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Kapitel 8 Vermisst
Оглавление»Zu Hause ist er nicht, Kajak und Auto sind auch weg. Smartphoneortung negativ, muss abgeschaltet sein!« Diese kurz vorgebrachte Bilanz brach aus Kommissarin Semlock heraus, als sie BRB kurz vor Feierabend dieses ersten Tages der Woche anrief.
»Die Sonnabend-Zeitung steckt im Kasten! Sein Sohn weiß nichts, sagt seine Frau. Die ist noch in Berlin, wird langsam unruhig und kommt heute Abend nach Hause. Der Sohn hat ihn vor vier Wochen zuletzt gesprochen. Im Polizeibericht vom Wochenende nichts, was mit Tengler zu tun haben könnte. Auch die Wasserpolizei ohne Hinweise. Die Notaufnahmen blocken mal wieder. Da brauchen wir mindestens ein schriftliches Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft oder einen Gerichtsbeschluss, bevor die uns etwas sagen.«
BRB reagierte nicht.
»Nun sag was, Doc! Was sollen wir machen? Mir bleibt nichts, als ihn und seinen Pkw in die Fahndung zu geben!?«
»Ja, äh, Du triffst mich so, dass ich auch nicht weiß, was ich sagen soll.«
»Du bist doch sonst um keinen Spruch verlegen«, konterte sie.
»Hör auf, das scheint hier ein Vorgang zu werden, wie ihr immer sagt. Da ist Schluss mit lustig. Torte Tengler ist mein Freund. Ich will gern alles Mögliche beitragen, um die Sache zu klären. Soweit ich weiß, ist er nicht so krank, dass er irgendwo liegen bleiben würde. Ich meine einen Zuckerschock oder andere Stoffwechselentgleisungen. Mit Herz und Lunge hatte er noch nie Probleme. Andererseits steht es nicht jedem auf die Stirn geschrieben. Betrunken haben dürfte er sich auch nicht. Passt nicht zu ihm, die Gelegenheit, in der seine Frau auf Tour ist, dafür zu nutzen. Er ist eigentlich fit. Wenn Kajak und Auto weg sind, läuten bei mir die Alarmglocken, Kerstin. Durchsucht unbedingt die Wohnung. Vielleicht gibt es Hinweise auf die Route, die er paddeln wollte. Dann fragt die potenziellen Einsatzstellen für Kajak-Touristen ab. Flussbad am Rostocker Mühlendamm, Zingst, Prerow, Bodstedt, Barhöft, Boiensdorf, Rerik usw. Das wären ja nur die nahe gelegenen Paddelreviere. Er kann natürlich sonst wohin gefahren sein. Trebel, Peene, Warnow, Mildenitz. Geht alles!«
»Wie gut, dass wir jetzt wissen, wie Polizeiarbeit funktioniert!«
»Was willst du? Du fragst mich und ich sage dir schnell und unüberlegt, was mir spontan einfällt!«
»Schon gut, Doc, weiß ich ja zu schätzen. Wir rufen uns beide an, wenn es etwas Neues gibt.« Beide legten auf und sanken zurück, beinahe synchron, als hätten sie sich abgestimmt.
BRB rief zu Hause an: »Stell dir vor, Torsten Tengler wird vermisst. Er kam heute nicht zum Dienst. Die Polizei hat bereits alle Register gezogen. Auch seine Frau findet keine Erklärung. Er ist weg und dazu sein Auto und sein Kajak.«
»Oh, Torsten, Auto und Kajak zusammen. Das hört sich nicht gut an. Wann kommst du nach Hause?«
»Pünktlich. Ich kann da ohnehin nicht helfen. Wir müssen abwarten und hoffen, dass das ein gutes Ende nimmt. Bis nachher.«
Die Fahndung lief auf Hochtouren. Torsten Tengler meldete sich nicht. In seinem Dienstzimmer ließ eine Pflanze die Blätter hängen, als wäre sie schon in Trauer. Die Reinigungskraft nahm sich ein Herz, versorgte sie mit frischem Nass und ruckelte den Topf etwas zurecht. ›Dein Herrchen wird schon bald wiederkommen‹.
