Читать книгу Einstürzende Gedankengänge - Ulrich Land - Страница 7

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Da sticht er sofort wieder in die Augen, der Blick auf diese Fels-, Eis- und Aschewüste. Krallt sich fest hinter der Stirn. Während ihr, die Mahnemannsche, der halbe Tross der Spurensicherung und du, während ihr mehr schlecht als recht verrichteter Dinge die Kellertreppe wieder raufsteigt. Im Eingangsbereich des Treppenhauses angekommen, verfliegt sämtlicher Tatendrang wieder, der dich die letzten ein, zwei Stunden hat überstehen lassen, der sich völlig automatisch abspulte, sämtliche Kreuz- und Quergedanken ausschaltete, dich perfekt funktionieren ließ – alles weg. Nur noch die eine Frage im Kopf: Und was jetzt? Was jetzt als Nächstes? Einer wie der andre blicken die Kollegen dich ratlos an. Schließlich bist du der Boss hier. Aber du, Mann, du weißt doch am allerwenigsten, wo’s langgeht. Sämtliche Gedanken wie festgefroren, angefroren von innen an der Schädeldecke. Eisern eisig. Stillstand.

Genau in dem Augenblick, als die bleierne Ratlosigkeit unerträglich wird, hörst du plötzlich, wie mit einem Schlüssel im Schloss der Haustür rumgestochert wird. Ihr steht stumm wie die Ölgötzen da und starrt die Frau an, die jetzt den Hausflur betritt, euch mindestens ebenso konsterniert anstarrt und mit der geistesabwesenden Mechanik einer Gliederpuppe ihren Briefkasten öffnet, dessen Klappe unter herzerweichendem Kreischen nachgibt.

»Was ist denn hier los?«, nörgelt die junge Frau und meint damit nicht etwa die vier, fünf Kuverts und die farblose Broschüre der Arbeitsagentur, die ihr durch die aufgeklappte Briefkastentür entgegenpurzeln.

»Kerstin Engelsberg?« Aha, eine Stimme hast du also noch. Wenigstens das.

»Und mit wem hab ich das Vergnügen?«, kontert sie, während sie auf den Knien rutschend ihre Briefkastenschätze aufklaubt.

»Hauptkommissar Dollinger, Trierer Mordkommission.« Und wieder, jedes Mal aufs Neue bist du überrascht über die Wirkung dieser Visitenkarte.

»Mordkommission?«

»Und das ist meine Kollegin Barbara Mahnemann.«

Worauf die sofort den Staffelstab übernimmt: »Sie sind die Mutter des fünfjährigen Johannes?«

»Ich, ähm ...«

»Ja?«, gehst du in die Lücke, um der Frau die Luft für irgendwelche Ausflüchte zu nehmen.

»Ich such ihn wie verrückt, die ganze Zeit.« Man kann zusehn, wie sie die bislang in Anschlag gebrachte Unnahbarkeit tauscht gegen eine deutlich, ausgesprochen deutlich sichtbare Betroffenheit. »Haben Sie was von ihm gehört? Ist er ... er ist doch nicht ... doch nicht etwa ...«

»Doch, Frau Engelsberg, ich muss Ihnen leider mitteilen«, stichst du erbarmungslos in die bereitwillig hingehaltene Wunde – wobei du ihr nicht mal die wirklich abnimmst, stinkt doch gen Himmel alles, da ist verdammt was faul. »Frau Engelsberg, wir haben Ihren Sohn tot im Keller gefunden.«

»Nachbarn war der Geruch aufgefallen«, assistiert die Mahnemannsche.

