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Kapitel 10 In der Kroy
ОглавлениеSo wie sich der Dienstag ohne das erlösende, weil harmlos erklärende Auftauchen von Torte Tengler dem Ende neigte, so schwand auch die Hoffnung, dass sein Verschwinden ein gutes Ende nehmen könnte. Die ersten Tage! Bekam ein Vorgang in dieser Zeit nicht eine klare Richtung, drohte eine lange Wegstrecke. Das waren uralte Erfahrungen, die sich wieder und wieder bestätigten. Der nächste Tag nahm die schwindende Hoffnung und die damit verbundene Depression auf und legte beide wie einen bleiernen Mantel über die Ermittler, über die Familie von Torte und seine Freunde. Es wurde schwer, die gleiche Routine zu fahren, die jeder derartige Fall erforderte.
Das Boot der Wasserschutzpolizei legte in Wismar ab und folgte der ausgetonnten Fahrrinne. Es passierte die als Naturschutzgebiet gesperrte Insel Walfisch westlich und nahm dann einen Kurs von 300° entlang der Ansteuerung Wismar, um irgendwann Richtung Timmendorf beizudrehen. Das Polizeiboot folgte in respektablem Abstand weiter der steinigen Küste von Poel und später der Vogelschutzinsel Langenwerder bei Gollwitz, um in das Salzhaff einzufahren. Langenwerder, von einem mehrere hundert Meter breiten Flachwasserbereich umgeben, der tiefer gehenden Booten keine Annäherung erlaubt, weshalb Polizeiobermeister Heiner Brand sein Boot vorsichtig zwischen dieser flachen Zone und Kieler Ort in Richtung Salzhaff steuerte. Auf Höhe der alten Dalben, die backbord in Sicht kamen, stoppte er die Maschine und ließ sich treiben. Nach backbord öffnete sich die Kroy. Eine Flachwasserbucht, die mittig um zwei Meter, überwiegend jedoch nur um einen Meter Tiefe hat. Voraus lag der bewaldete Teil der Halbinsel Wustrow. Steuerbord sah er auf die Halbinsel Boiensdorfer Werder. Somit hatte er das vorgegebene Suchgebiet erreicht. Er fühlte sich recht allein mit seinem Fernglas. Der angekündigte Hubschrauber ließ auf sich warten. Auf Kieler Ort stand jemand. Das verwunderte ihn, da das Naturschutzgebiet niemand betreten durfte. Es schien die Kontur einer kleineren Person zu sein. Er nahm das Fernglas und in dem Moment breitete das Gesehene seine Schwingen aus und erhob sich zu einem majestätischen Flug landeinwärts. Ein Seeadler. Er musste lachen. Der erste Eindruck war eine Täuschung. Ein Fahrgastschiff näherte sich aus Rerik kommend. Auf den Dalben rasteten Kormorane mit gespreizten Flügeln. Die alte und nicht mehr genutzte Holzkonstruktion aus Pfählen zum Festmachen von Schiffen wirkte dunkel, unheimlich, verlassen und verloren. Ein Lost Place. Der warme Wind briste leicht auf und kam aus Südost. Auf den großen Wasserflächen baute sich schnell Wellengang auf. Ablandiger Wind. Heiner Brand startete die Maschine, steuerte im Standgas vorsichtig die Dalben an und umkreiste sie. Sein Auftrag lautete Suchen und Finden. Von Norden kam das Geräusch eines Hubschraubers näher. Er war viel früher zu hören, als zu sehen. ›Tiefflug‹, dachte Heiner Brand. ›Das muss er sein.‹ Der Heli mit der Aufschrift Polizei war offenbar der Küste von Norden gefolgt und drehte über Kieler Ort, um die Kroy zu überfliegen. Heiner Brand winkte der Besatzung zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den alten Festmacher. Nichts Besonderes. Das Fahrgastschiff hatte seine Höhe passiert. Ihm folgte ein helles Motorboot im Kielwasser. Heiner Brand schaute hinüber und schätzte dessen Abstand zum vorausfahrenden Schiff als gefährlich gering ein. Der Bootsführer stand hinter der Windschutzscheibe und wippte offenbar im Rhythmus einer Musik, die nur dünn und undeutlich zu hören war. Im Fernglas war die Kennzeichnung am Bug deutlich zu erkennen, die er sich notierte. Das Polizeiboot nahm langsam Fahrt auf, um weiter in die Bucht zu kommen. Während sich Heiner Brand auf das Fahrwasser voraus konzentrierte, drehte das helle Boot plötzlich über steuerbord ab und hielt auf ihn zu. Die Maschinengeräusche des Polizeibootes waren zu laut, sodass er die Annäherung nicht gleich bemerkte. Irgendein Instinkt brachte Heiner Brand dazu, nach hinten zu sehen. Die Distanz betrug nur noch 50 Meter. Das helle Boot näherte sich mit hoher Geschwindigkeit seinem Heck, um kurz davor einen Haken nach rechts zu schlagen. Die Heckwelle schwappte gegen die Bordwand des Polizeibootes und ließ es schwanken. Als nächstes riss der Bootsführer sein Boot scharf nach links, um vor dem verdutzten Polizisten aufzustoppen. Dieser musste nun, um eine Kollision zu vermeiden, das gleiche tun. Letztlich lagen sich beide Boote gegenüber und dümpelten langsam aufeinander zu.
