Читать книгу Die dritte Ebene - Ulrich Hefner - Страница 36

Hotel Orion, Venedig

Оглавление

Brian Saint-Claire saß gegenüber dem Hotel in der Edy-Bar und schlürfte einen Martini. Gina hatte neben ihm Platz genommen und einen Espresso bestellt. Sie trug ein rotes Top und darüber eine schlichte weiße Bluse. Ihr pechschwarzes Haar hatte sie streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden. Mit der silbernen Brille auf der Nase wirkte sie wie Miss Moneypenny aus den älteren James-Bond-Filmen. Neben Englisch beherrschte sie fließend Deutsch, Französisch und Italienisch. Außerdem wusste sie mit ihren gut vierzig Jahren, wie man mit Menschen umging, welchen Ton man anschlagen musste, um etwas in Erfahrung zu bringen. Und sie hatte eine weitere Gabe: Dinge zu erkennen, die normalen Menschen verborgen blieben. Dinge, die für die Schulwissenschaften nicht existent waren, weil sie nicht objektiv belegbar waren. Kurz und gut, Gina war ein Medium; sie hatte ein Gespür für die Präsenz psychokinetischer Energiefelder und die beinahe übersinnliche Fähigkeit, Lüge und Wahrheit mit der Präzision eines wissenschaftlichen Messgerätes zu unterscheiden. Ihre Trefferquote war kaum zu überbieten. Brian war sehr froh darüber, dass sie mit nach Europa gereist war. Mit Leon verhielt es sich anders. Leon war ein Freak, ein Kerl, der oft über das Ziel hinausschoss und Schwierigkeiten magisch anzog. Brian hatte sich vorgenommen, ihn an der kurzen Leine zu halten. Schließlich war dieser Auftrag höchst sensibel und bedurfte einer gehörigen Portion Einfühlungsvermögens.

»Le lacrime della madre di Gesù«, zitierte Gina die Überschrift des Zeitungsartikels. Zwei Kinder hatten in der gerade mal dreißig Schritte entfernten Chiesa di San Zulian eine Marienerscheinung. Es handelte sich hierbei um einen zwölfjährigen Jungen und seine zehnjährige Schwester, denen in den Abendstunden die Mutter Maria vor dem Hauptaltar erschienen war. Sie prophezeite den Geschwistern, dass sich die Winde erheben und die Stürme über die Lande herfallen würden und eine neuerliche Sintflut die Sünde von der Welt waschen würde. Die Erscheinung habe knapp eine Minute angedauert, dann habe sich die Muttergottes wieder entmaterialisiert. Als Zeichen der Wahrhaftigkeit ihrer Worte seien Tränen aus den Augen des Marienbildnisses über dem Altar geflossen. Und die Tränen seien rot wie Blut gewesen.

Brian hatte den Artikel und den Bericht der Redaktion mittlerweile mehrfach gelesen. Den Recherchen zufolge lebten sowohl die Kinder als auch der Priester der Gemeinde, Padre Francesco, in unmittelbarer Nähe der Kirche.

»Also, wenn ich das lese, dann fährt mir ein kalter Schauer über den Rücken«, sagte Gina und reichte Brian den Artikel.

»Danke, ich kenne ihn auswendig.«

»Hast du die Nachrichten gehört?«, fragte Gina, nachdem der Kellner ihren Espresso serviert hatte. Brian schüttelte den Kopf.

»Offenbar treiben wieder zwei Hurrikans auf unsere Küste zu. Dabei ist noch keine Sturmsaison. Ich habe sofort an die Prophezeiung Marias gedacht, als ich das hörte.«

Brian runzelte die Stirn. »Du meinst, die Erscheinung könnte tatsächlich stattgefunden haben?«

»Es ist immerhin möglich.«

Brian lächelte. »Siehst du einen Zusammenhang?«

Gina nippte an ihrem Espresso. »Die Meteorologen und Klimatologen sind ratlos. Es ist zumindest nicht normal. Und alles, was außerhalb der Norm liegt, ist für uns interessant.«

»Wo bleibt Leon?« Brian schaute auf die Uhr. Es war bereits zwanzig nach fünf.

