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Kapitel 2 Das Fachkommissariat 1

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Kommissar Tengler hatte das Abc der Polizeiarbeit gelernt. Das merkten seine Kolleginnen und Kollegen schnell. Seine Routine, die er sich über viele Jahre im Polizeidienst erworben hatte, war tief ausgeprägt. Er brauchte keine lange Anlaufzeit. Es war auch der »Stallgeruch«, der ihm schon am ersten Tag das Gefühl gab, hierbleiben zu können. Und bald war er nicht mehr wegzudenken. Es lief. Dass er sich zuvor in Schwerin beworben hatte, wusste kaum jemand. Das musste auch nicht breitgetreten werden. Die Stelle dort war von Kommissar Berger besetzt, der mit einem Kollegen Paulsen ein gut eingespieltes Duo bildete. So hatte er gehört. Kennengelernt hatte er beide persönlich bisher nicht.

Tengler sah gerade die Akte zweier Vermisstenfälle durch, die über das Kriminalkommissariat zur Bearbeitung in das FK1 gekommen waren. Es hatten sich Verdachtsmomente auf Fremdeinwirkungen ergeben. Er vertiefte sich in die erkennungsdienstlich brauchbaren Angaben. Nur für den Fall, dass es zum Auffinden der Personen kommen sollte. Während er kurz aufsah und seinen Blick aus dem Fenster schweifen ließ, klingelte das Telefon. »Tengler.«

»Semlock. Ich grüße Sie.«

»Ist es nun die Tochter oder die Mutter?«, charmierte er in den Hörer. »Ich kann beide nicht auseinanderhalten.«

»Und wie wäre es, wenn wir Ihnen gegenüberstehen würden?«

»Dann ist es ganz aus. Keine Chance.« Beide lachten herzlich.

»Lieber Herr Tengler, wo haben Sie das nur gelernt. Sie schaffen es, mir im Handumdrehen die Stimmung aufzuhellen.«

»Reiner Reflex«, gab er zurück.

»Sie erwähnen immer noch meine Tochter«, spitzelte sie ihm zu. »Dabei hat sie doch als Medizinerin nur ein kurzes Praktikum bei uns absolviert, weil sie sich überlegt, in der Rechtsmedizin ihre Facharztausbildung zu beginnen. Sie sah wohl einen interessanten Brückenschlag zwischen der Blutspurenanalyse der Rechtsmediziner und der Kriminaltechnik. Muss mich das beunruhigen?«

»Ach, wissen Sie, wenn jemand nett über jemanden denkt, muss das nicht beunruhigen. Im Gegenteil. Nehmen Sie es mal heiter und gelassen.«

»Ok. Lassen wir das mal. Deswegen rufe ich nicht an. Wir haben ein Problem. Könnten Sie bitte mit den anderen Kollegen in einer halben Stunde für eine Lagebesprechung zu mir kommen? Und bringen Sie bitte die Akten der Vermisstenfälle mit.«

»Geht klar, Chefin. Wir schleppen uns zu Ihnen. Bis dann.«

Von der Besatzung des FK 1 betrat einer nach dem anderen das Chefinnenzimmer und nahm eine Sitzordnung ein, die keinen Zweifel am Führungsanspruch von Kommissarin Kerstin Semlock aufkommen ließ. Die Zeit, in der sie von dem einen oder anderen Kollegen belächelt wurde, war vorbei. Als attraktive Frau und Mutter in den besten Jahren hatte sie in der ersten Zeit so manche Avancen zu parieren. Doch dieses urmännliche Gebaren spielte keine Rolle mehr, weil sie zu einer Institution geworden war. Sie war eine durch und durch abgestimmte Frau. Es passte einfach alles, vom dezenten Make-up bis zum lässigen Jeans-Look. Während die Kaffeemaschine gluckste, verteilte sie bedruckte Blätter, die das besagte Problem zusammenfassen sollten.

»Meine Herren«, begann sie. »In den letzten drei Wochen arbeiten wir an zwei Vermisstenfällen, bei denen wir auf der Stelle treten.«

»Auf einer Stelle!«, redete Kommissar Kollberg dazwischen.

»Wie bitte?«

»Na, auf einer Stelle. Also drei Wochen, zwei Fälle, eine Stelle. Weiter runter geht’s nicht. Wir sind also ganz unten. Fast bei null, meine ich.«

»Ich fasse es nicht, Kollberg! Was sollen denn Ihre Wortspielereien hier schon wieder?!«

Sichtlich verärgert fuhr Kommissarin Semlock fort. »Als erstes wurde ein 39 Jahre alter ehemaliger Mitarbeiter der Geschäftsstelle Strafrecht des Landgerichtes Rostock vermisst. Mirko Menzel. Jetzt im psychosozialen Dienst des Gesundheitsamtes Rostock. Unauffälliger familiärer Hintergrund. Verheiratet, zwei Kinder. Keine aufregenden Hobbies. Keine Alkohol- oder Drogenprobleme, soweit bekannt. Die Ehe nach Angaben der Frau, die die Vermisstenmeldung erstattete, ohne Hinweis auf Affären oder sonstige Skandale. Keine Vorstrafen. Wohnhaft in Blengow. Die Eltern in Kühlungsborn. Klingt alles erstmal unauffällig.«

»Fast zu unauffällig«, gab Kommissar Tengler in die Runde. »Es dürfte eher selten sein, dass Personen abgängig sind, die keinem Milieu oder keinen besonderen Risikogruppen angehören.«

»Sie sagen es«, pflichtete ihm die Chefin bei. »Ist mir auch zu glatt. Wenn wir dahinter sehen wollen, müssen wir in eine Richtung leuchten, die wir bisher nicht auf dem Schirm hatten.«

»Unklar ist für mich nur dieses Blengow. Wo liegt das? Nie gehört«, fragte Torsten Tengler nach.

