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Kapitel 4 Amtsgericht Rostock
ОглавлениеAm Montag fuhr Dr. Brandenburg zum Rostocker Amtsgericht. Die Sonne stand noch tief. Der Himmel war klar. Das Auto parkte er auf dem Kundenparkplatz eines Supermarktes. Das Risiko, die dort ausgeschilderten zwei Stunden zu überschreiten, nahm er in Kauf. Das moderne Gebäude, dicht an der Unterwarnow, hatte etwas Steriles. Nicht zu vergleichen mit dem historischen Fürstenhof in Wismar. Dort beeindruckten schwere, alte Holztüren, hölzerne Vertäfelungen und eben das Flair und der Charme eines alten Hauses. Er nahm die Treppen, denn sitzen musste er vermutlich an diesem Tag noch lange genug. Also zwei Stufen auf einmal und einmal schön durchgepustet. So kam er im zweiten Obergeschoss an. Neben den Türen zu den Verhandlungssälen hingen die Terminrollen. Er vergewisserte sich kurz, ob sein Termin eingetragen war und nahm in dem großzügigen Wartebereich Platz. Er war wie immer recht früh. Als zwanghaft pünktlicher Mensch ging das nicht anders. Er nahm sich Literatur aus dem Aktenkoffer, um die Wartezeit zu überbrücken. Endlich über Lautsprecher der dumpfe Aufruf der Strafsache, zu der er geladen war. Spätestens jetzt wurde klar, wer von den weiteren Personen im Wartebereich zu diesem Termin gehörte. Langsam bewegte man sich in den Saal. Die Sitzordnung war immer die gleiche. Angeklagte und Verteidiger nahmen den linken Flügel ein. Staatsanwalt und Sachverständige saßen rechts. Hinten quer Sitzreihen für das »Publikum.« Die Verhandlungen sind öffentlich, wenn die Öffentlichkeit nicht auf Beschluss der Kammer ausgeschlossen wird.
Die Sitzung begann pünktlich. Feststellen der Anwesenheit. Verlesen der Anklage. Die mit Spannung erwartete Frage des Richters an jeden einzelnen, ob er sich zum Tatvorwurf äußern oder von seinem Schweigerecht Gebrauch machen wird. Erleichterung, nachdem alle Angeklagten erklärten, sich äußern zu wollen. Das würde den Prozessverlauf zwar zeitlich nicht unbedingt beschleunigen, aber am Ende die Urteilsfindung und für Dr. Brandenburg die Gutachtenerstattung erleichtern, weil mehr Informationen und sogenannte Anknüpfungstatsachen zu erwarten waren. Für ihn, als vom Gericht geladenen Sachverständigen, ging es um eine Schuldfähigkeitsbegutachtung, da die Straftaten unter erheblichem Alkoholeinfluss begangen worden sein sollten.
Man lehnte sich zurück und verfolgte aufmerksam die beginnende Vernehmung durch den Richter. Danach ging das Fragerecht an die Vertreterin der Staatsanwaltschaft, an die Verteidiger und zuletzt an den Sachverständigen. Um alle Angeklagten im Grundsatz gleich zu behandeln, hatte sich ein Fragenkatalog bewährt, um bestimmte, grundsätzliche Fragerichtungen abzuarbeiten. Von dem wich Brandenburg nur ab, wenn die Individualität des Angeklagten dies erforderte. Am Ende musste jeder sein individuelles Gutachten bekommen. Man konnte natürlich nicht aus einem Gesamteindruck ein Gutachten für alle erstatten. So verging Stunde um Stunde, unterbrochen von kleinen Lüftungspausen, einer Mittagspause und gelegentlichen Ermahnungen des Richters an einzelne Zuschauer, weil sie durch Tuscheln oder Kichern störten. Nach der Mittagspause nahm eine Jugendgruppe Platz, die den Anfang des Verfahrens nicht mitbekommen hatte und denen auch niemand etwas erklärt zu haben schien. Dementsprechend hielten Aufmerksamkeit und Disziplin nicht lange. Am Rande, dicht an den Fenstern, saß eine schlanker Mann mittleren Alters. Dunkles, kurzes, offenbar frisiertes Haar, gut gekleidet. Seine Gesichtszüge verrieten unbedingte Aufmerksamkeit und eine harte Prägung. Der Blick ruhig und fest. Er hielt die gesamte Zeit des ersten Verhandlungstages durch und machte sich Notizen. Er grenzte sich durch seine Sitzposition und seine Ruhe deutlich vom übrigen Publikum ab. Er saß so, dass Dr. Brandenburg sich deutlich nach rechts hätte drehen müssen, um ihn zu sehen. Das gab ihm die Möglichkeit, Dr. Brandenburg zu beobachten, ohne, dass dieser es merkte. Nachdem die Verhandlung gegen 16:30 Uhr unterbrochen und die Fortsetzungstermine bekannt gegeben wurden, erhoben sich alle, schuffelten ihre Papiere und sonstigen Unterlagen zusammen und füllten ihre Taschen, in denen auch die zerknüllten Roben der Verteidiger landeten. Kurze Wortwechsel, Gemurmel, ein schneller Griff zum liegen gelassenen Kugelschreiber, das Klacken von Verschlüssen, ein Lachen, ein ›Tschüss‹ und ein ›Bis dann‹ und Brandenburg zog seinen Aktenkoffer vom Tisch, um zu gehen.
