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Racine, Wisconsin

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Suzannah Shane hatte es sich mit ihren Büchern auf dem Balkon ihrer Wohnung an der Oakes Road gemütlich gemacht und die dicke Strickjacke übergezogen, als der Wind von Süd auf Westen drehte. Die Sonne hatte sich hinter einem dichten Wolkenband versteckt, und über dem Lake Michigan waren dunkle Wolken aufgezogen, die nach Racine herübertrieben.

Innerlich fluchte sie, weil sich der anfänglich sonnige Tag doch noch zu einem Regentag entwickelte. Es war ihr erster Urlaubstag, und sie hatte sich geschworen, diesmal richtig auszuspannen, zu lesen und einfach nur die Stunden am See zu genießen. Vielleicht würde sie ein paar Tage an die Ostküste fahren oder hinunter nach New York, wo ihre Schwester wohnte, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hatte sie keinerlei Lust dazu. Nach dem heftigen Streit mit ihrer Mutter stand zumindest Baltimore nicht auf ihrem Programm.

»Auf der einen Seite hast du Erfolg in deinem Beruf, aber im Leben findest du dich nicht zurecht, da versagst du ständig«, hatte ihre Mutter ihr vorgeworfen, als sie vor zwei Wochen miteinander telefonierten. Suzannah war ausgerastet und hatte die Kontrolle verloren. Sie hatte ihren Stolz, und als Versagerin bezeichnet zu werden, ließ sie sich nicht gefallen. Eigentlich taten ihr die barschen Worte leid, mit denen sie ihre Mutter in die Schranken gewiesen hatte. Doch zu einem Besuch und zu einer Entschuldigung war Suzannah noch nicht bereit. Seither herrschte Funkstille. So hatte Suzannah beschlossen, in der ersten Woche erst einmal richtig auszuspannen.

Ein kräftiger Windstoß fegte über ihren Balkon und verblätterte die Seiten des Buchs, das in ihrem Schoß lag. Romeo und Julia, der Klassiker von Shakespeare über die romantische, aber auch verhängnisvolle Liebe zweier Menschen, die nicht zusammenkommen durften.

Liebe, Treue, Leidenschaft – das war etwas, was in ihrem Leben keinen Platz mehr einnahm. Sie hatte nur einmal in ihrem Leben wirklich geliebt, doch das war nun schon Jahre her. Kurz vor der geplanten Hochzeit war dieser Kerl einfach aus ihrem Leben verschwunden. Es hatte ihr das Herz gebrochen, und dieser Bruch war nie mehr richtig verheilt. Zwar gab es danach einige Romanzen, eine Ehe sogar, aber das beglückende Gefühl der Liebe war nie mehr wieder in ihr Leben zurückgekehrt. Ihre überstürzte Ehe mit einem Arzt war gescheitert.

Er konnte ihr nicht geben, wonach sie sich sehnte, und ihr wurde klar, dass ihre erste große Liebe ihr Glück einfach mit sich genommen hatte und sich einen Dreck darum scherte, was aus ihr werden würde. Seither verschlang sie Literatur, die von unglücklichen Liebschaften handelte. Es war alles, was ihr geblieben war, doch ihr mangelndes Glück in der Liebe lag keineswegs an ihrem Aussehen. Seit der Scheidung von Andrew, den sie bei einem gemeinsamen Forschungsprojekt am Memorial Hospital kennengelernt hatte, joggte sie mindestens zweimal in der Woche. Der Lohn ihrer Mühe war eine makellose Figur, die sie durch tägliches Hanteltraining im Kraftraum der Universität abrundete. Ihre rötlich schimmernden, glatten Haare und ihr dunkler Teint ließen sie ein wenig verwegen erscheinen. Auch wenn sie schon Mitte dreißig war, gab es noch immer Männer, die sich nach ihr umdrehten. Ihre Depressionen bekämpfte sie mit ihrer Arbeit, die mittlerweile zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden war. Sie hatte sich als Neuropsychologin und eine der bedeutendsten Schlafforscherinnen in den Vereinigten Staaten einen Namen gemacht. Der Weg zur Professur war geebnet. Nur selten ließ sie sich auf Affären ein – mehr als ein paar One-Night-Stands hatte es in den letzten Jahren nicht gegeben. Ihr Arbeitstag betrug manchmal bis zu sechzehn Stunden. Keine Zeit mehr für die Suche nach der Liebe und keine Zeit mehr für Depressionen. Keine Zeit für weitere Enttäuschungen. »Stolpern ja, fallen nie wieder«, war zu ihrem Lebensmotto geworden. Daran änderten auch die ständigen Vorwürfe ihrer Mutter nichts.

Erneut blies eine kalte Windböe über ihren Balkon, der sich auf der Seeseite ihres Apartmenthauses befand. Die Dreizimmerwohnung, die sie sich gekauft hatte, lag direkt am Lake Michigan, in einer der teuersten Gegenden. Eine abgeschlossene Wohnanlage für die gehobene Mittelschicht. Sogar einige Schauspieler aus Hollywood hatten sich hier für viel Geld Apartments gekauft, um dem Stress der Filmstadt zu entfliehen und ein paar Tage am See auszuspannen. Drei lang gestreckte Bauten vereinigten sich zu einem nach Westen hin geöffneten Karo. In der Mitte befanden sich ein riesiger Swimmingpool und eine Bar. Nur Bewohner und deren Gäste erhielten Einlass in die exklusive Wohnanlage. In der Tiefgarage stand ihr gelber Porsche, den sie sich vor ein paar Monaten gekauft hatte und mit dem sie nach Chicago fuhr, bis auf die Tage, an denen sie wieder einmal in ihrem kleinen Zimmer in der Uni übernachtete, weil sich die Heimfahrt entlang des Lake Michigan nicht mehr lohnte. Geld war kein Problem. Ihr monatlicher Verdienst war ordentlich, und ihre Veröffentlichungen in verschiedenen wissenschaftlichen Fachzeitschriften brachten ihr von Zeit zu Zeit zusätzliche Einnahmen. Gemessen an ihrem Stand, ihrer Reputation und ihrem materiellen Besitz hätte sie durchaus glücklich sein können, doch sie wusste und hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass ihr das Wesentlichste für immer fehlen würde.

