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Kapitel 7 Die Rechtsmedizin

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1958 löste sich in Rostock die Gerichtliche Medizin aus der Pathologie und wurde zu einer eigenen Struktureinheit, zu einem Institut, zunächst in der Gertrudenstraße. 1964 zog das Institut in die Friedrich-Engels-Straße, heute St.-Georg-Straße, in das ehemalige Internat der Arbeiterund Bauern-Fakultät. Dort sitzt sie noch heute, seit der Wende umbenannt in Rechtsmedizin. Die alte graue Villa wirkt zwischen dem Studentenwohnheim und dem roten, wuchtigen Backsteingebäude, welches zu DDR-Zeiten die SED-Bezirksleitung beherbergte, danach das Gesundheitsamt und jetzt die Stadtkämmerei, wie ein Implantat. Das Hofgebäude bleibt verdeckt, ein hässlicher Betonbau, der Ende der 70er-Jahre in den Hof des Studentenwohnheimes gesetzt wurde, um Nachrichtentechnik aufzunehmen – man ahnt, um welche Art von Nachrichten und um welche Art von Technik es dort ging. Wer nun noch wusste, dass sich die Chemisch-Toxikologische Abteilung des Institutes in der Rungestraße neben der alten U-Haft befand, für den bestätigte sich endgültig durch diese baulichen Nachbarschaften ein Generalverdacht gegenüber allen, die in der Gerichtsmedizin arbeiteten. Mit dieser Corona aus Vorbehalten hatte sich der junge Dr. Karsten Brandenburg auch auseinanderzusetzen, als er 1980 nach dem Medizinstudium dort die Weiterbildung zum Facharzt begann. Der Kern des Faches hielt ihn jedoch gefangen und lies ihn nicht mehr los. Der Muff des alten Gemäuers erzeugte immer irgendwie beides: Abwehr und Anziehung. Letzteres überwog fast 40 Jahre. Seine Kollegen nannten ihn BRB: Das Autokennzeichen für die Stadt und den Landkreis Brandenburg an der Havel, seine Heimatstadt und kurioser Weise auch sein Nachname. BRB hatte sich in seinen drehbaren Dienstsessel eingepasst und merkte ein ums andere Mal, dass sein Körper so nach und nach, mit dem Älterwerden die Ideallinien verließ und der Sesselform immer ähnlicher wurde. Der Sessel war so bequem, dass der Körper keinerlei Energie aufwenden musste, um sich darin zu halten. Das wiederum ließ den Zeiger der Waage zwar langsam aber dafür beständig weiter nach rechts auslenken. Einhalt gebot lediglich ein Tag, der mit Obduktionen ausgefüllt war, denn da hieß es im Stehen präparieren und diktieren, den ganzen Tag, und zuweilen nähen und schwer heben. Einsätze zu einem Tatort, ein Konsil in der Klinik oder eine Vorlesung waren weitere willkommene Abwechslungen, die jedoch für die Rekonstruktion der Ideallinie nicht ausreichten. In der Freizeit etwas Sport, aber nicht zu viel und so entwickelte sich bei ungestörtem Appetit und gelegentlich einem Fläschchen Bier der beschriebene Zustand.

Ein Tag im Institut nahm seinen Lauf. Am Nachmittag war ein Ethikkonsil auf der neurologischen Intensivstation im Zentrum für Nervenheilkunde Rostock-Gehlsdorf anberaumt worden. Es ging um eine 83-jährige, korpulente Frau, die mit einem Schlaganfall aufgenommen wurde. Auf Station trafen außerdem ein Internist und ein Chirurg ein, dazu noch der Krankenhausseelsorger und eine Juristin von der Stabsstelle Recht. Die Patientin hatte eine Patientenverfügung unterschrieben, die von den Angehörigen vorgelegt worden war. Es ging darum, ob der in der Verfügung formulierte Zustand eingetreten sei. Die Stationsärztin stellte die Patientin vor. Gegenwärtiger Status, bisherige Therapie und weitere Möglichkeiten sowie die Prognose wurden in der Runde diskutiert. Auf der Rückfahrt von Gehlsdorf zur St.-Georg-Straße meldete sich Kommissarin Semlock, die BRB im Auto über seine Freisprechanlage empfing. Sie durchbrach mit ihrem Anruf die bassigen Drums im Intro von Amy Winehouse’ YOU KNOW I’M NO GOOD.

