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Erst der Black-out. Und dann der Sturz! Das ist die Reihenfolge, die total verrückte Reihenfolge. Nicht andersrum. Kann nur so gewesen sein.

Absturz, Katastrophe, und da muss dein Schädel sofort den schwarzen Vorhang zugezogen haben. Und zwar rückwirkend. Hat auch noch die Sekunden vor dem Absturz zugezogen. Denn du kannst dich beim besten Willen nicht mehr dran erinnern, wie du ins Straucheln gekommen bist, wie du die Eiswand, wenigstens ein Stück von der Eiswand an dir hast vorbeifliegen sehn. Zeitbruch im Kopf, stundenlang. Du musst, keine Ahnung, du musst seit Stunden hier hängen, zwischen Fels und Eis. Obwohl aber – verflucht, komisch das – obwohl der Arm, der dich hält, an dem du hängst, mit deinem ganzen Gewicht, obwohl der Arm schmerzt, als hätte er dich schon eine Ewigkeit halten müssen, ist die Sonne kein noch so winziges Stück weitergekommen. Steht immer noch genau an dem Fleck, wo du sie zuletzt gesehn hast: lugt so grade eben übern Snæfellgipfel und bohrt sich durch dessen Nebel-Halskrause. Und die Wolken, die Wolkenbilder, obwohl die auf Island bekanntlich immer rasend schnell wechseln, sind noch genau so, wie sie sich bei deinem letzten Blick eingebrannt haben in die Schädeldecke. Keinen Millimeter verändert. Kann also nur ein paar Minuten, höchstens ein paar Minuten ... obwohl der Arm ... wenn bloß der Arm nicht ... dass der Arm, die Hand so höllisch ... das schreit alles wie am Spieß.

Plötzlich ... wie schnell das geht! ... Von jetzt auf gleich, zack, war diese Schwärze über die gleißende Weiße des Neuschnees geworfen.

Der Rest ist Rekonstruktion: Während du also nicht ohne Stolz beobachtet hast, wie oben deine Tochter sich in die Eiswand krallte, absolut fachmännisch mit dem Pickel den Ansatz für die Eisschraube freihackte – da sahst du, siehst du, dass du überhaupt nichts mehr siehst. Außer eben dieses Schwarz. Du musst im freien Fall die Eiswand runtergeschossen und bei der Gelegenheit irgendwie irgendwo mit dem Kinn aufgeschlagen sein. Die Zähne gegeneinandergeschlagen, dass dein Kopf nicht mehr wusste, wo unten, wo oben, wo er mit dem ganzen Dröhnen hin soll. Und die Unterlippe zerbissen dabei, dass sie runterhängt wie ’n rot triefender Waschlappen.

Wahrscheinlich ist diese ganze Eisschuppe da aus der Wand gebrochen, als du mit dem Pickel reingehämmert hast, um Halt zu ... Eben nicht! Du hast eben keinen Halt gefunden. Im Gegenteil. Ein ordentliches Stück von der Eiswand muss dir entgegengekommen sein. Noch schneller runter als du. Und ohne irgendwas zu sehn, im Zustand, tatsächlich, im Zustand geistiger Umnachtung und gleichzeitig absoluter Geistesgegenwart, ohne dich jedenfalls dran erinnern zu können, musst du eine von deinen Expressschlingen über den letzten Haken geworfen ... und der hält, was für ’n Wahnsinn, der hält! Und du musst im gleichen Atemzug zugepackt haben. Mit einer, mit dieser einen Hand, die jetzt so verflucht, so verflucht ... Wird wohl, muss wohl. Aber wissen, wissen tust du’s nicht.

Was ist in Wahrheit geschehn? Was hast du gesehn in dieser winzigen, dieser rasenden Zwischenzeit? Welcher Horror, von dem du nichts mehr weißt, haust unter deinem Schädeldach und dröhnt so durchdringend? Und wo ist das geblieben, was du mitten im Sturz dachtest? Der bittre Geschmack von geschmolzenem Eis auf der Zunge. Wo ist, was du hörtest, rochst, spürtest? In welcher Dunkelkammer? – Zutritt verboten.

Du bist älter geworden.

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