Freund gewissenhaft Franks Vater zur Kenntnis gebracht. Bei jeder derartigen Gelegenheit jubelte Mr. Clare über Mr. Vanstone, und Mr. Vanstone stritt mit Mr. Clare. „Der Tag wird kommen, da Sie sich wünschen, Sie wären nie diese Wette eingegangen“, sagte der zynische Philosoph. „Der Tag wird kommen, da werde ich das segensreiche Vergnügen haben, Ihre Guinee einzustreichen“, rief der temperamentvolle Freund. Seit Franks Abreise waren mittlerweile zwei Jahre vergangen. Noch ein weiteres Jahr, dann wurden die Ergebnisse offenbar und legten die Frage bei.

Zwei Tage nachdem Mr. Vanstone aus London zurückgekehrt war, wurde er vom Frühstückstisch weggerufen, bevor er auch nur Zeit gehabt hatte, seine Briefe durchzusehen, die mit der Morgenpost eingetroffen waren. Er schob sie in eine Tasche seines Jagdrockes und nahm sie später am Tag, als die Gelegenheit günstig war, wieder heraus. Mit seinem Griff fasste er die gesamte Korrespondenz, allerdings mit einer Ausnahme; diese Ausnahme war der abschließende Bericht des Bauunternehmers, in dem er mitteilte, die Beziehung zwischen seinem Schüler und ihm selbst sei beendet und Frank werde umgehend in das Haus seines Vaters zurückkehren.

Während diese wichtige Ankündigung unbemerkt in Mr. Vanstones Tasche steckte, reiste ihr Gegenstand nach Hause, so schnell die Eisenbahn ihn trug. Um halb elf in der Nacht, als Mr. Clare in eifriger Einsamkeit über seinen Büchern und seinem grünen Tee saß, wobei seine schwarze Lieblingskatze ihm Gesellschaft leistete, hörte er Schritte auf dem Korridor. Die Tür öffnete sich – und Frank stand vor ihm.

Gewöhnliche Menschen wären erstaunt gewesen. Die Contenance des Philosophen jedoch sollte durch eine Kleinigkeit wie die Rückkehr des ältesten Sohnes nicht ins Wanken gebracht werden. Er hätte von seinem gelehrten Werk nicht ruhiger aufblicken können, wenn Frank statt dreier Jahre nur drei Minuten abwesend gewesen wäre.

„Genau wie ich es vorhergesagt habe“, sagte Mr. Clare. „Unterbrich mich nicht, indem du Erklärungen anbringst; und erschrecke die Katze nicht. Wenn in der Küche etwas zu essen ist, nimm es dir und geh dann zu Bett. Morgen kannst du hinüber nach Combe-Rven gehen und Mr. Vanstone diese Nachricht von mir überbringen: ‚Beste Grüße von meinem Vater, Sir, und ich bin in Ihre Hände zurückgekehrt wie ein falscher Shilling, wie er es immer gesagt hat. Er behält seine Guinee und nimmt Ihre fünf; und er hofft, Sie werden zur Kenntnis nehmen, was er Ihnen bei einer anderen Gelegenheit sagt.‘ Das ist die Nachricht. Mach’ die Tür hinter dir zu. Gute Nacht.“

Unter solchen unvorteilhaften Vorzeichen machte Mr. Francis Clare am nächsten Morgen auf dem Anwesen von Cobe-Raven seine Aufwartung; und da er ein wenig im Zweifel war, was für ein Empfang auf ihn warten mochte, näherte er sich nur langsam der Umgebung des Hauses.