»Oh, Du bist gerade unterwegs«, tönte es plötzlich im harten Kontrast zu der Musik, von der sich BRB eigentlich zum Institut begleiten lassen wollte.

»Hört man das?«

»Irgendwie schon. Es sei denn, Dein PC hat eben den Blinker gesetzt und vom vierten in den dritten Gang geschaltet.« Beide lachten herzlich.

»Was gibt es denn Frau Kommissär?«

»Kommissär? Das habe ich doch heute schon einmal gehört.« Kerstin Semlock dachte kurz nach. »Ach ja, der Kollberg hat mich so angesprochen und einen Reim draufgesetzt. Ich glaube, der dreht langsam frei. Mannomann…«

»Nun lass mal«, fiel ihr BRB ins Wort. »Ab und an ein bisschen lustig muss doch erlaubt sein und ist nicht gleich psychopathologisch oder psychiatrisch. Da, wo ich gerade herkomme ist das schon anders.«

»Klär mich auf.«

»Ethikkonsil in Gehlsdorf.«

»Ah, ich verstehe. Der Doktor gibt sich mal wieder klinisch. Gut fürs Ego, oder?«

»Was kann ich denn Gutes für dich tun?«, fragte BRB nach.

»Für mich fällt mir da überhaupt nichts ein, aber vielleicht für deinen Freund Tengler.«

»Der kann eigentlich ganz gut für sich allein sorgen.«

»Ja, wenn ich darüber Gewissheit hätte, wäre mir wohler.«

»Was soll das denn nun heißen?«

»Er ist weg.«

»Wie weg?«

»Er ist heute nicht zum Dienst gekommen. Übers Smartphone kann ich ihn nicht erreichen. Seine Frau ist in Berlin, die habe ich angerufen, sie hat ihn am Freitagabend zuletzt gesehen und gehört. Sie will noch seinen Sohn fragen. Ansonsten wusste sie nur, dass er am Wochenende mit seinem Kajak loswollte, wahrscheinlich Sonnabend. Weißt du, was mit ihm sein könnte? Hattet ihr Kontakt?«

»Nein, ich weiß nur, dass das völlig ungewöhnlich ist. Einfach warten würde ich nicht.«

»Ok, sehe ich auch so. Dann schicke ich einen Streifenwagen zu seiner Wohnung.«

»Mach das. Ich bin nachher im Institut. Halte mich bitte auf dem Laufenden.«

Amy Winehouse verschaffte sich wieder Gehör, BRB schaltete sie jedoch weg. Zuviel ging ihm gleich durch den Kopf. Er verließ das Gelände am Osthafen und bog auf die B105, um über die Vorpommernbrücke zu fahren. Danach gleich links über die Warnowstraße und die Steintorkreuzung zum Institut. Er winkelte seinen Wagen auf dem Hof in eine Parklücke, wand sich aus dem Auto und ging hastig ins Haus. Zuerst ins Sekretariat. »Bin wieder da«, rief er in den Raum. »Hier die Parkkarte zurück.« Er protokollierte die Rückgabe und fragte, ob jemand etwas von Kommissar Tengler gehört habe.

»Nein, heute noch nicht«, gab die Sekretärin zurück. »Die suchen ihn und können ihn bisher nicht finden!«

»Ach Du meine Güte. Was soll mit dem denn sein?«

»Werden wir hoffentlich bald erfahren. Falls Frau Semlock hier anruft, bitte gleich zu mir durchstellen, ja?«

»Klar doch«, versicherte sie ihm mit einem Lächeln.

Endstation Salzhaff

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