Читать книгу Die dritte Ebene - Ulrich Hefner - Страница 35
9 Camp Springs, Maryland
ОглавлениеWayne Chang war noch am Abend, nachdem er Jennifer Oldham zum Flugplatz begleitet hatte, in das Weather House nach Camp Springs zurückgekehrt. Er wollte unbedingt wissen, was es mit dem vermissten Flugzeug der NOAA in der Karibik auf sich hatte. Mit dem Aufzug fuhr er in den sechsten Stock. In den Gängen schlug ihm hektische Betriebsamkeit aus den Büros entgegen. Er stürmte in die Überwachungszentrale, die einem Kontrollzentrum der NASA ähnelte. Unzählige Konsolen mit Computerbildschirmen darauf und dahinter jeweils ein Mitarbeiter, der mit großen Augen auf seinen Monitor starrte. Schneider saß vor einer Großbildleinwand, auf der ein riesiger Wolkenwirbel abgebildet war. Die Umrisse der Baja California waren zu erkennen. Er blickte erstaunt auf, als Wayne sich neben ihn stellte.
»Ich dachte, du kommst erst morgen«, sagte er.
»Ich habe gehört, dass ein neuer Hurrikan im Anmarsch ist. Außerdem soll ein Flugzeug vermisst werden. Was geht da draußen vor?«
Schneider schaltete auf eine Übersichtskarte. »Ein Sturm, sagst du? Da sind zwei ausgewachsene Wirbelstürme vor unserer Küste. Cäsar hat sich in der Karibik in der Nähe der Kaimaninseln eingenistet, und Dave greift uns vom Pazifik aus an. Hinzu kommt noch eine riesige Gewitterfront oberhalb der Baffinbai, die auf die kanadische Küste zutreibt.«
»Was soll das heißen – die Stürme greifen uns an?«
»Wie würdest du das nennen?«, antwortete Schneider. »Der April war zu trocken, der Mai nahezu sommerlich heiß. Die Meeresströmung hat sich umgekehrt, und Hurrikans entstehen außerhalb der Saison. Wann hat es das schon mal gegeben? Das sind doch eindeutige Zeichen. Da oben in der Atmosphäre geht etwas vor, das uns Rätsel aufgibt.«
Wayne schüttelte den Kopf. »Wir sind Wissenschaftler, aber du klingst wie eine hysterische Waschfrau.«
»Seit einem Jahr arbeiten wir daran, unsere Überwachungsraster zu verfeinern, um die Vorhersagen zu verbessern. Wir reißen uns den Arsch auf und schlagen uns die Nächte um die Ohren. Und wofür das alles?«
»Jetzt komm mal wieder runter«, versuchte Wayne seinen Kollegen zu beruhigen. »Wir können nur das Wetter beobachten, steuern können wir es nicht, und das ist auch gut so.«
»Wir verändern das Wetter schon lange«, erwiderte Schneider trocken. »Wir tun es nicht mit Apparaten oder Fernsteuerungen, sondern durch unsere Lebensweise. Durch die Industrie und den Straßenverkehr mit ihren Abgasen, durch die Einleitung von Kühlwasser in unsere Flüsse, Seen oder Ozeane, durch die Abholzung von Regenwäldern. Wir verändern unser Klima, und das Gefährliche daran ist, es scheint niemanden zu interessieren. Wir sägen längst schon an dem Ast, auf dem wir sitzen. Und ich glaube, es dauert nicht mehr lange, bis wir von unserem hohen Baum fallen und uns das Genick brechen. Dieser Planet braucht uns Menschen nicht, aber wir, wir sind auf ihn angewiesen.«
Wayne setzte sich auf die Schreibtischkante. »Mit dieser Rede hättest du auf dem Symposium in New York einen starken Eindruck hinterlassen. Was ist los mit dir?«
Schneider zuckte mit den Schultern und seufzte. Er schaltete zurück auf das erste Bild. »Der Pilot der vermissten Maschine ist Coldmann.«
Wayne sog scharf die Luft ein. Schneider und Coldmann waren langjährige Freunde gewesen. Sie hatten gemeinsam bei der Airforce im ersten Golfkrieg Einsätze geflogen. Später war Schneider zum Wetterdienst gewechselt, und er selbst hatte Coldmann einen Job als Pilot bei der NOAA verschafft.
»Tut mir leid«, sagte Wayne Chang mit brüchiger Stimme. »Das wusste ich nicht.«
Ein paar Minuten später setzte sich Wayne in seinem Büro ans Telefon und wählte die Nummer von Professor Cliff Sebastian, einem ehemaligen Studienkollegen, der bei der National Oceanic and Atmospheric Administration in Boulder, Colorado, einen leitenden Posten innehatte. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht, in Boulder war es gerade neun Uhr. Unter der Privatnummer seines Freundes meldete sich niemand. Er wählte die Nummer seines Büros. Es dauerte eine Weile, bis er durchgestellt wurde.