»Herr Dr. Brandenburg«, rief es hart und gleichzeitig fragend hinter ihm. Er drehte sich zu der Stimme.
»Ja?«
»Mein Name ist Karmann. Ich bin freier Journalist und habe den Prozess verfolgt. Darf ich Sie einiges fragen?«
»Wenn Sie den Prozesstag aufmerksam verfolgt haben, dann wissen Sie all das, was man als Öffentlichkeit bisher dazu wissen kann.«
Der Journalist lächelte und setzte nach. »Mir geht es natürlich um Ihren Eindruck. Es scheint doch so, dass die Angeklagten genau wussten, was sie taten. Was braucht es da eine Begutachtung der Schuldfähigkeit?«
Brandenburg stutzte einen Moment.
»Sie erwarten doch nicht im Ernst, dass ich Ihnen ein Vorabstatement gebe? Im Übrigen ist die Beweisaufnahme längst nicht abgeschlossen.«
»Ich erwarte natürlich gar nichts«, sprach er ihn weiter an, »aber die Verhandlung ist unterbrochen und da könnten wir doch reden. Keine Ihrer Äußerungen könnte im Prozess Verwendung finden, weil wir jetzt außerhalb des Protokolls sind.«
»Sagen Sie mir doch bitte, seit wann Sie als Journalist tätig sind«, fragte Brandenburg nach.
»Was tut das zur Sache?«
»Das tut eine Menge dazu«, nahm er die Wortwahl seiner Frage auf. Der Journalist hob erstaunt seinen Blick.
»Die Frage werden Sie mir nicht beantworten können, Herr Karmann, weil Sie sehr wahrscheinlich kein Journalist sind.«
Karmann wich zurück. Seine Überraschung konnte er nicht verbergen. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Kein professioneller Journalist rechnet sich auch nur im Entferntesten aus, von einem Sachverständigen vor Erstattung seines Gutachtens ein Statement zu bekommen. Das würde kein Sachverständiger geben und kein Journalist versuchen. Journalisten können sich innerhalb solch grundsätzlicher Dinge bewegen. Zum Zweiten stört mich Ihre Kamera, die Sie da um den Hals tragen.«
»Also, ich bitte Sie! Was erlauben Sie sich?«
»Ich erlaube mir, Ihnen jetzt den Rücken zu kehren. Wenn Sie wieder mal überzeugend als Journalist auftreten wollen, dann lassen Sie die kleine Kompaktkamera zu Hause. Ich kenne keinen echten Journalisten, der nicht mit einer High-End-Spiegelreflex arbeitet, auf die er schwört«, rief Doktor Brandenburg dem verdutzt zurückbleibenden Herrn noch zu, als er mit wehenden Schößen den Gerichtssaal verließ. Wie zum Gruß hob er seine Hand, jedoch ohne dabei zurückzusehen. Gleichzeitig kam es BRB so vor, als wenn er diesen angeblichen Journalisten schon mal gesehen hätte. Es fiel ihm jedoch dazu nichts ein, sodass er den Gedanken verwarf.
Der Mann, der sich als Herr Karman vorgestellt hatte, bekam seine Gelassenheit langsam wieder. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über sein Gesicht. Er nahm die Kamera, schaute sie an, verdrehte die Augen und schob sie in seine Manteltasche. Dort landeten auch Kugelschreiber und Notizblock. Als er gehen wollte, schaute eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle Strafrecht in den Raum. »Sie sind der letzte? Ich würde gern abschließen.« »Schon gut, bin schon weg«, entgegnete er. Mit einem leichten Kopfnicken schob er sich an der Mitarbeiterin vorbei, nahm die Treppenstufen hinab zum Ausgang, ignorierte die Blicke des Wachdienstes, drückte die Haustür auf und stand vor dem Haus. Ein Windstoß wehte den offen gelassenen Mantel auf. Er wandte sich nach links Richtung Neue Werderstraße. Dort hatte er sein Fahrrad abgestellt. Damit radelte er zur B 105 runter, überquerte sie und nahm Kurs auf den Alten Fritz. Das Braugasthaus lud mit einem Außenbereich ein. Kaum, dass er sich sortiert und gesetzt hatte, fragte eine freundliche, junge Frau mit lustigen Augen, was sie ihm bringen könne.
»Einen Kaffee bitte.«
»Wir haben Cappuccino, Caffè Latte, Caffè Crema, einfachen Filterkaffee oder einen Espresso.«
Von dieser Kaffeeflut überfordert, zeigte sein Blick die erste Verlegenheit und Unsicherheit des Tages. »Äh … einen Filterkaffee bitte.«