»Sagen Sie mal, geht’s noch!?«, schrie Heiner Brand zu ihm rüber. »Kommen Sie längsseits! Ihre Papiere bitte!«
Doch der rief zurück: »Sie dürfen hier nicht rein. Auch nicht die Polizei. Das ist verboten!« Brand sah auf einen jungen Mann mittlerer Größe: Schlank, krauses, hellblondes Haar, scheinbares Alter um die dreißig. Er war allein an Bord.
›Der hat sie doch nicht alle‹ …, dachte er bei sich. »Kommen Sie bitte längsseits, sonst werde ich es tun!«
»Fahren Sie weg hier!«, rief der junge Mann stattdessen Brand zu.
Beide Boote trieben gegen die Landzunge. Ein leichtes Knirschen vom Kiel des Polizeibootes als Signal für eine Grundberührung war dem anderen nicht entgangen und ließ ihn aufjubeln.
»Geschieht dir recht!«, rief der Angreifer, drehte und beschleunigte sein Boot. Die 100 PS-Heckmaschine ließ den Bug aufsteigen, bis sie den Rumpf bei Erreichen höherer Geschwindigkeit flach auf das Wasser legte. Der kurze Gleiter nahm dröhnend jeden Wellenschlag und spritzte weiße Gischt zu den Seiten. Mit Vollgas drehte das Boot aus der Kroy heraus Richtung Rerik und verschwand schnell aus dem Sichtbereich von Polizeiobermeister Heiner Brand. Der saß fest und versuchte mit Wippen und vorsichtigem Vor und Zurück freizukommen. Eine Verfolgung war erstmal nicht möglich, aber er hatte ja das Kennzeichen. Das ließ ihn ruhig bleiben. Nur peinlich, wenn er das den Kollegen berichten muss. Über Funk wollte er sich diese Blöße nicht geben. Letztlich stieg er aus, patschte durch das Wasser um sein Boot herum und schob es langsam von der Landzunge weg. Mit dem Bootshaken war ihm das nicht gelungen. Sorgsam hatte er die Heckleiter vorher ausgeklappt, sodass er in jedem Fall wieder an Bord konnte. Zu dumm, dass der Wind ihn immer wieder ins Flache drückte. Es dauerte zwanzig Minuten, bis er nass und aus der Puste wieder am Steuer stand und das Boot bei kleiner Fahrt unter Kontrolle hatte.
»Dem hab ich’s gegeben, dem hab ich’s gegeben«, sang der Motorbootfahrer mit einer improvisierten Melodie vor sich hin, während er Rerik ansteuerte, an der östlichsten der vier großen Steganlagen festmachte, das Boot notdürftig abdeckte und mit federndem Schritt in den Ort ging.
Polizeiobermeister Heiner Brand tuckerte indes, langsam wieder beruhigt, durch die Fahrrinne Richtung Rerik. Über Funk war vom Heli die Meldung eingegangen, dass er abdrehen würde. Die Sicht sei schlechter geworden und im Bereich der Kroy und der Halbinsel Wustrow habe man nichts Verdächtiges ausgemacht. Er schüttelte den Kopf. ›Schlechte Sicht. Was soll ich denn sagen. Ich sehe aus meinem Ruderhaus nicht besser.‹
Kurz vor Rerik drehte er nach Osten ab, um am östlichsten der Bootsstege festzumachen. Dort war es tief genug. Der Schwimmsteg mit seiner T-Form bot genügend Platz. Dann ging er den Steg ab, um das notierte Kennzeichen auszumachen. Das helle Boot, die Form des Rumpfes, alles hatte er sich gut gemerkt. Es dauerte nicht lang und seine Suche brachte den gewünschten Erfolg. Er legte die Hand auf den Gehäusedeckel des Motors. Er war noch warm. So konnte er wenigstens mit einem kleinen Ermittlungsergebnis aufwarten. Vom Bootsführer war zwar nichts mehr zu sehen, aber das sollte im Weiteren kein Problem sein, ihn festzustellen, wie es im Sprachgebrauch der Polizei hieß. ›Das können dann die Landratten erledigen‹, dachte er sich. Er kehrte wieder zu seinem Boot zurück, stieg auf, legte ab und nahm Kurs auf Boiensdorf. Sein Echolot ließ ihn dabei nicht sehr weit von der ausgetonnten Fahrrinne abweichen. Trotz dieser langsamen Fahrt war über die circa 10 km Rückweg bis Boiensdorf nichts zu entdecken. Er brach schließlich für diesen Tag die Suche ab und steuerte zurück nach Wismar.