Читать книгу Die dritte Ebene - Ulrich Hefner - Страница 33

Long Point View, Lakeland, Ontario, Kanada

Оглавление

Brian Saint-Claire saß vor seinem Haus und rauchte eine Zigarette. Die Sonne färbte sich in der Abenddämmerung rot. In einem Eimer neben der Bank schwammen zwei dicke Forellen, und Brian freute sich auf einen ruhigen und beschaulichen Abend.

Den ganzen Tag hatte er auf dem See geangelt. Vor sechs Jahren hatte er das Haus in der Abgeschiedenheit abseits von Port Rowan gekauft. Umgeben von Wasser, hohen Bäumen und grünen saftigen Wiesen fühlte er sich wohl. Hier tankte er neue Energie, bevor er wieder in die Welt hinauszog, um unerklärlichen Phänomenen hinterherzujagen und darüber seine Reportagen zu verfassen. Eigentlich war die Berichterstattung mehr Hobby als Beruf, Journalismus hatte er nie erlernt. Nach seinem Studium an der Universität in Chicago hatte er eine Zeit lang als Dozent dort gearbeitet. Heute war er froh darüber, dass er die Universität hinter sich gelassen hatte. Aus ihm war ein Abenteurer und Weltenbummler geworden, der ein unstetes Leben führte. Als einziger Sohn eines reichen Kaufmanns aus Quebec war er nicht auf einen Brotberuf angewiesen. Das Investmentdepot, das sein Vater für ihn eingerichtet hatte, war mittlerweile zu einer stattlichen Summe angewachsen. Brian drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Langsam verspürte er Hunger.

Plötzlich hörte er Motorenlärm in der Dämmerung. Ein weißes Mercedes-Cabrio fuhr den holperigen Feldweg herauf und hielt direkt vor dem Haus.

»Ich ruiniere mir jedes Mal den Lack, wenn ich zu dir herausfahre«, schimpfte Porky, nachdem er ausgestiegen war. »Wann lässt du endlich diesen Weg asphaltieren – oder wie wär’s, wenn du einfach mal ans Telefon gingst?«

Porky hieß mit bürgerlichem Namen Gerad Pokarev und war Chefredakteur des ESO-Terra-Magazins; wie immer trug er einen hellen, zerknitterten Anzug und trotz der anbrechenden Dunkelheit seine obligatorische Ray-Ban-Sonnenbrille.

»Was führt einen Stadtmenschen so spät am Tag mitten in die Wildnis?«, begrüßte Brian seinen unverhofften Gast.

»Hast du ein Bier? Meine Kehle ist total ausgetrocknet.«

Brian verschwand im Haus.

Porky ließ sich mit einem Seufzer auf die Bank der Veranda fallen. »Den ganzen Tag versuche ich dich schon zu erreichen!«, rief er ihm nach. »Hast du der Zivilisation schon den Rücken zugekehrt, oder bist du für diese Welt noch zu sprechen?«

Brian kam mit zwei Flaschen zurück, öffnete sie und setzte sich neben Porky, ohne sich zu einer Antwort herabzulassen.

»Mein Gott, diese Stille hier würde mich umbringen. Was treibst du nur den ganzen Tag in diesem Dschungel?«

»Ich war fischen.« Brian wies auf den blauen Eimer neben sich. »Hast du Hunger?«

»Gott behüte«, wehrte Porky ab. »Ich esse nichts, das sich noch bewegt. Ich stehe mehr auf Fleisch, und zwar tot, klein gehackt und mit Tomatentunke beträufelt zwischen zwei Brötchenhälften, verstehst du?«

Brian musterte seinen Besucher. »Ein wenig fettarme Ernährung stünde dir gut zu Gesicht. Also, weshalb bist du hier? Bestimmt nicht, um dich mit einem guten Freund zu treffen.«

Porky nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche. »Ich brauche dich.«

»Du brauchst mich?«

Porky richtete sich auf. »Dein Bericht über diese Indianer hat uns gute Kritiken eingebracht. Harbon ist sehr zufrieden mit unserer Arbeit. Er glaubt, dass wir die Auflage noch steigern können, wenn wir uns am modernen Marketing orientieren und uns vorwiegend auf medienwirksame Leitthemen spezialisieren.«

»Und das heißt?«

Porky zog eine DVD aus seiner Jackentasche.

»Was ist das?«

»Ein neuer Auftrag. Schau es dir einmal an. Du hast doch einen Player, oder?«

Brian nahm die DVD und verschwand im Haus. Porky leerte seine Bierflasche und folgte ihm.

Brian legte die silberne Scheibe in den DVD-Spieler und schaltete den Fernseher ein. Die graue Fassade einer Kirche flackerte über den Bildschirm. Die Aufnahme war unscharf, wackelte und zitterte, sodass nur wenig zu erkennen war. Schließlich verdunkelte sich der Bildschirm, und die Kamera schwenkte ins Innere der Kirche. Ein von Säulen umrahmtes Altarbild war zu erkennen. Es zeigte Maria und Jesus, der neben ihr kniete und ihr die Hand auflegte. Wackelnd zoomte der Kameramann auf das Bildnis der Maria.

»Da, siehst du es?«, rief Porky.

»Was soll ich sehen?«

Porky stellte sich neben den Fernseher und wies auf das Gesicht der Mutter Gottes.

»Drück doch mal die Pausetaste!«

Brian kam der Aufforderung nach und trat neben Porky vor den Fernsehapparat.

»Da läuft eine dunkle Spur vom Auge Marias hinunter, meinst du das?«

»Die Tränen Marias«, bestätigte Porky.

