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Kapitel 5 Die »versenkbare« Mühle von Kröpelin
ОглавлениеWer von Kühlungsborn oder Wismar kommend durch die eingehügelte Kleinstadt Kröpelin fährt, erlebt einige hundert Meter nach dem Markt ein wahres Wunder. Die von Ferne schon in Fahrtrichtung über den Hausdächern sichtbare alte Mühle beginnt zu sinken. Sie verschwindet und bleibt verschwunden. Wer einfach so weiterfährt, wird sie nicht wiedersehen. Damit sie nicht auch noch in Vergessenheit gerät, kümmert sich ein rühriger Verein. Er bietet nicht nur die Möglichkeit, sie zu besuchen, sondern auch Ausstellungen, Führungen und Vortragsabende. Die Chefsekretärin des Institutes für Rechtsmedizin reichte eine E-Mail an den Professor weiter. Der Förderverein Kröpeliner Mühle fragte wieder einmal, ob kurzfristig ein Vortrag über die Aufgaben der Rechtsmedizin realisiert werden könnte. Licht und Ton wären kein Problem. Handmikrofon oder Headset. Beamer, Projektionsfläche, perfekte Technik in einem zwar kleinen, aber liebevoll restaurierten Raum. Der Chef wischte den Zettel zur Seite, rief die Sekretärin an, sie solle das den Mitarbeitern anheimstellen. Er selbst möchte das nicht machen, wolle aber auch niemanden verpflichten, gegebenenfalls nur wissen, wer wann mit welcher Vorbereitung dort auftritt.
Die Anfrage landete hausintern auf den Bildschirmen der ärztlichen Mitarbeiter. Weder für die Chemiker noch die Biologin kam das Thema in Frage.
Doktor Brandenburg, der sich hin und wieder gern auf eine Bühne stellte, bekundete sein Interesse, zumal er die Mühle und ihr Team bereits von einer früheren Veranstaltung kannte. Eine jüngere Kollegin und er waren für derartige Auftritte seit Jahren eingespielt. Sie gab die flippige Moderne und er den verstaubten Traditionalisten. So battelten sie sich auf lustige Weise durch die oft dunklen Themen des Faches und das mit Erfolg, zuletzt mit dem Thema »Rechtsmedizin zwischen Klischee und Realität«.
BRB bekam den Zuschlag vom Chef. »Machen Sie das irgendwie und vielleicht können Sie ja eine Vorlesung anpassen, damit das nicht so viel Vorbereitungszeit kostet. Und sehen Sie bitte zu, dass Sie sich thematisch von dem ersten Vortrag absetzen.« Mit diesen Worten drehte sich der Chef schon weg, sodass die Bahn frei war. Seine Kollegin stand kurzfristig leider nicht zur Verfügung. So musste BRB allein zusehen, wie er das gestaltete. ›Da braucht es nicht viel Vorbereitung. Da reicht der Griff in die Schublade.‹ Mit diesen Gedanken machte er sich gleich an die Arbeit und tickerte sich auf seinem Rechner durch das Archiv der Vorlesungen, verschob eine PowerPoint in den Ordner öffentliche Vorträge, benannte sie um und überlegte sich, wie er das Thema für ein öffentliches Publikum strukturieren könnte. Rechtsmedizin im Allgemeinen. Medizinische und juristische Fachbegriffe raus, Fotos raus, die vermutlich nicht für alle Augen und alle Seelen geeignet sind. Im Besonderen müsste er einen Schwerpunkt setzen. Vielleicht »Tod im Wasser«. Die Ostseenähe und die gerade jetzt immer wieder berichteten Badetoten würden vermutlich ohnehin vom Publikum hinterfragt werden. Neben dem klassischen Ertrinken mit seinen Stadien würde er dem plötzlichen natürlichen Tod im Wasser Aufmerksamkeit schenken. Das Ganze natürlich mit einem positiven Blick auf alles Schöne im und am Wasser. In dieser Art würde er in den nächsten Tagen eine Präsentation zusammenstellen.
Es kam der Tag. Alles war perfekt vorbereitet. Kurz vor 20 Uhr parkte BRB sein Auto dicht an der Mühle, ging hinein, begrüßte die Veranstalter und sortierte sich. Der Raum füllte sich allmählich. Die meisten kamen erst fünf bis zehn Minuten vor Beginn und verteilten sich irgendwie an den Tischen, die jeweils von vier Stühlen umstellt waren. Dann war es soweit. Dr. Brandenburg wurde kurz anmoderiert, ging an das Rednerpult, bedankte sich für die Einladung und wurde schnell mit seiner Aufgabe allein gelassen. Nach einigen Minuten war er warmgelaufen. Medizinische Themen einzudeutschen war er von den vielen Gerichtsverhandlungen gewohnt. Er war im Flow, bis sich etwa zehn Minuten vor Schluss an einem der hinteren Tische, dicht am Eingang, eine Hand hob und ein dazugehöriger junger Mann mit rot gelocktem Haar aufstand. Ohne zu fragen und ohne sich vorzustellen rief er Brandenburg in einer beinahe kindlichen Tonlage zu: »Sie haben das Thema verfehlt! Es ging doch vorhin auch um Wasserleichen hier. Warum zeigen Sie die nicht. Dafür bin ich extra von weit hergekommen!«
Ein Raunen ging durch den Raum. Einige schüttelten den Kopf.
»Ich werde keine derartigen Bilder zeigen«, entgegnete Brandenburg. »Das wäre kein schöner Anblick. Ich bemühe mich, das Thema informativ zu gestalten, sodass es für niemanden unangenehm wird. Allen kann ich es offenbar nicht recht machen.«
Während einige Besucher klatschten, stieß sich der junge Mann von seinem Stuhl ab, sodass der umkippte und verließ unter lautem Geschimpfe die Mühle. Der Vortrag kam zum Ende, kurzer Beifall, einige kamen nach vorn und stellten Fragen. Andere schoben sich langsam durch den Ausgang. BRB sammelte seine Unterlagen zusammen und erzählte noch einen Moment mit den Vertretern des Mühlenvereins.
Es war spät geworden. Sein Auto konnte er gerade noch im Schein der Türbeleuchtung erkennen. Es regnete leicht. Schnell lud er alles ein und schwang sich hinter das Steuer. Die Wegbeleuchtung wurde abgeschaltet, für ihn zu schnell. Nun musste er auf seine Scheinwerfer vertrauen und zur Straße hinunterrollen.