Dass Magdalen ihn nicht gleich erkannte, als er zum ersten Mal im Blickfeld erschien, war nicht verwunderlich. Er war als zurückgebliebener Bursche von siebzehn Jahren weggegangen; jetzt kehrte er als zwanzigjähriger junger Mann zurück. Seine schlanke Gestalt hatte an Kraft und Anmut gewonnen, und er war zu einer Statur von mittlerer Größe herangewachsen. Die kleinen, ebenmäßigen Gesichtszüge, die er angeblich von seiner Mutter geerbt hatte, waren runder und voller geworden, ohne dass sie ihre Form von bemerkenswerter Zartheit verloren hätte. Sein Bart steckte noch in den Anfängen; sprießende Linien von Haaren suchten sich ihren bescheidenen Weg die Wangen hinab. Seine sanften, beweglichen braunen Augen hätten dem Gesicht einer Frau zu vorteilhafterem Aussehen verholfen – bei einem Mann hätten sie den passenden Geist und mehr Festigkeit erfordert. Seine Hände hatten die gleiche Gewohnheit zu wandern wie seine Blicke; sie wechselten unaufhörlich von einer Haltung zur anderen, drehten und wendeten jedes verlorene kleine Ding, das sie aufgreifen konnten. Er war unbestreitbar gutaussehend, elegant und wohlerzogen – aber niemand konnte ihn näher beobachten, ohne den Verdacht zu hegen, dass der robuste alte Familienstamm sich in den letzten Generationen abgenutzt hatte und dass Mr. Francis Clare vom Schatten seiner Vorfahren mehr in sich trug als von ihrer Substanz.

Als das von seinem Erscheinen verursachte Erstaunen sich teilweise gelegt hatte, wurde eine Suche nach dem fehlenden Bericht eingeleitet. Man fand ihn schließlich in den hintersten Winkeln von Mr. Vanstones Rocktasche, und er wurde von dem Gentleman auf der Stelle vorgelesen.

Die nackten Tatsachen, wie der Ingenieur sie darlegte, waren, kurz gesagt, folgende: Frank sei nicht im Besitz der notwendigen Fähigkeiten, deren er für seine neue Tätigkeit bedurfte; es sei nutzlos, Zeit zu vergeuden und ihn länger in einer Beschäftigung festzuhalten, für die er keine Berufung hatte. Da dies nach der dreijährigen Probezeit die Überzeugung beider Seiten sei, habe der Dienstherr es für die einfachste Vorgehensweise gehalten, wenn der Schüler nach Hause fuhr und die Ergebnisse seinem Vater und seinen Freunden aufrichtig darlegte. Bei einer anderen Tätigkeit, für die er besser geeignet sei und größeres Interesse aufbringe, werde er zweifellos den Fleiß und die Ausdauer an den Tag legen, die zu praktizieren er in dem nunmehr aufgegebenen Beruf nicht den Mut gehabt habe. Persönlich hätten ihn alle gemocht, die ihn kannten; und sein zukünftiges Wohlergehen sei von Herzen der Wunsch der vielen Freunde, die er im Norden gefunden hätte. Das war der wesentliche Inhalt des Berichts, und damit war er zu Ende.

Viele Menschen wären der Ansicht gewesen, dass die Aussagen des Ingenieurs allzu sorgfältig formuliert waren; und da sie den Verdacht gehabt hätten, dass er sich bemühte, aus einem schlimmen Fall das Beste zu machen, hätten sie, was Franks Zukunft anging, ernsthafte Zweifel gehegt. Mr. Vanstone war zu gutmütig und lebhaft – und auch zu sehr darauf bedacht, seinem alten Gegenspieler keinen Zoll mehr an Terrain abzugeben, als es unumgänglich war –, als dass er den Brief unter derart unvorteilhaften Gesichtspunkten betrachtet hätte. War es Franks Schuld, wenn er nicht den Stoff in sich trug, aus dem Ingenieure gemacht sind? Begannen nicht auch andere junge Männer ihr Leben mit einem Fehlstart? Viele fingen doch so an, kamen darüber hinweg und wirkten später Wunder. Mit solchen Kommentaren über den Brief klopfte der gutherzige Gentleman Frank auf die Schulter. „Kopf hoch, mein Lieber!“, sagte Mr. Vanstone. „Wir werden in den nächsten Tagen sogar mit deinem Vater ins Reine kommen, auch wenn er dieses Mal tatsächlich die Wette gewonnen hat!“

