Читать книгу Die dritte Ebene - Ulrich Hefner - Страница 17
Raumfähre Discovery, 500 Kilometer vor der Baja California
Оглавление8.23 GMT. Nach vier Tagen im All befand sich die Raumfähre Discovery auf dem Rückflug von der Raumstation ISS und war vor knapp zwei Minuten von ihrer Umlaufbahn in den Orbit eingetreten. Die Manövriertriebwerke waren planmäßig gezündet und die Sinkgeschwindigkeit auf exakt 336 Stundenkilometer verringert worden. Der Übergang in die Stratosphäre stand bevor, und alle Systeme arbeiteten auf Automatik. Der Routinesinkflug war eingeleitet, und Copilot Sanders und der Missionsgast Helmut Ziegler von der Austrian Space Agency hatten sich auf Anweisung des Flugleiters zur Ruhe begeben. Die Überwachung der Steuerungsautomatik lag bei der Bodenkontrolle in Houston. Don Gibson, der Pilot der Raumfähre, beobachtete die Instrumente mit wachem Blick. Er war ein routinierter und erfahrener Pilot. Diese Mission war sein vierter Flug ins All und sollte, ginge es nach ihm, auch nicht sein letzter sein. Er schaute aus dem kleinen Dreiecksfenster auf die blau schimmernde Kugel hinab, die von hier oben so winzig und verletzlich erschien. Schon als kleiner Junge hatte er davon geträumt, mit den riesigen Raketen ins Weltall zu fliegen, um die Planeten zu erforschen. Mittlerweile wusste er, wie naiv seine Vorstellung vom All und von Raum und Zeit gewesen war. Selbst eine Mondlandung bedurfte höchster Anstrengungen und eines Heers von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern, um die Expedition zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Und dabei war der Mond astronomisch gesehen nicht einmal einen Katzensprung entfernt.
Der Mars war gemessen an der unermesslichen Ausdehnung des Weltalls für bemannte Raumflüge immer noch unerreichbar. Verglich man die bisherigen Leistungen der Raumfahrt mit astronomischen Dimensionen, hatte man im Grunde genommen gerade mal einen Fuß vor die Haustür gesetzt. Trotzdem wollte Don Gibson diesen Anblick nicht mehr missen. Die Erde war in ein tiefes Blau getaucht, in dem weiße, flauschige Wollebällchen dahinschwebten, und dahinter ergoss sich die undurchdringliche Schwärze des Kosmos.
Gibson blickte auf seine beiden Begleiter, die in ihren Raumanzügen steckten und auf Anordnung des Flightcommanders den schönsten Teil der Mission verschliefen. Die beiden hatten vor kaum einer Stunde noch über der Raumstation geschwebt, um eine defekte Satellitenantenne auszurichten. Die Außenmission im Weltall war mit allerlei Komplikationen verbunden gewesen, und Sanders sowie Ziegler waren bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gegangen, um ihren Auftrag erfolgreich zu beenden. Länger als im Zeitplan vorgesehen hatte das Shuttle im All verbringen müssen, der Sauerstoffvorrat war nahezu aufgezehrt, und die beiden waren völlig erschöpft ins Shuttle zurückgekehrt.
»Commander/NTO: G/S Zero!« Die Stimme des Flightcommanders der Flugkontrolle in Houston ertönte im Kopfhörer.
»Ich höre«, antwortete Gibson.
»Sie halten auf eine gewaltige Sturmfront zu. Korrigieren Sie Ihren Kurs und drehen Sie auf 325, drei … zwo … fünf. Damit weichen Sie dem Sturmzentrum aus und streifen nur die äußeren Schichten.«
Gibson warf einen Blick aus dem Fenster. Direkt unter der Nase der Discovery entdeckte er ein gewaltiges Wolkenfeld.
