Читать книгу Die dritte Ebene - Ulrich Hefner - Страница 20
Caraguela, Orinoco-Delta, Venezuela
ОглавлениеEinfache Holzhütten, auf Pfählen erbaut und mit Palmwedeln gedeckt, säumten das Flussufer. In einer kleinen Bucht ragte ein primitiver Bootsanleger in den Fluss. Nachdem Juan das Boot vertäut hatte, schwang er sich auf die schwankenden Bohlen. Vier Indios vom Stamme der Warao, mit Lendenschurz bekleidet und starrem Blick, beobachteten vom Flussufer argwöhnisch die Besucher. Sie hielten Äxte in den Händen und schienen über die unvorhergesehene Störung ihres Alltags nicht gerade begeistert zu sein.
Yakuna zog es vor, im Boot zu warten, bis Juan das Begrüßungsritual vollzogen hatte. Als sich Brian erheben wollte, legte Yakuna die Hand auf dessen Schenkel, zum Zeichen, dass es besser sei, erst einmal im Boot zu bleiben, bis Juan zurückkehrte. Hier draußen im Dschungel waren ungebetene Gäste nicht immer willkommen. Juan ging, die Handflächen ihnen zugewandt, ohne Eile auf die vier Indios zu. Eine Geste, die den Indios sagte, dass sie nichts zu befürchten hatten.
Schließlich näherte sich ein weiterer Warao. Ein Mann um die sechzig, mager, mit einem zerschlissenen Strohhut auf dem Kopf. Sein Gang und seine Gebärden hatten etwas Aristokratisches. Juan blieb stehen und wartete, bis der Alte bei ihnen war. Dann verneigte er sich kurz und begrüßte den Warao. Wortfetzen wehten zu Brian herüber, aber er konnte den Sinn der Worte nicht verstehen. Die Unterhaltung zog sich eine ganze Weile hin, doch der Alte schien nicht zum Ende kommen zu wollen. Brian wartete geduldig in der Hitze des verklingenden Tages und hoffte, bald diese schaukelnde Nussschale verlassen zu können. Inzwischen fanden sich immer mehr Dorfbewohner am Ufer ein. Auch Frauen und Kinder zeigten sich. Brian atmete auf, denn der Anblick von Kindern in dieser gespannten und scheinbar feindseligen Stille ließ ihn zuversichtlicher werden. Fast zwanzig Minuten später wandte sich Juan endlich dem Boot zu und bedeutete den beiden Wartenden, dass sie ebenfalls aussteigen durften.
Brians Glieder schmerzten, und er streckte sich. Das Boot wankte bedrohlich, als er mit einem ausgreifenden Schritt den Ausleger betrat. Yakuna sprang behände vom Boot und folgte ihm. Langsam gingen sie auf Juan und den Alten zu.
»Das ist der Dorfälteste«, erklärte Juan. »Er erlaubt uns, das Dorf zu betreten, und heißt uns willkommen. Allerdings gibt es ein kleines Problem mit Ihrer fliegenden Frau.«
Brian blickte Juan fragend an. »Ist sie etwa … tot?«
Juan schüttelte den Kopf. »Sie ist zu den Göttern gegangen, auf eine lange Reise, sagt der Älteste. Aber ihr Körper ist noch am Leben.«
Brian schluckte.
»Ich habe ihm gesagt, dass Sie ein weißer Medizinmann sind«, fuhr Juan fort. »Der Dorfälteste ist dennoch einverstanden, dass Sie zu ihr gehen.«
»Was ist passiert?«, fragte Brian.
»Es war während des großen Sturms. Die Dorfbewohner hatten sich in ihrem Haupthaus versammelt, und die Medizinfrau bemühte sich, den Wolkengott zu beschwichtigen. Sie hat zu ihm gebetet und ist zu ihm hinaufgestiegen. Plötzlich wurde sie von einem gleißenden Licht eingehüllt. Es rauchte und qualmte, und dann zerbrach die Hütte.«
»Ein Blitz hat sie gespaltet?«
»Ich glaube ja«, sagte Juan. »Seither ist die Frau nicht mehr vom Wolkengott zurückgekehrt. Sie glauben, das Böse steckte in den Wolken und hat nach dem Dorf gegriffen, aber sie hat sich geopfert und dadurch das Dorf und die Bewohner beschützt.«
Der Alte wandte sich um und wies mit der Hand auf einen Pfad, der zwischen den Bäumen im nahen Dschungel verschwand. Brian ging zurück zum Boot und holte seinen Rucksack, dann brach die kleine Gruppe auf.
Der Pfad war ausgetreten und führte eine sanfte Anhöhe hinauf. Tropische Bäume und Farne säumten ihren Weg, und je weiter sie sich vom Fluss entfernten, umso heißer wurde es. Die Luft vibrierte vor Hitze, und selbst der Schatten spendete keine Abkühlung. »Verdammt!«, murmelte Brian, während er neben Juan dem Dorfältesten folgte. »Ich muss die Reportage bis zum Wochenende bei meiner Zeitung abliefern. In letzter Zeit geht wirklich alles schief.«
Als sie den Hügelkamm erklommen hatten, eröffnete sich vor ihnen eine weitläufige Lichtung. Karge, schmucklose Hütten standen scheinbar planlos durcheinander auf dem freien Platz. Doch als sie näher kamen, erkannte Brian, dass alle Gebäude und Stallungen auf das große Haus in der Mitte der Lichtung ausgerichtet waren. Das Haus der Dorfgemeinschaft.
