Читать книгу Die dritte Ebene - Ulrich Hefner - Страница 11

Highway 60, Socorro County, New Mexico

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Gene Morgan hatte ein gutes Gefühl, als er mit seinem Laster über den Highway 60 von Magdalena nach Socorro donnerte. Er hatte die Interstate 40 bei Chambers verlassen, weil es kurz vor Gallup einen schweren Unfall gegeben hatte, und war über Saint Johns nach Quernado hinuntergefahren. Damit hatte er sich einen großen Umweg erspart, denn die Polizei leitete den Verkehr über die nördlichen Nebenstraßen an der Unfallstelle vorbei, was zu kilometerlangen Staus führte.

Der Dieselmotor seines Peterbilt Freewheelers schnurrte vor sich hin, und aus dem Radio erklang gedämpft Countrymusik. Gene war mit Leib und Seele Fernfahrer. Den Truck hatte er sich auf Pump gekauft, doch in den letzten Monaten hatte es nicht an Aufträgen gemangelt. Der Auflieger seines Trucks war randvoll gefüllt mit Fernsehern, DVD-Playern und Digitalrecordern für einen Elektronik-Großmarkt, der in Kürze seine Pforten öffnen würde. Der Auftrag war gut bezahlt, und für den Rückweg nach Houston war bereits die nächste Ladung gebucht. Er wusste, dass er seinen Erfolg im Frachtgeschäft seiner Frau verdankte, denn seit sie die Disposition übernommen hatte, fuhr er immer weiter in die Gewinnzone. Ihm war es egal, was er hinter sich auf der Ladefläche transportierte, Hauptsache, es stank nicht und brachte reichlich Bucks auf sein Bankkonto.

Er freute sich auf das Wochenende, wenn er mit Rita nach Del Rio fahren würde, um dort auf dem großen Truckertreffen alte Bekannte wiederzusehen. Das würden ein paar lange und feuchte Nächte werden. Mit den Fingern schlug er auf dem Lenkrad den Takt. Es kam ihm vor, als sei die Musik früher besser gewesen, gefühlvoller, harmonischer, ja, auch eine Spur ehrlicher als der Kram, der heutzutage die Charts rauf- und runterdudelte.

Es war kurz vor Socorro, als die Frau plötzlich wie aus dem Nichts durch die morgendlichen Nebelfetzen mitten auf seiner Fahrbahn auftauchte. Mit voller Wucht presste er den rechten Fuß auf die Bremse. Die Reifen des Peterbilt kreischten, und der Laster schlitterte über die feuchte Fahrbahn. Fast schien es, als wollte die Rutschpartie kein Ende nehmen. Das Ächzen und Stöhnen des Trucks schmerzte ihm in den Ohren. Eine Sekunde später holperte der Lastzug über den Randstreifen und schlitterte eine kleine Böschung hinunter. Ein erschütternder Schlag beendete die Fahrt, und der Laster knallte gegen einen Baum, wo er schließlich zum Stehen kam.

Gene fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, was geschehen war. Mit zitternden Knien stieg er aus. Sein Gesicht war kalkweiß. Im morgendlichen Dämmerlicht suchte er mit den Augen die Umgebung ab. Doch niemand war zu sehen. Hatte er sich das alles nur eingebildet? Er hätte schwören können, dass eine Frau in einem hellen Morgenmantel direkt vor ihm auf der Straße gestanden hatte. Ihm wurde flau im Magen. Hatte er sie etwa überfahren?

Er trat vor den Laster. Der Rammschutz hatte ihn vor größerem Schaden bewahrt, auch wenn der Baum nahezu entwurzelt war. Aber seine Sorge galt im Moment etwas anderem. Er suchte nach Blut, nach einem Fetzen Stoff, nach einem Hinweis auf die Frau, doch er fand nichts. Das Chrom des Stoßfängers glänzte nahezu unberührt. Erleichtert atmete er auf. Er umrundete den Wagen und fluchte, weil sich die Reifen tief in den sandigen Boden eingegraben hatten. Aus eigener Kraft würde er es nicht schaffen, den Wagen aus dem feuchten Untergrund zu befreien. Langsam ging er zurück zur Straße. Er folgte den frischen Profilspuren der Reifen. Durch die milchigen Nebelfetzen lief er zu der Stelle, an der er die Frau gesehen hatte. Plötzlich hörte er ein leises Wimmern, und ein Schreck durchzuckte seinen Körper. Er hatte nicht geträumt. Die Frau kauerte am Straßenrand und verbarg das Gesicht in den Händen. Das Wimmern verstummte, als er sich näherte. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie auf.