»Roger«, bestätigte Gibson. »Übernehme manuelle Steuerung.«
Manuelle Kurskorrekturen waren jederzeit möglich. Die Geschwindigkeit und der Winkel des Sinkfluges lagen noch immer im grünen Bereich. Nach der Kurskorrektur galt es lediglich, einen anderen Landewinkel zu berechnen und das Resultat in das automatische Landesystem einzuspeisen. Danach konnte sich Gibson wieder zurücklehnen und zusehen, wie die Discovery wie an einer Schnur gezogen die weitläufige Landebahn auf der Edwards Air Force Base in Kalifornien ansteuerte. Er führte ein sanftes Lenkmanöver aus, bis er den angegebenen Kurs erreicht hatte, dann schwenkte er wieder in die horizontale Position ein. Die Geschwindigkeit sank auf 320 Kilometer.
»Korrektur erfolgt«, gab er kurz an das Kontrollzentrum durch.
»Wir haben euch auf dem Schirm, das sieht gut aus«, erhielt er zur Antwort. »Die neuen Landevektoren sind in den Rechner übertragen. Discovery, gehen Sie wieder auf Automatik. Wir melden uns.«
Ein zufriedenes Lächeln huschte über Gibsons Gesicht. Der Sinkflug verlief ruhig. Am Übergang in die Troposphäre wurde das Schiff durchgerüttelt, doch Gibson blieb gelassen. Die Dichte der Gasschichten nahm deutlich zu, und die Geschwindigkeit verringerte sich zusehends. Plötzlich war aus dem Kopfhörer nur noch ein Rauschen zu vernehmen, und das Schiff begann zu trudeln. Gibson riss am Steuerruder und schaltete die Automatik ab. Ein heftiges Schütteln lief durch das Schiff, und ein lautes Prasseln war zu vernehmen. Eiskristalle prallten gegen die Außenhaut. Gibson fluchte.
Für einen kurzen Moment hielt er inne. Irgendetwas war dort draußen in den Wolken. Die aufkeimende Angst jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Es war, als ob ihn sein eigener Schatten verfolgte und nach seiner Seele griff. Ein ohrenbetäubendes Donnern ließ ihn zusammenzucken. Ein gleißend heller Blitz durchzuckte das Cockpit, und die Instrumente begannen verrücktzuspielen.
»Houston!«, rief er in das Sprechgeschirr. »Houston, wir sind in Schwierigkeiten!«
Er wartete, doch außer dem Rauschen und Knistern herrschte Schweigen im Kopfhörer. Er warf einen Blick nach draußen und sah, dass sie sich mitten in einer Wolkenhülle befanden. Erneut erzitterte das Shuttle unter einem kräftigen Donnerschlag. Die aufblitzende Helligkeit brannte in seinen Augen. Für Sekunden schloss er geblendet die Lider.
»Verdammt, Houston!«, rief er, doch die Antwort blieb aus. Er wandte sich Sanders zu und rief seinen Namen in das Bordfunkgerät. Doch Sanders rührte sich nicht, seine Augen blieben geschlossen. Auch Ziegler, der auf dem Sitz hinter ihm in seinen Gurten saß, schlief einfach weiter. Irgendetwas stimmte mit ihnen nicht, doch er hatte keine Zeit, sich um die Kollegen zu kümmern, denn erneut wurde das Schiff von einem Blitz getroffen. Es schien, als ob die Raumfähre wie ein Stein durch die Wolken sackte.
»Verdammt, wir stürzen ab!«, rief er in das Mikro.