Der Alte murmelte ein paar Worte, und Juan übersetzte. »Die Frau heißt Ka-Yanoui. Sie liegt dort drüben im großen Haus. Wir sollen leise sein, es darf in ihrer Nähe nicht gesprochen werden, damit ihr Geist nicht verwirrt wird und in den Körper zurückfindet.«
Brian nickte. Schon von Weitem erkannte er den hinteren Teil der Stammeshütte, der eingestürzt war. Dunkle, verkohlte Balken lagen umher, und die Palmblätter, welche die Außenwand gebildet hatten, waren braun und versengt.
»Wie gesagt, ein Blitzschlag«, murmelte Brian.
Vor der großen Hütte wies der Alte sie an zu warten, ehe er mit seinen Begleitern im mit Teppichen verhüllten Eingang verschwand. Die große Gruppe Eingeborener, die sich inzwischen um die sonderbaren Besucher versammelt hatte, verharrte in Stille. Brian beschlich ein eigenartiges Gefühl. Nur die Stimmen des Urwalds drangen an sein Ohr. Das Vogelgezwitscher und hier und da der Schrei eines Brüllaffen. Die Menschen schwiegen. Sogar die Kinder standen reglos unter den Erwachsenen und musterten die Fremden mit sorgenvoller Miene.
»Warum ist es hier so ruhig?«, flüsterte Brian.
Juan räusperte sich. »Sie glauben, dass der Kampf mit dem Wolkengott den Geist der Schamanin verwirrt hat und er nun irgendwo über dem Dorf umherirrt und nach seinem Körper sucht. Deswegen schweigen sie. Sie wollen den Geist auf seiner Suche nicht ablenken.«
Brian nickte.
Nach einer Weile erschien der Älteste in der Türöffnung und gab Juan und Brian ein Zeichen. Zögerlich betraten sie die Stufen, die hinauf zum Eingang führten. Yakuna blieb zurück. Brians Herzschlag beschleunigte sich, als er die Hütte betrat. Ihn schauderte, und trotz der feuchten Hitze überlief ihn eine Gänsehaut. Auf dem Boden brannten unzählige Kerzen.
In der Mitte der riesigen Halle lag auf einem Bett aus mehreren Decken der reglose Körper der Frau. Brian trat näher. Frauen des Stammes umgaben das Lager der Schamanin. Mit einem Tuch benetzte eine der Indiofrauen Stirn und Lippen der Schlafenden. Als Brian einen Schritt näher trat, sah er ihre offenen Augen, die reglos und stumpf durch ihn hindurchblickten. Der Brustkorb der Frau hob und senkte sich. Sie lebte.
Der Alte flüsterte Juan ein paar Worte zu. »Sie können ruhig näher kommen, Dr. Saint-Claire«, übersetzte er.
Brian kam der Aufforderung nach und kniete sich zur Linken der Frau nieder.
»Darf ich sie untersuchen?«, fragte er in gedämpftem Ton.
Juan übersetzte, und der Alte nickte. Brian hob das Ohr an den Mund der Schlafenden. Die ausgestoßene Atemluft strich ihm über die Wange. Er fühlte ihren Puls. Er ging langsam, aber regelmäßig. Als er ihre Augen betrachtete, bemerkte er das leichte, fast unmerkliche Flackern ihrer Pupillen.
»Ich habe so etwas zwar noch nie gesehen«, sagte Brian im Flüsterton, »aber ich glaube, sie ist dem Leben so fern wie dem Tod. Offenbar ist sie durch den Blitz in eine Art Wachkoma gefallen. Ich fürchte, sie wird sterben, wenn wir sie nicht in eine Klinik bringen. Sie muss mit Flüssigkeit und Nahrung versorgt werden, sonst wird sie in ein paar Tagen dehydrieren.«
»Keine Chance, Doktor«, erwiderte Juan. »Sie gehört in dieses Dorf.«
»Dann stirbt sie!«
»Sie verstehen die Menschen hier draußen nicht«, erwiderte Juan leise. »Sie hat das Dorf vor großem Unheil beschützt. Die Dorfbewohner spüren noch immer ihre Anwesenheit. Ihr Geist wacht über das Dorf. Wenn sie fortgeht, dann sind die Menschen hier schutzlos allen Gefahren des Dschungels ausgeliefert und ihr Geist wird ihren Körper nie mehr wiederfinden.«
»Das ist doch purer Aberglaube.«
»Für Sie ist es Aberglaube. Es ist der Glaube der Warao, und das allein zählt. Sie werden Ihnen niemals gestatten, die Frau von hier wegzubringen.«
»Hier kann niemand etwas für sie tun«, sagte Brian.