»Lady, ist Ihnen etwas passiert?«, fragte er.

Die Frau wirkte wie ein Gespenst aus einer anderen Welt.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie versuchte sich zu erheben, doch ihre Beine knickten ein. Er sprang hinzu und stützte sie. Behutsam ließ er sie wieder zu Boden gleiten. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was tat eine Frau im Morgenmantel, noch dazu ohne Schuhe, weitab von der nächsten Stadt mitten auf der Straße? Er musterte sie, doch außer ein paar Schrammen an Armen und Beinen konnte er keine Verletzung entdecken.

»Bleiben Sie hier liegen. Ich hole eine Decke.«

Gene wandte sich um, doch die Frau griff nach seinem Arm. Wie eine Ertrinkende krallte sie sich an ihm fest.

»Helfen Sie mir! Bitte, gehen Sie nicht!«

Ihre Worte waren ein einziges Flehen.

»Ich hole nur eine Decke und mein Handy«, erwiderte Gene. »Ihnen muss kalt sein. Außerdem brauchen wir Hilfe. Der Truck steckt im Sand fest.«

Noch bevor die Frau antworten konnte, näherte sich ein dunkler Geländewagen und hielt gegenüber am Straßenrand an. Gene Morgan atmete auf. Zwei Männer stiegen aus dem Jeep und rannten über die Straße. Sie trugen dunkle Anzüge und wirkten auf den ersten Blick wie Geschäftsleute, die geradewegs aus ihren hell erleuchteten Büros einer Stadt im Osten kamen. Der Griff der Frau verstärkte sich. Gene musterte die beiden.

»Es gab einen Unfall«, stammelte er. »Sie stand plötzlich direkt vor mir auf der Straße.«

Der eine Mann – er hatte dunkles, welliges Haar – nickte kurz und gab seinem Begleiter ein Zeichen, woraufhin der andere nach der Frau griff. Gene schaute ihn ungläubig an. Die Frau zuckte zusammen und krallte die Fingernägel schmerzhaft in seinen Arm. Ihr panischer Blick blieb ihm nicht verborgen.

»Was soll das?«, protestierte Gene. »Was haben Sie mit ihr vor?«

Der Dunkelhaarige langte in seine Jackentasche, und einen Augenblick lang dachte Gene, dass sein letztes Stündlein geschlagen habe, doch als die Hand des Mannes wieder auftauchte, brachte er ein Mäppchen mit seiner Dienstmarke zum Vorschein. Gene entspannte sich, als er den Adler im Wappen erkannte, doch bevor er den daneben steckenden Ausweis lesen konnte, wurde das Mäppchen wieder zugeklappt. »Wir sind schon seit Stunden auf der Suche nach ihr«, sagte der Dunkle. »Diesmal hat sie es verdammt weit geschafft. Sie haben uns sehr geholfen, Mister.«

Gene zog die Stirne kraus. »Was ist mit ihr?«

Während der andere mit einem kräftigen Ruck die Finger der Frau von Genes Arm löste und sie gegen ihren vergeblichen Widerstand zum Wagen führte, vollführte der Dunkelhaarige eine eindeutige Geste vor seiner Stirn. »Sie ist nicht ganz beieinander. Ausgebüxt aus der Nervenheilanstalt in Socorro. Leidet unter Verfolgungswahn und sieht überall Gespenster.«

Jetzt entspannte sich Gene ein wenig. Er schüttelte erleichtert den Kopf.

Bevor der Begleiter des Dunkelhaarigen die Frau in den Jeep bugsieren konnte, wandte sie sich noch einmal um. »Helfen Sie mir!«, rief sie herüber. Dann wurde sie in den Wagen geschoben und verschwand hinter den abgedunkelten Scheiben.

Trotz des Dienstausweises des Mannes wusste Gene noch immer nicht so recht, wie er sich verhalten sollte, wenngleich Kleidung und Zustand der Frau durchaus darauf schließen ließen, dass sie aus einer Irrenanstalt entlaufen war.