Der Tag verging jedoch, ohne dass sich diese Prophezeiung erfüllte.
Es wurde Dienstag. »Meine Herren und meine Dame, das Team bitte zu mir«, rief Kerstin Semlock mal wieder über den Flur. Jeder wusste, worum es gehen würde und war schnell zur Stelle.
»Jetzt haben wir drei dabei«, beeilte sich Kollberg zu sagen.
»Kollberg, Sie haben ausnahmsweise recht. Wir haben jetzt drei Vermisstenfälle. Ich gebe zu, dass mich und Sie vermutlich auch, der letzte besonders trifft. Wir sind wohl alle etwas ratlos. Was haben die ersten Ermittlungen zu unserem Kollegen ergeben?«
»Im Grunde nichts«, antwortete die zweite weibliche Kollegin, Annika Strehlow. »In den Krankenhäusern der Umgebung ist er nicht aufgenommen worden. Sein Auto haben wir auch noch nicht. Verkehrsunfälle scheiden aus. Die möglichen Einsatzstellen für Kajaks bieten nur Momentaufnahmen. Keine Zeugen. Vor allem kein Kajak. Wir sollten die Bevölkerung über die Presse und über das Radio um Hilfe bitten. Seine Frau sagte, er hat ein rotes See-Kajak, einen Einer. Den genauen Typ konnte sie nicht nennen, irgendein amerikanisches Model, preisliche Mittelklasse. Sie wusste nur, dass es sehr schwer ist. Habe mich im Netz erkundigt. Als Material kommt am ehesten PE in Betracht. Die teureren haben Glasfasern und Carbon in der Verarbeitung und werden dadurch leichter.« »Was heißt PE?«
»PE bedeutet Polyethylen, ein sehr robustes Material.«
»Sehr gut, Annika. Ein rotes Kajak fällt doch auf. Kann das sinken?«
»PE ist etwas leichter als Wasser, aber nicht viel. Es würde vollgelaufen vielleicht gerade noch schwimmen, aber nicht mehr groß aus dem Wasser ragen, sodass es aus der Ferne schwer zu orten sein sollte.«
»Ok, wir setzen den Fokus weiter auf das Boot und auf sein Auto. Das Auto werden wir eher finden. Dehnt die Suche nach Westen aus, Richtung Poel. Wer weiß, welches Ziel er sich vorgenommen hat. Ach ja, fanden sich in der Wohnung Notizen, Seekarten oder irgendetwas Zweckdienliches?«
»Nein, keine Seekarten, keine Notizen«, kam es aus der Runde. »Was hat die Smartphone-Ortung ergeben?«
»Kein Signal, muss abgeschaltet sein.«
»Moment mal, als er losfuhr, wird er sein Ding doch angehabt haben. Ihr müsst rückwärts suchen. Jetzt geht es vielleicht nicht, weil es nass ist.«
In diesem Moment stürmte ein Mitarbeiter aus dem Bereich »Organisierte Kriminalität« herein. »Entschuldigung, ich wollte nur Bescheid sagen. Sie haben das Auto! Ein beigefarbener Skoda Octavia Scout mit seinem Kennzeichen.«
»Entschuldigung gern angenommen, raus damit, wo ist es?«
»Steht auf einem Wohnmobilparkplatz vor Boiensdorfer Werder. Ich muss zurück, nur, dass Sie Bescheid wissen.«
»Danke dafür! Na, also, es geht vorwärts. Ich will den Heli. Der soll das Salzhaff und die Umgebung der Halbinsel Wustrow und der Insel Poel absuchen. Haffseitig und seeseitig, bitte. Gleichzeitig soll der Wasserschutz die Gegend abfahren und mit denen da oben kooperieren. Den Aufruf an die Bevölkerung heben wir uns auf. Übrigens – Boiensdorfer Werder – ist das nicht die Stelle, wo Doc Brandenburg damals die alte Frau mit dem Handwagen traf, als er mit seiner Frau und seinen Enkeln dort war? Brandenburg ist damals auch Kajak gefahren. Da war doch was.«
»Ja«, sprang ihr Annika bei.