»Hallo, Wayne«, meldete sich Cliff. »Es tut mir leid, ich habe nicht viel Zeit, hier ist gerade die Hölle los.«
»Das Flugzeug?«
»Zum letzten Mal hatten wir in der Nähe der Kaimaninseln Funkkontakt«, schilderte Sebastian. »Sie wollten in den vorderen Quadranten des Sturms eindringen, seither ist der Kontakt abgebrochen.«
»Sind Suchmannschaften unterwegs?«
»Wo denkst du hin, dort draußen tobt ein Hurrikan der Kategorie F4. Und er hat noch lange nicht seine volle Intensität erreicht. Wir haben ein Startverbot für alle Maschinen verhängt. Es ist zu gefährlich. Auch die Küstenwache hat ihre Suche bis auf Weiteres eingestellt. Aus Norfolk ist eine Flotte unterwegs, aber es wird eine Woche dauern, bis sie im Suchgebiet eintreffen, wenn sie nicht vorher wegen des Sturms abdrehen müssen.«
»Wer war an Bord, kenne ich jemanden?«
Wayne hörte das leise Seufzen seines Freundes. »Lois und Bisky von der NHC. Coldmann ist mit Walters geflogen. Wir haben keine Hoffnung mehr.«
»Eine Katastrophe«, stimmte Wayne zu. »Ich möchte bloß wissen, was passiert ist. Coldmann ist ein alter Hase, der schon bei der Airforce Erfahrungen als Tornadobeobachter sammelte.«
»Tja, aber so etwas ist immer möglich«, erwiderte Sebastian. »Die Jungs kennen das Risiko.«
Wayne wusste, was Cliff Sebastian damit meinte. Bis vor drei Jahren hatte er selbst im Auftrag der NOAA an solchen Flügen teilgenommen, um möglichst viele Daten über das Innere der tropischen Zyklone zu sammeln. Vor jedem Flug war er darauf hingewiesen worden, welche Gefahren hinter dem dichten Wolkenschirm auf ihn lauerten. Allzu schnell wurde es zur Routine, zu etwas Alltäglichem, bis … bis solch ein Zwischenfall wie draußen vor den Kaimaninseln einem ins Gedächtnis rief, wie riskant das Unterfangen war. Seit sich Wayne damals dafür entschieden hatte, der Hurrikanforschung den Rücken zu kehren, und zum Wetterdienst nach Camp Springs wechselte, waren für ihn die Flüge in Vergessenheit geraten. Beim National Weather Service hatte er die Aufgabe übernommen, den Ausbau und die Modernisierung der Wetterstationen auf dem Kontinent und in der Karibik voranzutreiben und das Informationsnetz enger zu stricken, damit bessere und genauere Voraussagen möglich waren. Ein Gebiet, für das er aufgrund des Studiums der Geodäsie prädestiniert war. In den ersten Monaten hatte er die aktive Forschungsarbeit an den Sturmfronten noch vermisst. Doch dann hatte ihn seine neue Tätigkeit vollkommen in Beschlag genommen. Natürlich gab es immer wieder Berührungspunkte zwischen seiner Arbeit und der NOAA oder der Hurrikanjäger des NHC in Miami, dennoch blieben Außeneinsätze eine Seltenheit. Und ehrlich gesagt, vermisste er sie auch nicht mehr.
»Habt ihr schon eine Ahnung, was diese frühen Hurrikans verursacht?«, fragte Wayne.
»Offenbar haben wir ein ungewöhnliches El-Niño-Phänomen«, sagte Sebastian. »Doch eine Erklärung haben wir dafür nicht. Es kam wie aus heiterem Himmel. Wir sind gerade dabei, den Hintergrund zu erforschen, aber bislang kennen wir nur die Symptome, die Ursache leider noch nicht.«
»Wir haben einen ungewöhnlich trockenen April erlebt, und der Mai war um 17 Prozent zu warm.«
»Ich kenne die Statistik«, sagte Sebastian. »Wir sind zum selben Ergebnis gekommen. Aber wir haben die Aufzeichnungen der letzten hundert Jahre herangezogen und festgestellt, dass es solche Jahre bereits gab, in denen derartige Ausreißer registriert wurden. 1904, 1934 und 1946 wurden ähnliche Werte aufgezeichnet. Übrigens, wenn wir unseren Archiven trauen dürfen, wurde im Jahr 1722 schon einmal von einem Hurrikan Anfang Mai berichtet.«
»Glaube mir, das beruhigt mich nicht im Geringsten«, entgegnete Wayne.
»Mich ehrlich gesagt auch nicht. Es tut mir leid, ich muss jetzt Schluss machen. Es gibt noch ein weiteres Problem, um das wir uns kümmern müssen.«
»Ein Problem?«
Sebastian zögerte.
»Was ist es?«
»Bitte behalte es für dich, es ist noch nichts Offizielles.«
»Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst.«
»Vor zweieinhalb Stunden haben wir einen Notruf von der Portland erhalten. Sie kreuzt vor der mexikanischen Küste. Offenbar ist ein Feuer an Bord ausgebrochen, der Notruf brach ab. Seither ist Funkstille.«
»Vor der mexikanischen Küste?«, fragte Wayne. »Dort wütet doch der zweite Zyklon.«
»Das ist ja das Problem«, gestand Sebastian zögerlich. »Nach letzter Positionsmeldung der Portland hat der Sturm in weniger als einer Stunde ihren Standort erreicht.«
»O Gott, was habt ihr unternommen?«
»Was sollen wir unternehmen?«, entgegnete Sebastian. »Wir sitzen hier und beten für sie. Kein Schlepper der Welt kann sie noch vor Eintreffen der Sturmfront erreichen.«
»Und Flugzeuge?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit. Wir sind alles durchgegangen und haben uns die Köpfe heißgeredet, oder warum glaubst du, bin ich noch hier? Ein U-Boot der Marine ist auf dem Weg, um die Besatzung zu evakuieren. Ich hoffe nur, dass es die Portland noch rechtzeitig erreicht.«
»Wie viele sind an Bord?«
»Beinahe einhundert Leute.«