»Wenn ich mich nicht täusche, liegt Socorro knapp fünf Kilometer von hier entfernt«, sagte er. »Sollten wir nicht den Sheriff holen? Schließlich hat sie einen Unfall verursacht, und ich kriege den Truck allein nicht mehr aus dem Graben. Ich meine, ich habe Ladung an Bord. Was, wenn etwas beschädigt ist?«

Der Dunkelhaarige schaute hinüber zum LKW. »Der Sheriff ist ebenfalls auf der Suche nach ihr. Wir werden ihn über Funk verständigen und einen Abschleppwagen anfordern. Um den Schaden machen Sie sich keine Sorgen, der Sheriff kennt die Frau. Sie hat nicht zum ersten Mal auszubrechen versucht.«

Grinsend drehte sich der Dunkelhaarige um und ging hinüber zu seinem Wagen.

Gene nickte. »Dann warte ich hier solange.«

»Was bleibt Ihnen anderes übrig?«, sagte der Dunkle lachend. »Aber es kann noch eine halbe Stunde dauern, der Sheriff ist gerade oben bei Bernardo.«

Nachdem der Mann eingestiegen war, brauste der Jeep in Richtung Magdalena davon. Gene versuchte noch einen Blick auf das Kennzeichen des Wagens zu erhaschen, doch mehr als die Anfangsbuchstaben REI konnte er nicht erkennen. Er ging zurück zu seinem Laster, stieg in das Führerhaus und wartete. Der Dunkelhaarige hatte recht, was konnte er schon anderes tun?

Nachdem er zwei Stunden vergeblich gewartet hatte, griff er zum Handy und wählte die Notrufnummer. Auf seine Frage, wo denn der Sheriff bleibe, reagierte die Telefonistin erstaunt. Sie wisse weder von einem Unfall noch von der Suche nach einer vermissten Frau, aber den Sheriff werde sie benachrichtigen.

Eine weitere Stunde später tauchte ein blau-weiß lackierter Ford Maverick mit blauen und roten Rundumleuchten auf. Das Wappen des Sheriff-Departments von Socorro prangte an den Türen. Ein zwei Meter großer Hüne von der Statur eines Ringers stieg aus dem Wagen und kam auf den LKW zu. Die braune Uniform und der goldene Stern über der Brust wiesen ihn als Hüter des Gesetzes aus.

Gene wartete geduldig, bis der Sheriff den LKW umrundet hatte.

»Wohl noch ein bisschen müde heute Morgen?«, raunte der Sheriff und musterte Gene von oben bis unten.

»Ich musste dieser Frau ausweichen, dieser Irren, nach der Sie die ganze Zeit gesucht haben«, entgegnete Gene. »Sie stand plötzlich mitten auf der Straße. Ihre Kollegen haben sie mitgenommen und mir versprochen, einen Abschleppdienst zu rufen.«

»Wir suchen keine Irre, und meine Kollegen fahren bestimmt nicht hier draußen spazieren. Wir haben anderes zu tun.«

Gene verschlug es einen Moment lang die Sprache, doch auch als er den Rest der Geschichte erzählte, blieb die Miene des Sheriffs starr.

»Ich denke, ich rufe Ihnen einen Abschleppdienst, der Sie hier herauszieht, außerdem zahlen Sie dreißig Dollar Strafe«, entgegnete der Sheriff. »Und das nächste Mal, mein Junge, schlafen Sie richtig aus, bevor Sie sich hinters Steuer setzen und mir solche Lügenmärchen auftischen.«

»Aber ich erzähle Ihnen doch keinen Mist«, protestiere Gene Morgan. »Die Frau saß hier im Gras. Sie war barfuß und nur mit einem Morgenmantel bekleidet. Sie müssen mir glauben.«

»Es sollte mich schwer wundern, wenn sich eine Frau im Morgenrock und noch dazu ohne Schuhe von Albuquerque in diese Gegend verirrt«, erwiderte Sheriff Hamilton.

»Wieso Albuquerque? Die Kerle sagten Socorro.«

»Mein Junge, die nächste Irrenanstalt ist in Albuquerque, Hier draußen gibt es im Umkreis von sechs Kilometern nur Steine, Hügel, Bäume und Sand. Ein paar Hütten allenfalls, aber bestimmt keine Irrenanstalt. Also was ist, zahlen Sie die dreißig Dollar, oder soll ich den Richter anrufen?«

Entmutigt griff Gene nach seiner Brieftasche.

Die dritte Ebene

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