»Damals lief die Sache am Grundlosen Moor zwischen Hohenfelde und Retschow.«
»Hey, dein Gedächtnis möchte ich haben.« Mit Bewunderung und fast mütterlichem Stolz sah Kerstin Semlock zu ihrer jungen Kollegin Annika Strehlow herüber. Ihre Blicke trafen sich kurz, um sich gepaart mit einem Lächeln gleich wieder zu trennen.
Die Suchaktionen liefen an. Ein Team von Ermittlern und Kriminaltechnikern fuhr sofort über Neubukow, Rakow und Pepelow nach Boiensdorf. Die Straße senkte sich im Ort und in der Linkskurve bog das Einsatzfahrzeug rechts ab. Noch vor Boiensdorfer Werder stießen sie auf einen Wohnmobilstellplatz mit kleiner Infrastruktur: Kiosk, Toilettenhäuschen, Entsorgung von Grau- und Schwarzwasser, Parkautomaten, Schranke und einige locker verteilt stehende Camper. Der Stellplatz war durch eine hohe Baumgruppe vom Ufer des Salzhaffs abgetrennt. Von dem gesuchten Pkw keine Spur. Zwischen zwei Wohnwagen kam ihnen ein Mädchen entgegengelaufen. »Suchen Sie die Polizei? Die sind weitergefahren. Da ist noch ein Parkplatz.« Sie wies in Richtung Boiensdorfer Werder.
»Dankeschön« riefen die Beamten zurück und setzten sich wieder in Bewegung. Nach 500 Metern fand sich tatsächlich ein weiteres Parkplatzschild. Sie bogen nach rechts in eine unscheinbare Auffahrt und sahen sofort den unter Bäumen abgestellten Skoda. Daneben ein Streifenwagen, dessen Besatzung froh über die Ablösung war und sich entfernen wollte.
»Moment«, rief Kerstin Semlock. »Wann habt ihr den Wagen festgestellt? Habt ihr etwas verändert? Gab es in der Zwischenzeit Personenbewegungen? Wie können wir euch wieder erreichen? Den Bericht bitte direkt morgen auf meinen Tisch!«
Damit entließ sie die beiden Polizeiobermeister und wandte sich dem Fahrzeug zu. Ein ruhiges Bild. Die Türen und Fenster waren verschlossen. Keine Beschädigungen. Die Sichtblende des Kofferraums vorgezogen. Montierte Dachträger. Soweit man durch die Scheiben sehen konnte, auf der Rückbank eine dunkle Jacke. Davor im Fußraum ein Zurrgurt mit der Aufschrift Paddelcenter. Die Handbremse gelöst, offenbar eingelegter zweiter Gang. In der Mittelkonsole ein Kugelschreiber und die Karte eines Wertstoffhofes. Ein am Sonnabendabend um 22:00 Uhr abgelaufener Parkschein an der Innenseite der Frontscheibe. Kein Strafzettel. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Kommissarin Semlock blickte zu Kriminaltechniker Gernot Stahl. Nach Übersichtsaufnahmen und Nahaufnahmen vom Fahrzeug nahm er von den Türgriffen Fingerabdrücke. Dann öffnete er routiniert das Fahrzeug. Sie ging derweil auf die Uferzone zu und ließ ihren Blick schweifen. Vor ihr lag das Salzhaff. Das Wasser war ruhig. Am Spülsaum aufgeschwemmtes Seegras oder Tang in graubraunen, beinahe gebirgig geformten Haufen, leicht muffig riechend. Der Strandsand fein. Einige kleinere Steinpackungen ragten wie halbherzig gelegte Buhnen wenige Meter senkrecht zur Uferlinie in das Wasser hinein. Rechts in der Ferne die Konturen des Ostseebades Rerik. Gerade rüber die Halbinsel Wustrow mit ihrem hohen Baumbestand. Sie blickte etwas weiter nach links. Ein Schwanenpärchen zog in Richtung des Schilfgürtels von der Halbinsel Boiensdorfer Werder. Weit draußen eine Boje, deren Bedeutung sie nicht erkennen konnte. In der Ferne halb links der Horizont unruhig. ›Ist das Land oder Ostseewelle oder was‹, dachte sie. Alles machte einen friedlichen Eindruck. Richtung Pepelow übten einige Surfer und Kiter. Am Ufer Familien mit Kindern, die offenbar zu den wenigen Autos gehörten, die sich noch auf dem Parkplatz befanden, vielleicht auch zu den zwei Wohnmobilen. Sie ging zurück zum Auto von Torsten Tengler und wies ihre Kollegen an, die Personen im näheren Umfeld festzustellen und zu dem Skoda Octavia zu befragen. Gernot Stahl hatte inzwischen die Fahrertür geöffnet. Das Wageninnere blieb unauffällig. Im Kofferraum fand sich unter der Abdeckung eine Kunststoffkiste mit Ersatzgurten, einem kleinen Pfadfinderkompass, einer gefalteten Not-Toilette für Kajakfahrer und ein paar dünnen Arbeitshandschuhen.