»Ach, du kennst ihn doch. Er braucht erst Anlauf.«

»Er und Anlauf, dass ich nicht lache. Manchmal braucht er eher jemanden, der ihn bremst, bevor er über das Ziel hinausschießt.«

»Du magst ihn nicht sonderlich?«

»Ich …«

»Oh, schlechte Stimmung«, ertönte die Stimme Leons. Brian fuhr herum. Leon stand hinter ihm und grinste breit. In seinem dunklen Anzug sah er aus wie der Manager eines Beerdigungsinstituts. Seine Piercings hatte er abgelegt.

»Wo kommst du her?«, fragte Brian.

Leon lehnte sich locker an die Wand und wies mit dem Daumen in Richtung der Kirche. »Ich war drinnen und hab mich etwas umgesehen. Sehr interessant, der reinste Klerikerladen. Postkarten, Kerzen, Bücher, Heiligenbilder und kleine Kreuze aus Holz mit Lederband. Eine grauhaarige Eminenz beäugt dich misstrauischer als die Türsteher am Sunset Strip. Seine griesgrämige Miene erhellt sich nur, wenn er Geld klimpern hört.«

»Verdammt, ich sagte doch, keine Alleingänge!«, brauste Brian auf.

»Was heißt Alleingänge«, erwiderte Leon ruhig. »Ich dachte, ich soll mich im Hintergrund halten. Und das habe ich getan. Ich habe mich nur ein wenig umgeschaut und erste Messungen gemacht. Bislang konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen. Bis auf die Tränen der Muttergottes, die sind tatsächlich noch leicht zu erkennen. Zumindest ist eine dunkle Spur zu sehen, die von den Augen herabläuft.«

»Sonst noch etwas?«

»Der Graue ist so etwas wie eine Aufsicht und scheint während der Öffnungszeiten ständig da zu sein. Um sechs wird geschlossen. Ich frage mich nämlich, ob der ergraute Sicherheitsmann seine Kirche auch bloß eine Minute aus den Augen lässt. Also werde ich mich hierher setzen, auf den Feierabend warten und beobachten, was dort drüben nach Torschluss vor sich geht. Ihr könnt euch ja inzwischen die Kirche anschauen.«

»Das ist eine gute Idee«, beschloss Gina und erhob sich.

»Nicht so schnell«, sagte Brian. »Wir sollten beratschlagen, wie wir weiter vorgehen.«

»Ist meine Idee dem Boss wieder einmal nicht gut genug?«, seufzte Leon.

Brian warf ihm einen genervten Blick zu. »Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Wir stehen vor einer schwierigen Aufgabe, und ich will nicht vorzeitig Aufmerksamkeit auf uns lenken. Wir müssen herausfinden, wie wir an die Kids herankommen und uns ungestört mit ihnen unterhalten können. Bis zum offiziellen Termin mit dem Priester ist noch ein wenig Zeit. Diese Zeit sollten wir nutzen.«

»Das ist doch ganz einfach«, entgegnete Gina. »Ich übernehme die Kinder und du den Priester. Leon soll inzwischen ein paar Untersuchungen machen. Das Material des Altars. Substanz der Farbe, das Übliche eben.«

»Da brauche ich aber jemanden, der mir den Aufpasser vom Leibe hält«, wandte Leon ein.

»Du bist doch sonst immer kreativ, also lass dir was einfallen.« Gina schmunzelte.

Brian erhob sich. »Gut, abgemacht. Wir gehen jetzt rüber, und du behältst den Eingang im Auge. Übrigens, ich hatte einen Martini und Gina einen Espresso.«

Leon ließ sich auf den Stuhl fallen, während Brian und Gina auf die Kirche zuschlenderten und langsam in der Menschenmenge verschwanden, die sich durch die enge Gasse schob.

Die dritte Ebene

Подняться наверх