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Kapitel 1 Kamptheater Bad Doberan

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Das Bad Doberaner Kino arbeitet nach dem Motto: »Filme können Sie überall sehen, aber Kino, das gibt’s nur hier bei uns im Kamptheater.« Es war ein Mittwoch. Der alte Kinosaal mit Parkett und Rang, 244 roten Polstersitzen und einem Verkauf für Wein, Bier und Popcorn verströmt Kinogeschichte. Der originale UFA-Gong markiert vor jeder Vorstellung den Beginn einer Reise in andere Welten, wie sie eben nur im Kino und nicht zu Hause im Sessel erlebt werden kann. Es lief »Systemsprenger« von Nora Fingscheidt. Eine wuchtige Psychopathologie schrie sich zwei Stunden durch den Saal. Beim Abspann sang Nina Simone »Ain’t got no, I got life …« und entkernte die Zuschauer endgültig, die noch im Eindruck vom finalen Sprung der Benni sitzen blieben und erst einmal tief durchatmeten, bevor sie nach ihren Mänteln und Jacken griffen. Langsam erhob man sich, winkte ein Tschüss zu den Diensthabenden des Kinovereins und schob sich langsam aus dem Saal in den kalten Flur. Das Bistro hatte noch auf. Dr. Karsten Brandenburg und sein Begleiter nahmen schnell einen Tisch in Besitz.

»Und? Wie fandest du den Film?«, fragte Dr. Brandenburg.

»Ging so. Nicht unbedingt mein Thema. Ist mir zu schwer«, entgegnete sein alter Freund Torsten Tengler.

»Ist eben Programmkino hier in Doberan und nicht irgendein Mainstream, den sie überall spielen«, erklärte Dr. Brandenburg.

»Ja, sicher, ist ja auch gut so. Trotzdem, dem einen liegt so ein Film zum Feierabend, der andere will oberflächlich unterhalten werden. Ich brauche nicht immer so eine furchtbare Seelentiefe, auch wenn es ja ein starkes und wichtiges Thema ist. Wenn hier jetzt Fips Asmussen selig oder Markus Krebs auftreten würde, dann würde ich mich schlapp lachen und hätte den richtigen Ausgleich zu dem, was mich letzte Tage auf der Arbeit genervt hat. Meine Frau sagt dann, dass ich ein primitives, dumpfes Männerhirn habe und mit mir kulturell nichts los sei und hätte sie das früher gewusst … Und warum kann ich mir nicht mehr Mühe geben und auf sie eingehen? Dabei würde ich dann allerdings eingehen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ach Torte«, entgegnete Dr. Brandenburg, »ich kann mir nicht vorstellen, dass du so kulturlos bist. Jetzt verordne ich dir als Arzt ein Spätbier und du wirst sehen, dass es wirkt.« »Dr. Brandenburg!?«, rief es laut durch das Bistro. »Telefon!«

»Oh, was ist das denn? Ist ja wie früher«, meinte Dr. Brandenburg, den seine Freunde und engsten Mitarbeiter in der Rostocker Rechtsmedizin nur BRB nannten. Er stemmte sich hoch, winkelte sich aus dem schmalen Spalt zwischen Tisch und Stuhl und ging schnell zum Tresen.

»Brandenburg. Wann ich nach Hause komme? Ach je, hör mal, der Film hatte Überlänge, ist gerade zu Ende und ich will mit Torsten Tengler noch ein Bier trinken. Drück mal bitte nicht. Allzu lange wird’s nicht dauern. Ich komme dann schon, ok? Bis dann. Ja, sicher. Nein, ich pass auf. Wer kommt morgen? Weiß ich doch. Warum sagst du das jetzt? Nein, ich trinke zwei Bier und das war’s und dann bin ich morgen fit. Du, der Torsten trommelt schon nervös mit den Fingern auf der Tischplatte … Nein, das ist kein Problem, ich … ja, du kannst dich auf mich verlassen. Auf jeden Fall. Ok, Tschüss!«

Die Besatzung am Tresen feixte und wechselte vieldeutige Blicke, als BRB mit verspannter Miene zum Tisch zurückkehrte.

»Dir scheint es richtig gut zu gehen, mein Lieber.«

»Ja«, erwiderte BRB. »Da kann ich wirklich nicht klagen!«

»Hast du dich denn beruflich gut eingelebt?«, fragte BRB sein Gegenüber.

»Bin ganz zufrieden. Wir haben es ja noch richtig gelernt. Einmal Fuß gefasst, kommst du überall klar.«

Torsten Tengler, der in seinen Kreisen Torte genannt wurde, stammte aus der Nachbarschaft, früher in Brandenburg/Havel. Die Kinder spielten und rauften zusammen. Es gab da einen Spielplatz neben der Franz-Ziegler-Straße, wo Bäcker Suchalski sein Geschäft hatte, mit Wippe und Klettergerüst, am Rande eine riesige Trauerweide, die nach stürmischem Wetter ihr zerzaustes Haar wieder glättete. Sie überragte alles und ihre gewaltige Größe wirkte wie ein Garantieversprechen: Euren Kindern passiert nichts. Lasst sie nur bei mir spielen. Ich passe auf. Das war in den 50er- und 60er-Jahren. Aus dieser Zeit kannten sich BRB und Torte schon. Sie hatten sich dann aus den Augen verloren. Das Medizinstudium des einen in Rostock und die Polizeilaufbahn des anderen passten nicht mehr zusammen. Doch jetzt schien sich ein Kreis zu schließen.