»Gernot, hast du die Karte dabei? Was ist das da drüben für eine Unruhe am Horizont, links neben Halbinsel Wustrow?«
Gernot Stahl klappte sein Smartphone aus und ließ sich die Gegend anzeigen. »Wir sind hier an der Markierung. Das da drüben müsste dieser lange schmale Sandhaken sein, der von der Halbinsel ausgeht. Der verläuft fast genau in Nord-Süd-Richtung und hat am Ende so ein kleines Schwänzchen, hier als Kieler Ort bezeichnet. Zwischen dem Sandhaken und der kompakten Halbinsel liegt eine Bucht. Die Kroy. Sie hat Anschluss an das Salzhaff.«
»Schön ermittelt, Gernot. Gut, einer von euch wird das Auto kurzschließen oder sonstwie starten und zur DEKRA nach Rostock bringen. Die sollen aber noch nichts damit machen.« Sie wandte sich wieder dem weiten Blick über das Haff zu. Es blieb stumm und verriet nichts über Torsten Tengler.
Am späten Nachmittag rief Kommissarin Semlock Staatsanwältin Franziska Kernbach an, um über die bisherigen Ermittlungen zu berichten.
»Es wird Zeit, dass Sie sich melden. Ich habe Ihren Anruf früher erwartet und nicht erst, wenn ich schon im Mantel stehe.«
»Nun mal langsam, wir sind eben erst aus Boiensdorf zurück. Dort steht der Pkw von Kommissar Tengler auf einem Parkplatz am Haff. Bisher keine Hinweise, was mit ihm sein könnte. Sicher scheint nur, dass er mit dem Kajak rausgefahren ist. Wir brauchen den Heli und die Wasserschutzpolizei, um die Gegend abzusuchen, die Tengler im Rahmen einer Tagestour erreichen konnte.«
»Ok, da gehe ich mit. Veranlassen Sie das. Vergessen Sie in Ihrem Eifer bei der Tengler-Suche nicht die anderen beiden Fälle! Gibt es da schon etwas Neues?«
»Nein, noch nicht«, antwortete Kerstin Semlock. »Wir prüfen in jedem Fall eventuelle Zusammenhänge. Vordergründig tut sich da nichts auf, aber manchmal gibt es ja auch Hintergründe.«
»Sie sind ja heute so tiefgründig, Frau Semlock!«
»Nur heute?« Kerstin Semlock wusste, dass es wieder zu einem Wortscharmützel kommen könnte.
»Ich würde Ihre Neigung, mal vordergründig, mal hintergründig oder mal tiefgründig zu sein, besser nachvollziehen können«, legte die Staatsanwältin vor.
»Da müssten wir uns besser kennenlernen«, entgegnete Kerstin Semlock.
»Ich glaube, wir versteigen uns jetzt, Frau Kommissar.«
»Glaube ich auch. Dann mal einen schönen Tag noch. Melde mich morgen wieder.«