Das Telefon klingelte und riss sie aus ihren Gedanken. Die ersten Urlaubstage waren am schlimmsten. Sie betrat ihre Wohnung und nahm den Hörer ab.

»Hallo, Suzi«, erklang die Stimme ihrer Schwester Peggy aus dem Lautsprecher. »Ich wollte mich mal bei dir melden. Wegen deines Urlaubs und so.«

Erleichtert atmete Suzannah auf. Sie hatte schon befürchtet, dass jemand aus der Uni am Apparat wäre und ihr Urlaub ein jähes Ende finden würde.

»Du, ich weiß noch nicht, wann ich kommen kann«, sagte Suzannah. »Ich muss erst einmal zu mir selbst finden. Der ganze Stress in der letzten Zeit …«

»Wann warst du eigentlich das letzte Mal bei uns? Vor einem Jahr? Versprochen hast du es oft. Die kleine Sarah wird ihre Patentante überhaupt nicht mehr wiedererkennen. Du igelst dich immer mehr ein. Mutter hat dich fast schon ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Sie macht sich Sorgen.«

»Sorgen?«

»Hast du eigentlich noch Freunde?«

Suzannah seufzte. »Doch nicht schon wieder diese Nummer. Es geht mir gut. Ich verdiene reichlich Geld, ich kann mir was leisten, mein Sexualleben ist nach wie vor aufregend, und mein letzter Arztbesuch war auch okay.«

»Als ob das alles wäre«, erwiderte Peggy. »Ich meine, das Leben besteht doch aus mehr als aus Arbeit und Schlaf. Was liegt bei dir dazwischen?«

Suzannah blickte an die Decke. »Hast du angerufen, um mir eine Moralpredigt zu halten, oder hat dich Mutter darum gebeten?«

»Nein, aber ich sorge mich eben um meine kleine Schwester. Und ich will nicht nur einmal alle zwei Monate mit ihr telefonieren, ich möchte sie wiedersehen. Ist das zu viel verlangt?«

»Und warum kommst du nicht einfach hierher?«

»Gute Idee, ich bringe die Kinder und Robert mit, und wir machen uns ein paar schöne Tage, während wir uns bei dir einnisten. Sagen wir übermorgen?«

Suzannah sog tief die Luft ein. Dieser Überfall war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

»Na, ist das eine Idee?«, fragte Peggy herausfordernd.

»Ich … ich weiß nicht … «

»Ich möchte jetzt zu gern dein Gesicht sehen«, sagte Peggy lachend. »Aber nun Spaß beiseite. Roberts Einheit wurde für die nächsten vier Wochen nach Mobile verlegt. Sie helfen dort unten bei den Aufräumarbeiten. Ich fahre für zwei Wochen mit den Kindern zu Mama, und ich würde mich freuen, wenn du ebenfalls ein paar Tage vorbeikommst. Sagen wir, nächstes Wochenende. Damit hast du auf einen Schlag alle Pflichttermine erledigt und kannst dich für den Rest deines Urlaubs ganz auf dich konzentrieren.«

Suzannah überlegte. »Was macht Robert in Mobile?«, sagte sie, um vom Thema abzulenken.

»Wegen des Hurrikans«, erklärte Peggy. »Dort unten sieht es aus wie nach einem Bombardement. Seine Einheit leistet Katastrophenhilfe, und ich dachte, ich nutze die Gelegenheit und fahre mit den Kindern nach Baltimore. Aber ich verspreche dir, dass ich auch in Racine vorbeischaue, wenn es dir lieber ist.«

Suzannah hasste die penetrante Art ihrer Schwester. Sie hatte schon immer erreicht, was sie wollte. Peggy hatte immer ihren Willen ihr gegenüber durchgesetzt. Also wusste Suzannah, dass es keine leeren Worte waren – Peggy tat meist, was sie androhte. Außerdem konnte sie sich ihrer Mutter nicht ewig entziehen. Irgendwann würde sie den Haussegen wieder geraderücken müssen.

»Also gut, am nächsten Wochenende«, willigte Suzannah schließlich ein. »Aber am Montag fahre ich wieder nach Hause.«

»Das werden wir sehen«, erwiderte ihre Schwester, ehe sie das Gespräch beendete.

Suzannah legte sich auf die Couch und blickte stumm hinaus über den See. Ihre Augen wurden feucht, als sie über das Gespräch mit ihrer Schwester nachdachte. Peggy hatte recht. Nur Arbeit und Schlaf waren zu wenig, um glücklich zu sein. Doch was zum Teufel sollte sie tun? Sie fuhr sich über die Stirn. Schließlich erhob sie sich und ging in das Badezimmer. Die Tabletten lagen in der unteren Schublade des Wandschranks. Sie nahm eine der kleinen rosa Pillen und schluckte sie mit einem Glas Wasser hinunter. Eine weitere Dosis scheinbaren Glücks. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer, ließ sich auf das Bett fallen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Nach einer Weile beruhigte sie sich und trocknete die Augen. So hatte bislang jeder Urlaub der letzten Jahre begonnen. Stolpern ja, aber fallen niemals wieder.

Die dritte Ebene

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