Dem Beispiel, das der Hausherr auf diese Weise gegeben hatte, folgte sofort die ganze Familie – mit einer einzigen Ausnahme: Norah brachte ihre unheilbare Förmlichkeit und Zurückhaltung gegenüber dem Besucher mit einem nicht allzu eleganten, distanzierten Betragen zum Ausdruck. Die anderen, allen voran Magdalen (die in früheren Zeiten Franks liebste Spielkameradin gewesen war) verfielen wieder mühelos in den gewohnten, unbefangenen Umgang mit ihm. Für alle war er „Frank“, außer für Norah, die darauf beharrte, ihn mit „Mr. Clare“ anzureden. Nicht einmal der Bericht über den Empfang durch seinen Vater am Abend zuvor, den zum Besten zu geben er jetzt aufgefordert wurde, konnte Norahs Ernst erschüttern. Sie saß da, das dunkle, hübsche Gesicht unverrückbar abgewendet, den Blick gesenkt, die üppige Farbe ihrer Wangen wärmer und tiefer als gewöhnlich. Alle anderen, eigeschlossen auch Miss Garth, fanden die Willkommensansprache des alten Mr. Clare an seinen Sohn unwiderstehlich komisch. Der Lärm und die Fröhlichkeit waren auf ihrem Höhepunkt, als ein Diener hereinkam und die ganze Gesellschaft mit der Ankündigung verblüffte, im Salon seien Besucher. „Mr. Marrable, Mrs. Marrable und Miss Marrable; Evergreen Lodge, Clifton.“

Norah erhob sich so bereitwillig, als seien die Neuankömmlinge eine Erleichterung für ihre Seele. Als Nächste stand Mrs. Vanstone von ihrem Stuhl auf. Die beiden gingen als Erste hinaus, um die Besucher zu empfangen. Magdalen, die lieber mit ihrem Vater und Frank zusammengewesen wäre, bettelte darum hierbleiben zu dürfen; aber nachdem Miss Garth ihr eine Gnadenfrist von fünf Minuten gewährt hatte, nahm sie die junge Frau in ihre Obhut und marschierte mit ihr aus dem Zimmer. Frank erhob sich und wollte gehen.

„Nein, nein“, sagte Mr. Vanstone und hielt ihn zurück. „Geh’ nicht. Diese Leute werden nicht lange bleiben. Mr. Marrable ist Kaufmann in Bristol. Ich habe ihn ein- oder zweimal getroffen, als die Mädchen mich gezwungen haben, mit ihnen nach Clifton auf Empfänge zu gehen. Entfernte Bekannte, mehr nicht. Komm’ und rauche mit mir im Gewächshaus eine Zigarre. Man sollte alle Besucher aufhängen – sie machen einem nur das Leben schwer. Ich werde mit einer Ausrede im letzten Augenblick erscheinen; du folgst mir in sicherer Entfernung und bist der lebende Beweis, dass ich wirklich beschäftigt war.“

Während Mr. Vanstone in verschwörerischem Flüsterton diese geniale Strategie vorschlug, griff er nach Franks Arm und führte ihn durch den Hinterausgang auf die Rückseite des Hauses. In der Abgeschiedenheit im Gewächshaus vergingen die ersten zehn Minuten, ohne dass sich irgendetwas ereignete. Am Ende des Zeitraumes sahen die beiden Gentlemen durch das Glas eine Gestalt in heller Kleidung auf sich zueilen – die Tür flog auf – Blumentöpfe fielen in Huldigung der vorüberkommenden Röcke um – und Mr. Vanstones jüngste Tochter lief mit überstürzter Geschwindigkeit auf ihn zu; ihr ganzes äußeres Erscheinungsbild deutete darauf hin, dass ihre Sinne sie plötzlich verlassen hatten.

„Papa, der Traum meines ganzen Lebens ist wahr geworden“, sagte sie, sobald sie wieder sprechen konnte. „Wenn mich nicht jemand festhält, fliege ich gleich durch das Dach des Gewächshauses. Die Marrables sind mit einer Einladung gekommen. Rate mal, mein Lieber – rate mal, was sie in Evergreen Lodge veranstalten wollen!“

„Einen Ball!“, sagte Mr. Vanstone, ohne auch nur einen Moment zu zögern.