»Was soll das, bist du jetzt unter die Wundergläubigen gegangen?«

»Vor zwei Wochen hatten Kinder, die in der Kirche beteten, eine Marienerscheinung. Die Mutter Jesu sprach zu ihnen und verkündigte, dass eine große Katastrophe über die Menschen hereinbreche. Nachdem die Erscheinung wieder verschwunden war, tropften von dem Altarbild blutige Tränen herab.«

»Und du glaubst diesen Blödsinn?«, fragte Brian. »Diese Aufnahme sieht mir nicht gerade beweiskräftig aus.«

Porky wandte sich um und setzte sich in einen Sessel. »Das ist nicht der Punkt. Du hast doch bestimmt schon von diesem Schriftsteller gehört, der über die Kirche schreibt und einen Bestseller nach dem anderen landet. Sakrileg war sein größter Erfolg. Es ist ein absoluter Reißer. Harbon meint, dass wir die Geschichte mit der Marienerscheinung als Leitartikel bringen sollen. Es würde unserer Auflage bestimmt nicht schaden.«

»Und wo ist diese Kirche?«

»Sie steht in Venedig, unweit des Markusplatzes.«

»Weißt du, als ich vor sieben Jahren anfing, für das Magazin zu schreiben, da hatte ich irgendwie das Gefühl, dass es darum geht, die Wahrheit ans Licht zu bringen, und zwar mittels fundierter Recherchen. Aber in letzter Zeit werde ich das Gefühl nicht los, dass nur noch eins zählt: die Auflage. Ich bin kein Sensationsjournalist, und ich schreibe auch keine Romane. Ich halte mich nach wie vor für einen Wissenschaftler.«

Porky wischte Brians Einwurf mit einer Handbewegung weg. »Damals war alles anders. Wir waren unabhängig und hatten einen Verleger, dem es um Hintergründe ging. Aber Thomason ist gestorben, und das Blatt gehört mittlerweile zu einem Medienkonzern. Und da zählt nun mal die Auflage. Damals haben wir knapp fünftausend Exemplare an esoterische Leser verkauft, eine Auflage, die unsere Zeitschrift gerade so am Leben hielt. Heute haben wir eine Auflage von 150 000 und sind beinahe an jedem Kiosk hier im Osten erhältlich. Die Zeiten haben sich geändert.«

»Nicht nur die Zeiten«, entgegnete Brian. »Auch du hast dich verändert.«

»Du hast gut reden«, erwiderte Porky. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Du hast eine reiche Familie und ein dickes Konto. Ich habe nur diesen einen Job, und das Magazin ist mein Leben. Von dem Gehalt finanziere ich meine Miete, mein Essen, und ich kaufe mir meine Anzüge davon, auch wenn sie dir nicht gefallen. Wo, glaubst du, käme ich unter, wenn mich Harbon rauswirft? Harbon will, dass du zusammen mit Leon und Gina nach Venedig fliegst und die Titelstory schreibst. Es ist ihm egal, ob es sich bei der Geschichte um Lüge oder Wahrheit handelt. Ihm kommt es nur darauf an, dass sich unser Blatt verkauft. Und angesichts des neuerlichen Kirchenbooms in den Medien glaubt er, dass sich genau mit diesem Thema Geld verdienen lässt. Ich habe ihm gesagt, dass du bestimmt ablehnen würdest – weißt du, was er geantwortet hat?«

Brian zuckte mit den Schultern.

»Er sagte, dass ein Chefredakteur seine Mannschaft im Griff haben muss, sonst kann er sich als Eisverkäufer an den Seen versuchen. Das hat er geantwortet, bevor er mich aus seinem Büro warf.«

»Ausgerechnet Leon, dieser Spinner«, murmelte Brian. »Der Kerl bringt nur Schwierigkeiten.«

»Aber er ist ein hervorragender Chemiker, wenn er nicht trinkt. Und in letzter Zeit ist er trocken, seit ich ihm mit dem Rauswurf gedroht habe.«

Brian überlegte.

»Tu es für mich, Partner«, sagte Porky. »Du schuldest mir noch immer einen Gefallen. Erinnerst du dich an Toledo?«

»Fang nicht schon wieder damit an.«

»Sie hätte dich noch immer in ihren Fängen, wenn ich nicht gewesen wäre.«

Brian verzog das Gesicht. »Aber danach sind wir endgültig quitt.«

»Mein Wort darauf.« Porky streckte Brian die Hand entgegen.

Brian zögerte. »Wann soll es losgehen?«

»Es ist alles vorbereitet. Ihr fliegt übermorgen von Detroit aus. Von Rom nehmt ihr einen Inlandsflug nach Venedig. Ich habe direkt neben der Kirche im Hotel Orion Zimmer für euch reservieren lassen. Es gibt ausreichend Spesen, und du kommst wieder hinaus in die weite Welt. Italien, Venedig, die Stadt der Liebe. Das klingt doch verlockend.«

»Habe ich eigentlich eine Wahl?«

»Wenn du einen sehr guten Freund retten willst, dann gibt es nur eine Entscheidung«, antwortete Porky.

Brian warf einen letzten Blick auf den Bildschirm, auf dem noch immer das Bildnis der Mutter Gottes flimmerte.

»Also gut, ich fliege«, sagte er schließlich und ergriff Porkys ausgestreckte Hand. »Aber danach brauche ich meine Ruhe. Mindestens einen Monat lang. Ist das klar?«

»Ich gebe dir gern Urlaub«, sagte Porky neckend. »Auch wenn du als freier Mitarbeiter keinen Anspruch darauf hast.«

»Hast du jetzt Lust auf Fisch?«

Porky schüttelte den Kopf. »Ein Bier würde ich aber noch trinken.«

Die dritte Ebene

Подняться наверх