»Hab es nicht bereut, nach Rostock gekommen zu sein, obwohl es ein tiefer Einschnitt war. Einen alten Baum soll man ja nicht verpflanzen!«

»Der alte Baum darf aber gegossen werden«, fiel ihm BRB ins Wort. »Noch zwei Bier bitte«, rief er zum Tresen und die Kellnerin nickte kurz.

»Ich wollte vor allem die Ostseenähe haben«, begann Torsten Tengler zu schwärmen und sein Blick verlor sich kurz in einer seligen Fantasie.

»Kann ich gut verstehen«, sagte Brandenburg. »Du oder ihr seid ja mit dem Kajak viel auf dem Wasser, oder habt ihr zwei? Jeder in seinem? Ich sehe öfter mal ältere Ehepaare, die mit zwei Booten fahren. Meine Frau und ich kajaken auch.«

»Sag bloß. Wir sind bestimmt schon 15 Jahre fast jeden Sommerurlaub irgendwo mit dem Kajak unterwegs«, schwärmte Torsten Tengler weiter. »Wir haben einen Zweier und einen Einer. Mit dem Einer fahre ich auch gern mal allein los. Ich-Zeiten sind wichtig, sollte man sich in einer Beziehung gegenseitig gönnen.«

»Da sagst du was. Ich gehe Geocachen, am liebsten die T5er, hoch auf die Bäume.«

»Was bedeutet T5?«

»Das ist der technisch höchste Schwierigkeitsgrad für das Terrain, nicht um einen Cache zu orten, sondern um ihn zu erreichen. Eine Klettertour bekommt dann immer die höchste T-Wertung.«

»So hat jeder seins«, entgegnete ihm Torte lächelnd.

»Du bist ja gleich im Rostocker Fachkommissariat 1 der Kriminalpolizeiinspektion gelandet«, stellte BRB fest. »Warst du vorher in Potsdam auch im FK 1?«

»Ja, erst zwei Jahre Arbeitsunfälle und dann zu den schweren Körperverletzungen und Tötungsdelikten. Das war immer meins. Und was wurde deins?«

»Ich habe in Rostock studiert und bin da hängen geblieben. Zur Wende hatte ich einen unbefristeten Arbeitsvertrag und da ich politisch nicht belastet war, hat mir die Ehrenkommission der Uni einen Persilschein ausgestellt.«

»Wenn du nicht belastet warst, brauchte es wohl kein Persil, oder?«

»Ja, hast recht. Mir fiel der Begriff eben nur ein, weil mein Großvater nach dem Krieg auch so einen Zettel bekam. Damals sagte man so. Der sieht meinem recht ähnlich.« »Geschichte wiederholt sich eben.«

Mit diesem Satz in Wort und Sinn belächelten beide ihr Jetzt und waren so vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie zwei Tische weiter ein einzelner Mann aufstand, dem Kellner einen Betrag zusteckte, sich seinen Mantel überwarf und betont langsam zunächst an ihrem Tisch und dann am Tresen vorbei zur großen Glastür ging, die den Gastraum vom Eingangsbereich und Flur abtrennte. Die Klinke in der Hand drehte er sich nochmal zu den beiden Freunden, verharrte einen Moment und ging dann. Dabei schlug er sich den Kragen hoch, ruckelte sich die Ärmel zurecht, klopfte auf die Seitentaschen, um den Inhalt zu prüfen und trat vor die Tür. Er überquerte die Straße mit dem alten Kopfsteinpflaster. Seine Kontur verlor sich im Dunkel der Bäume des Bad Doberaner Kamps. All das geschah von BRB und seinem alten Freund völlig unbeachtet.

»Dann hattest du ja eine geradlinige, typische Ossi-Karriere. 40 Jahre auf einer Arbeitsstelle. Respekt«, sagte Torsten Tengler. »Übrigens – mir kam es damals nie komisch vor, dass du so heißt wie unsere Heimatstadt«, stellte er fest. »Nach all den Jahren fällt es mir jetzt erst auf.«

Beide lachten.

»Nun, bei mir lief es etwas holpriger«, erzählte Torsten Tengler weiter. »Da gab es einige Dienststellen mehr, noch vor der Potsdamer Zeit. Hing auch mit der Familie zusammen. Bin einmal geschieden und jetzt das zweite Mal verheiratet. Kind aus erster Ehe. Ging alles nicht so glatt.« Tenglers Blick bohrte sich dabei schwer zu beschreiben in den von Brandenburg, der das registrierte.

»Ja … Du … Is wie is. Mein Weg war glatt und vorgezeichnet. Es ergab sich eben alles so. Gerichtsmedizin oder Rechtsmedizin, wie es nach der Wende hieß, war und ist im Wesentlichen an Universitäten gebunden. Eine ärztliche Niederlassung wie beim Allgemeinmediziner war nicht möglich. Ich bin aber ganz froh. Als Gehaltsempfänger ging und geht es mir nicht so schlecht. Du hattest doch als Beamter eigentlich auch immer deine Sicherheiten, oder?«, gab Brandenburg zurück.

Tengler schwieg einen Moment. »Sicher, ich hatte Sicherheiten. Finanzielle Sicherheiten. Mit einem Gefühl von Sicherheit hat meine tägliche Arbeit aber nichts zu tun. Da geht manchmal nicht alles so glatt, wie ich vorhin schon sagte.«

Brandenburg hakte nicht nach, weil er den Eindruck bekam, dass sein alter Freund so einiges in sich trug, was jetzt nicht unbedingt auf den Tisch sollte. Der Abend lief dann langsam aus, sodass beide in völlig unbedenklichem Zustand dem frühen Aufstehen am nächsten Tag optimistisch entgegensehen konnten.

Endstation Salzhaff

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