„Private Theateraufführungen!!“, schrie Magdalen, wobei ihre klare junge Stimme durch das Gewächshaus tönte wie eine Glocke; ihre lockeren Ärmel fielen zurück und entblößten die runden weißen Arme bis zu den Grübchen der Ellenbogen, als sie die Hände in der Luft begeistert zusammenklatschte. „‚Die Rivalen‘, so heißt das Stück, Papa – ‚Die Rivalen‘ von dem berühmten Wie-heißt-er-doch-gleich, und sie wollen, dass ICH mitspiele! Das, wonach ich mich unter allen Dingen im Universum am meisten sehne. Es hängt alles von dir ab. Mama schüttelt den Kopf; Miss Garth durchbohrt mich mit ihren Blicken; und Norah ist so sauer wie immer – aber wenn du ja sagst, müssen sie alle drei nachgeben und mich machen lassen. Sag’ ja!“, bettelte sie, wobei sie sich sanft an ihren Vater schmiegte und ihre Lippen mit liebevoller Zartheit auf sein Ohr drückte, während sie die nächsten Worte flüsterte: „Sag’ ja, und ich will von jetzt an immer ein braves Mädchen sein.“

„Ein braves Mädchen?“, wiederholte Mr. Vanstone. „Ich glaube, du meinst ein verrücktes Mädchen. Hängen sollte man sie, diese Leute und ihre Theateraufführungen! Ich muss wohl ins Haus gehen und mir die Sache genauer ansehen. Du brauchst deine Zigarre nicht wegzuwerfen, Frank. Mit dir hat die Sache nichts zu tun, du kannst also ruhig hierbleiben.“

„Kann er nicht“, sagte Magdalen. „Es hat auch mit ihm zu tun.“

Mr. Francis Clare hatte sich bisher bescheiden im Hintergrund gehalten. Jetzt trat er mit einem Gesichtsausdruck der sprachlosen Verblüffung vor.

„Ja“, fuhr Magdalen fort, wobei sie seinem leeren, fragenden Blick mit vollkommener Gefasstheit begegnete. „Du wirst auch mitspielen. Miss Marrable und ich haben es besprochen, und in fünf Minuten war alles erledigt. In dem Stück sind noch zwei Rollen zu besetzen. Die eine ist die Kammerzofe Lucy; das ist die Rolle, die ich übernommen habe – mit Papas Erlaubnis“, fügte sie hinzu, wobei sie ihren Vater heimlich in den Arm kniff. „Und er wird nicht nein sagen, oder? Erstens weil er ein Schatz ist; zweitens weil ich ihn liebe und er mich liebt; drittens weil es zwischen uns nie Meinungsverschiedenheiten gibt (nichtwahr?); und viertens weil ich ihm jetzt einen Kuss gebe, womit ihm der Mund verschlossen und sie ganze Frage geklärt ist. Du liebe Güte, ich schweife ab. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Ich wollte Frank erklären…“

„Ich bitte um Verzeihung“, setzte Frank an in dem Versuch, an dieser Stelle seinen Protest anzubringen.

„Die zweite Rolle in dem Stück“, fuhr Magdalen fort, ohne von dem Protest auch nur die geringste Kenntnis zu nehmen, „ist Falkland, ein eifersüchtiger Liebhaber mit einem schönen Redefluss. Miss Marrable und ich haben auf der Bank am Fenster im Vertrauen über Falkland gesprochen, während alle anderen sich unterhalten haben. Sie ist ein entzückendes Mädchen – so impulsiv, so empfindsam, so vollkommen unaffektiert. Sie hat mir vertraut und gesagt: ‚Wir sind in der misslichen Lage, dass wir keinen Gentleman finden, der sich mit den grässlichen Schwierigkeiten von Falkland auseinandersetzen kann.‘ Natürlich habe ich sie getröstet. Natürlich habe ich gesagt: ‚Ich habe den Gentleman, und er wird sich augenblicklich damit auseinandersetzen.‘

‚Du liebe Güte! Und wer ist das?‘

‚Mr. Francis Clare.‘

‚Und wo ist er?‘

‚Im Augenblick ist er hier im Haus.‘

‚Würden Sie so liebenswürdig sein, Miss Vanstone, und ihn holen?‘

‚Ich hole ihn, Miss Marrable. Mit dem größten Vergnügen.‘

Ich bin von der Bank am Fenster aufgestanden…ich bin ins Frühstückszimmer gelaufen…Es hat nach Zigarren gerochen…Ich bin dem Geruch gefolgt…und da bin ich.“