»Dass Sie Blengow nicht kennen, sei Ihnen verziehen. Es ist ein Ortsteil der Stadt Rerik am Salzhaff, knapp drei Kilometer landeinwärts. Kommen wir zum zweiten Fall, der nur wenige Tage später kam. Eine 45-jährige Frau und Mutter eines Kindes. Wenke Nielsen. Wohnhaft in … halten Sie sich fest, im schönen Blengow. Der gesamte Hintergrund genauso unspektakulär wie bei Menzel, sodass wir beide Fälle nicht so richtig anfassen können.«

»Was macht Frau Nielsen beruflich?«, fragte jemand in die Runde.

»Moment, ich sehe nach. Sie war Sekretärin in einer großen Metallbaufirma und nebenher Schöffin, auch beim Rostocker Landgericht. Zuletzt aber nicht mehr, da war sie zu Hause. Ihr ist in der Firma gekündigt worden. Wir wissen nicht warum. Da können wir ja nochmal nachhaken.«

»Wer hat die Vermisstenanzeige aufgegeben?«

»Der Ehemann. Beiden Fällen ist gemeinsam, dass das Verschwinden aus einer für die Angehörigen normalen Alltagssituation geschah. Sie kam vom Einkaufen in Rerik nicht zurück und er, Menzel, war auf dem Nachhauseweg, kam von der Arbeit aus Rostock und ist vermutlich auch über Rerik gefahren. Also, wir haben keine abgängigen Psychiatriepatienten, keine aus Lust oder Frust und Laune ausgerissenen Jugendlichen, die wiederauftauchen, wenn das Geld alle ist. Beide Fälle liegen zeitlich nah beieinander, beide wohnen im gleichen Dorf und beide waren mal beim Rostocker Landgericht. Mir ist nicht wohl bei der Konstellation und den Kollegen im Kriminalkommissariat war offenbar auch nicht wohl, sodass wir das auf dem Tisch haben. Wir haben Freitag und so möchte ich nicht ins Wochenende gehen. Deshalb ist Brainstorming angesagt. Also kommen Sie, meine Herren. Diskussion bitte!«

Zunächst schwiegen alle. Allmählich lockerte sich die Atmosphäre. Kommissarin Semlock trug dazu bei, indem sie klarmachte, dass sie keine ausgefeilten Statements erwarte, sondern das Zusammentragen von Gedanken.

»Erstmal alles in einen Topf. Dann wird durchgerührt. Mal sehen, was dann oben schwimmt. Und wenn das eine oder andere wieder rausfliegt, ist es völlig ok.«

So bekam die Lagebesprechung zunehmend Dynamik. Sie notierte stichpunktartig mit und versuchte schon, den aussichtsreichsten Ermittlungsweg abzustecken. Als die Zahl der Diskussionsbeiträge abflaute, machte Kerstin Semlock einen Cut.

»Das reicht«, sagte sie knapp. »In mir steigt die Ahnung auf, dass es keinen Sinn hat, bei den Vermissten irgendwelche spektakulären Hintergründe im Persönlichen bzw. Familiären zu suchen. Gemeinsam ist beiden die ehemalige Tätigkeit am Landgericht Rostock, wobei wir nochmal schauen müssen, ob sich diese Zeiten decken oder teilweise überlappen. Das kann Zufall sein, sollte uns aber aufhorchen lassen. Privat wussten wohl beide im Ort voneinander, sollen aber keine engeren gegenseitigen Kontakte gehabt haben. Auch wenn wir keine konkreten Anknüpfungstatsachen haben, sollten wir prüfen, ob die beiden Fälle nicht doch zusammengehören. Die Polizei ist ja schließlich eine Behörde der Gefahrenabwehr und falls das der Beginn einer richtigen Serie ist, möchte ich nicht erst bei der fünften Anzeige aufwachen. Wenn die sich privat nicht kannten …, das heißt, ist das gesichertes Wissen?«

»Ich wollte mir gerade einen Zwischenruf erlauben«, entgegnete Kollberg, der die Stimmung der Chefin wieder aufhellen wollte. »Das sind bisher nur Vermutungen. Die Angehörigen sind noch nicht zeugenschaftlich vernommen und auch beim ersten Kontakt zu diesem Punkt nicht explizit befragt worden.«

»Ok, dann holen wir das so bald wie möglich nach. Ich möchte, dass die jeweiligen Ehepartner nach einem vorher ausgearbeiteten Fragenkatalog identisch befragt werden. Dazu müssen unbedingt Fragen gehören, die das berufliche Umfeld ausleuchten und dazu bitte auch die komplette Sozial- und Eigenanamnese sowie die Jetztanamnese. Das gehört alles zu einem Status praesens!«

Die letzten beiden Sätze formulierte sie genüsslich mit einem zufriedenen Lächeln, weil sie die irritierten Gesichter ihrer Kollegen amüsierte. Diese Begriffe aus der Medizin, die die Erhebung der detaillierten Vorgeschichte eines Patienten meinten, hatte sie sich über die vielen Jahre gemeinsamer Arbeit mit Dr. Brandenburg gemerkt. Sie erhob sich und gab damit die Bewegungen der Kollegen frei, die genauso artig den Raum verließen, wie sie gekommen waren.

Endstation Salzhaff

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