»Discovery … melden … Kurs … «
Nur Wortfetzen, unverständliche Fragmente drangen an sein Ohr. Mit eisernem Griff hielt er das Steuerruder umklammert und versuchte, sich dem Zerren des Sturms entgegenzustemmen. Das Schiff stöhnte und ächzte unter der Belastung, doch es gelang ihm, die Lage des Shuttles zu stabilisieren. Die Geschwindigkeit war auf 275 Kilometer gesunken. Viel zu langsam, um die Landebahn in Edwards zu erreichen. Er überlegte. Schließlich kam ihm ein abenteuerlicher Gedanke. Noch war das Monomethylhydrazin in den Treibstofftanks nicht ganz aufgebraucht. Der Schub würde für einen kurzen Zündimpuls ausreichen. Er legte den grünen Kippschalter um, der die Zufuhr von Stickstofftetroxid regelte, dann schlug er mit dem Handballen auf den roten Schalter unterhalb des Steuerruders. Der künstliche Horizont signalisierte ihm, dass sie in einem steilen Winkel dem Boden entgegenstürzten. Bevor er das Steuer nach hinten riss, schickte er noch ein Stoßgebet in den Himmel. Die beiden Orbitalmanövertriebwerke setzten ein. Ruckartig wurde das Schiff nach vorn katapultiert. Rasch gewann es an Geschwindigkeit und Höhe. Gibsons Plan schien aufzugehen. Auf dem Anzeigeinstrument hob sich die Nase immer mehr der Nulllinie entgegen. Plötzlich durchstieß das Schiff die Wolkendecke, und der milchige Nebel gab den Blick auf die Erde frei. Sekunden später verstummten die Schubaggregate. Gibson kontrollierte die Instrumente. Die Geschwindigkeit betrug nun wieder 324 Stundenkilometer bei einer Höhe von 26 000 Fuß. Edwards lag noch 90 Kilometer entfernt.
»Houston, verdammt, meldet euch!«, sagte Gibson keuchend. Schweiß lief ihm über die Stirn.
»Discovery, Gott sei Dank«, erwiderte der Flightcommander. »Was war los bei euch?«
»Was los war?«, schnauzte Gibson. »Der verdammte Sturm war näher, als ihr dachtet. Hat uns ganz schön durchgewirbelt. Beinahe wären wir abgeschmiert. Ich glaube, in den Wolken steckte etwas … «
»Was heißt das? Geht es euch gut?«
Gibson schaute sich um. Er seufzte laut.
»Commander/NTO: G/S Zero«, ertönte die ernste Stimme des Flightcommanders. »Geben Sie uns Ihren Status!«
Gibson riss sich zusammen und verscheuchte den bedrückenden Gedanken. »Ihr werdet es nicht glauben«, sagte er. »Während wir beinahe in den großen Teich gefallen wären, haben meine Begleiter geschlafen wie die Murmeltiere. Sie sind einfach nicht wach zu kriegen.«
»Geben Sie uns Ihren Status!«
Die Stimme aus der Flugkontrolle klang nach wie vor besorgt. Offenbar hatte der Flugleiter den Eindruck gewonnen, der Pilot der Discovery wäre nun total verrückt geworden. Gibson kontrollierte seine Instrumente. Alles schien in Ordnung. Er schaltete das Check-up-Terminal ein und versuchte, eine Kurzanalyse durchzuführen, aber auf dem Bildschirm flimmerte nur ein rotes Viereck: Offline.
»Ich habe ein Problem«, sagte er leise. »Ich fürchte, an dem Vogel stimmt was nicht. Ich bekomme keine Daten für einen Statuscheck.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Noch einmal tippte Gibson auf die Eingabetaste des Computersystems. Doch das Bild änderte sich nicht.
»Discovery«, zerschnitt der Flightcommander die Stille. »Wir stehen vor dem gleichen Problem. Wir haben keine Kontrolle über Ihre Steuerautomatik, ich wiederhole, wir sind ebenfalls offline. Sie müssen den Vogel mit der Handsteuerung landen. Wie ist Ihre augenblickliche Position?«
Gibson schaute auf den elektronischen Kompass und nannte die abgelesenen Daten, die Geschwindigkeit und die augenblickliche Höhe. Wieder herrschte für einen Augenblick Ruhe.