„Ich weiß, es ist eine Ehre, dass ich gefragt werde, ob ich mitspielen will“, sagte Frank in höchster Verlegenheit. „Aber ich hoffe, Du und Miss Marrable werdet mich entschuldigen…“

„Ganz sicher nicht. Miss Marrable und ich sind von einer bemerkenswerten Charakterfestigkeit. Wenn wir sagen, Mr. Soundso wird in jedem Fall die Rolle des Falkland spielen, dann meinen wir es auch so. Komm’ rein, ich werde dich vorstellen.“

„Aber ich habe noch nie Theater gespielt. Ich weiß nicht, wie man das macht.“

„Das ist nicht von der geringsten Bedeutung. Wenn du nicht weißt, wie man es macht, komm’ zu mir und ich bringe es dir bei.“

„Du!“, rief Mr. Vanstone. „Was verstehst du denn davon?“

„Bitte, Papa, im Ernst! Ich habe die stärkste innere Überzeugung, dass ich in dem Stück jede Rolle spielen könnte – auch den Falkland. Ich möchte es nicht noch einmal sagen, Frank. Komm’ mit, ich stelle dich vor!“

Sie nahm den Arm ihres Vaters und ging mit ihm zur Tür des Gewächshauses. Auf der Schwelle drehte sie sich um und wollte sehen, ob Frank ihnen folgte. Es war nur die Handlung eines Augenblicks, aber in diesem Augenblick mobilisierte ihre natürliche Willensstärke alle ihre Kräfte – sie stärkte sich mit dem Einfluss ihrer Schönheit – befehligte – und eroberte. Sie sah reizend aus: Das Rot ihrer Wangen war von einer zarten Helligkeit; die helle Freude leuchtete und glitzerte in ihren Augen; die Haltung ihrer Gestalt, die sich plötzlich von der Taille aufwärts umdrehte, offenbarte ihre zarte Kraft, ihre geschmeidige Festigkeit, ihre verführerische, schlangengleiche Anmut. „Komm!“, sagte sie mit einer kokett auffordernden Kopfbewegung. „Komm, Frank!“

Die wenigsten Männer von vierzig Jahren hätten ihr in diesem Augenblick widerstehen können. Franks letzter Geburtstag war sein zwanzigster gewesen. Mit anderen Worten: Er warf die Zigarre weg und verließ hinter ihr das Gewächshaus.

Als er sich umdrehte und die Tür schloss – und Magdalen für einen Moment aus den Augen verlor –, lebte seine Abneigung gegen eine Mitwirkung an privaten Theatervorstellungen wieder auf. Am Fuß der Treppe zum Haus blieb er stehen, pflückte von einer Pflanze in der Nähe einen Zweig, zerbrach ihn in der Hand und blickte unbehaglich um sich herum von einer Seite zur anderen. Der Pfad zur Linken führte zurück zum Haus seines Vaters – der Fluchtweg stand ihm offen. Warum schlug er ihn nicht ein?

Während er noch zögerte, hatten Mr. Vanstone und seine Tochter die oberste Stufe erreicht. Wieder blickte Magdalen sich um – blickte sich um mit ihrer unwiderstehlichen Schönheit, ihrem alles erobernden Lächeln. Wieder winkte sie ihm; und wieder folgte er ihr – die Stufen hinauf und über die Türschwelle. Hinter ihnen schloss sich die Tür.

Es war nur eine nichtssagende Geste der Einladung auf der einen Seite und ein nichtssagender Akt der Gehorsams auf der anderen: So schlugen sie – auf seiner Seite ohne jedes Wissen über das Geheimnis, das sich immer noch hinter der Reise nach London verbarg, auf ihrer ohne einen Gedanken daran – den Weg ein, der zur Aufdeckung des Geheimnisses führen sollte. Aber er sollte eine noch viel dunklere Wendung nehmen.

Die Namenlosen

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