Juan wandte sich dem Dorfältesten zu und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Schließlich nickte der Alte und begleitete die beiden Besucher wieder aus der Hütte hinaus. Zusammen mit Yakuna folgten sie dem Alten, der sie zu einem kunstvoll gebauten Haus führte, über dessen Giebel der prächtig geschmückte Kopf einer Raubkatze prangte. An der Feuerstelle neben dem Eingang ließen sie sich nieder. Der Alte wies ein paar umherstehende Frauen an, Speisen zuzubereiten. Inzwischen erzählte er Juan, der wiederum dessen Worte für Brian übersetzte, vom Alltag der Warao, von der Jagd und von dem Leben, das sein Volk hier draußen führte. Hin und wieder gebe es blutige Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen, welche die Fischgründe der Warao plünderten oder die Reviere des Stammes nach Beute durchstreiften. Die Schamanin habe das Dorf immer gut beschützt und die Kranken oder Verletzten geheilt. Sie besitze die Gabe des zweiten Gesichts und könne alle Geister bändigen. Nur wenige aus seiner Sippe seien in letzter Zeit gestorben. Auch im Kampf habe es keine Verluste mehr gegeben, seit Ka-Yanoui mit den Geistern spreche. Während ihrer Gespräche mit ihnen sei es vorgekommen, dass die Geister sie in die Höhe hoben. Um seine Worte mit einer Geste zu unterstreichen, fuhr der Älteste mit der flachen Hand im Abstand von etwa einem halben Meter über den Boden. Daraufhin erhob sich der Indio und verschwand in der Hütte.
»Da haben Sie Ihre Story«, sagte Juan.
»Was haben Sie in der Hütte zu ihm gesagt?«, fragte Brian.
Juan lächelte. »Machen Sie ein paar schöne Bilder von dieser wilden Gegend und schreiben Sie über die Warao. Schreiben Sie, dass es noch Menschen gibt, die glücklich und zufrieden mit dem sind, was die Natur ihnen schenkt, und die unsere Zivilisation nicht brauchen, um ein ausgefülltes Leben zu führen.«
»Was haben Sie in der Hütte gesagt?«, wiederholte Brian beharrlich.
Juan zog die Stirn kraus. »Ich habe ihm gesagt, Sie glauben, dass ihr Geist bald wieder zu ihrem Körper findet.«
»Sie wird sterben, wenn wir sie nicht in eine Klinik bringen«, entgegnete Brian barsch. »Es ist unsere Christenpflicht.«
»Das denke ich nicht«, entgegnete Juan. »Ich bin auch Christ und im Namen Gottes getauft worden. Aber wenn ich sehe, was Gott mit seinen Dienern so alles geschehen lässt, dann kommen mir jedes Mal Zweifel, ob es ihn überhaupt gibt.
Diese Menschen glauben daran, dass alle Dinge, die sie umgeben, von einem großen Geist erfüllt sind und dass diese Geister den Menschen nicht von vornherein gütlich gestimmt sind. Deswegen brauchen sie ihre Schamanin. Sie glauben, dass eine Kraft in ihr wohnt, der es gelingt, die bösen Geister zu beschwichtigen oder zu vertreiben. Wenn wir ihnen diese Frau wegnehmen würden, dann würden wir sie einer großen Kraft berauben. Wenn wir den Zustand der Frau auf eine medizinische Diagnose reduzieren, dann verraten wir den Glauben, ja, die Zuversicht dieser Menschen. Wollen Sie das tatsächlich?«
Brian schluckte. »Sie wird verdursten und verhungern, wenn sie hierbleibt«, unternahm er einen letzten, zaghaften Versuch, Juan von der Notwendigkeit der medizinischen Behandlung der Schamanin in einer Klinik zu überzeugen.
»Wenn es ihr Schicksal ist zu sterben, dann wird sie sterben. Aber das ist für diese Menschen leichter zu akzeptieren, als wenn wir ihnen die Verbindung zu den Göttern und den Schutz vor ihnen nehmen.«
Brian seufzte. Tief im Inneren wusste er, dass Juan recht hatte. Die Frau gehörte zu ihrem Volk, im Leben wie auch im Sterben, und vor allem auch im Tod. Und noch etwas hatte er begriffen: Juan war kein stumpfsinniger und ungebildeter Cowboy, wie er zuerst geglaubt hatte, er war ein feinfühliger und intelligenter Mensch. Viel näher an der Natur der Dinge, als Brian anfänglich vermutet hatte. Wenig später trugen die Frauen das Essen auf. Brian hatte keinen Appetit, doch der Alte, der in die Runde zurückgekehrt war, hätte es als Beleidigung aufgefasst, wenn er nicht aß. Widerwillig tat Brian es den anderen gleich und langte mit gewölbten Fingern in die hölzerne Schüssel. Erstaunen legte sich über sein Gesicht. Der Brei schmeckte vorzüglich.
»Was ist das?«, fragte er.
Juan schmatzte und leckte sich die Finger ab. »Das ist ein Brei aus Wurzeln, Gemüse und Fisch. Sehr nahrhaft.«
»Fisch?«
»Piranhas«, entgegnete Juan lachend.