»Sie sind zu schnell, steigen Sie auf 28000 Fuß, damit reduzieren Sie Ihre Geschwindigkeit. Drehen Sie auf 124, ich wiederhole, drehen Sie auf eins … zwo … vier.«
Gibson bestätigte und führte die Anweisungen aus. Sein Manöver mit den Orbitaldüsen hatte die Raumfähre auf eine Position gebracht, die ein paar Kilometer zu weit nördlich lag.
»Ich habe jetzt eins zwo vier auf 28 000. Meine Geschwindigkeit liegt bei 280 Kilometer«, meldete Gibson ein paar Minuten später.
»Schauen Sie aus dem Cockpit«, erwiderte die Flugkontrolle. »Sie sehen jetzt Edwards am Horizont auftauchen. Wir übergeben an die Landekontrolle. Folgen Sie den Anleitungen. Es ist alles vorbereitet. Viel Glück.«
Sekunden später meldete sich der Tower der Edwards Air Force Base bei der Discovery. Der verantwortliche Flugleiter übernahm die Einweisung zur manuellen Landung.
»Halten Sie sich genau an meine Anweisungen, ich bringe Sie runter«, versprach der Flugleiter von Edwards. »Fahren Sie jetzt die Landeklappen aus und reduzieren Sie die Geschwindigkeit auf 250. Gehen Sie auf Sinkflug! Sie brauchen 2000 Fuß.«
Als Don Gibson kurz darauf die Anweisung zum Ausfahren des Fahrwerks erhielt, fixierte er mit den Augen das Flugfeld von Edwards, das am Horizont aufgetaucht war. Jetzt war alles nur noch eine Frage von Minuten. Gibson beobachtete gebannt die Fahrwerkskontrolle. Mit einem Piepen kündigten die Tragflächenfahrwerke an, dass sie ausgefahren und verriegelt waren. Zwei grüne Lichter, die direkt über dem Piloten aufleuchteten, bestätigten die Meldung. Plötzlich schnarrte ein lauter Warnton. Das Bugrad hing fest. Ein rotes Licht signalisierte eine Fehlfunktion.
»Verdammt, Edwards!«, fluchte Gibson. »Mein Bugrad rastet nicht ein. Habt ihr gehört?«
»Verstanden!«
»Was soll ich tun?«
Die Landebahn näherte sich rasch. Die Geschwindigkeit war auf 210 Kilometer gesunken. Die Höhe betrug noch knapp 450 Meter.
»Zum Teufel, Edwards, was soll ich tun?«
»Kommen Sie nach Hause«, sagte der Flugleiter. »Landen Sie, Pilot. Kommen Sie rein und beten Sie.«
Die Discovery setzte knapp drei Minuten nach dem letzten Funkruf auf der Landebahn der Edwards Air Force Base auf. Zuerst bekamen die Fahrwerke unter der Tragfläche Bodenkontakt. Eine ganze Weile brauste die Discovery mit aufgerichteter Nase über den Asphalt. Als sich die Geschwindigkeit immer weiter reduzierte, zog die Schwerkraft die Nase des Shuttles dem Boden entgegen. Das Busrad bekam unter einem Schwall von Qualm und Staub Bodenkontakt. Doch es knickte nicht ein. Zumindest nicht sofort. Gibson bremste und aktivierte die zusätzlichen Bremsfallschirme. Schließlich gab das Bugrad nach, und der Rumpf der Raumfähre streifte über den Boden. Funken stieben auf, und ein Teil der Rumpfkacheln löste sich. Noch immer rollte das Raumschiff auf den Tragflächenfahrwerken geradeaus weiter, bis es kurz vor dem Ende der Landebahn zum Stehen kam. Sofort brausten Rettungsfahrzeuge über die Landebahn und hielten auf die Discovery zu.
»Mein Gott, das war knapp«, sagte der Chef des Rettungsteams, nachdem die Astronauten aus dem Shuttle geborgen waren. »Sie haben es geschafft, Sie Teufelskerl. Wie haben Sie das bloß hingekriegt?«
»Ich habe gebetet«, antwortete Don Gibson mit krächzender Stimme.