»Das ähm, nein nicht, tot, mein kleiner, mein winziger ...! Im Keller, das ist doch nicht zu glauben! Da wär ich als Allerletztes drauf gekommen. War ich schon ewig nicht mehr, im Keller.«

»Aber irgendwer muss ihn da unten versorgt haben. Mehr schlecht als recht. Aber immerhin«, baut die Mahnemann ihr noch eine goldene Brücke, die du natürlich sofort wieder einreißt: »Und schließlich dann irgendwann nicht mal mehr das! Jedenfalls nicht so, wie ein fieberkrankes Kind das braucht.«

»Fieber? Wieso denn Fieber?«, und endlich hält diese Kerstin Engelsberg den Zeitpunkt für gekommen, in Tränen auszubrechen. »Er ist also elend zugrunde gegangen?«, resümiert sie stammelnd und schluchzt noch einmal herzzerreißend.

Aber du bist noch nicht zufrieden, willst noch mehr aus dieser Situation rausholen. Du weißt genau, so waidwund kriegst du diese – ja, soll man sagen: Mutter? – nie wieder vor die Flinte. »Kann es sein, Frau Engelsberg, dass Sie sich mit Ihrem Sohn überfordert fühlten? So jung, wie Sie sind.«

»Was soll denn das heißen?« Augenblicklich ist das Gejammer verstummt, und sie blitzt dich mit nadelspitzem Blick an. Ein Blick, mit dem sie wahrscheinlich jeden bedient, der sich ihr von Amts wegen auf weniger als zehn Meter nähert. Hartz-IV-Sozialarbeiter, Jugendamtsmenschen, Familienberatungsstelle – du musst unbedingt rauskriegen, wer sich schon alles in den Vorgang Engelsberg eingeklinkt hatte. Aber das kommt später. Jetzt zückst du erst mal die Handschellen und ...

»Moment mal!«

Es gibt Momente, da könntest du deine Kollegin so was von an die Wand quacken! Wieso jetzt »Moment mal«? Die Mahnemannsche nimmt dich zur Seite und lispelt dir irgendwas von wegen beileibe nicht ausreichendem Anfangsverdacht ins Ohr. Bloß weil die Engelsberg die Mutter sei, heiße das ja noch lange nicht ... reiche auf alle Fälle nicht, sie mir nichts, dir nichts in U-Haft zu stecken ... sei doch zum jetzigen Zeitpunkt noch völlig spekulativ, dass die Frau am Hungertod des Kleinen beteiligt sein könnte.

»Beteiligt, was heißt denn hier beteiligt?!«, willst du grade lospoltern, als die Mahnefrau dir auf den Fuß tritt und den mahnenden Zeigefinger zu den Lippen führt. Ja, ist ja schon gut, du flüsterst ja schon. Aber das heißt noch lange nicht ... obwohl, doch, sieht verdammt so aus, als wär’ dein Widerstand schon gebrochen. Du merkst, wie von deinen Einsichten und Argumenten nur noch Fransen übrig bleiben, nichts als blinder Zorn.

Du begibst dich also zähneknirschend zurück in die Arena und brummst dieser Frau zu, die dreist genug ist, sich Mutter zu nennen: »Ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten. Bitte verlassen Sie in den nächsten Tagen auf keinen Fall die Stadt!«

»Wieso, warum?«, geht die Engelsberg hoch. Und im gleichen Moment bereust du wie der Bischof von Trier seine schlimmste Sünde, dass du da grade so butterweich eingeknickt bist.

»Nun beruhigen Sie sich erst mal«, springt die Mahnemannsche in die Alleinerziehenden-Bresche, »sollen wir Ihnen fürs Erste einen Kollegen hierlassen?«

»Oder eine Kollegin?«, schwenkst du ein, »Frau Mahnemann könnte Ihnen sicher ...«

»Nein nein, geht schon.«

Sie dreht sich auf dem Absatz rum und stiefelt die Treppe hoch, nicht ohne unterwegs noch mal den einen oder andern Schluchzer abzusondern. Du glaubst ihrem Geheule kein Wort. Um etwas wenigstens einigermaßen Plausibles zu tun, gibst du der Mahnemann zu verstehn, dass dich hier nichts mehr, aber auch absolut überhaupt gar nichts mehr hält. Du legst die Hände auf die Schultern deiner Kollegin und schiebst sie mit einem Druck, der keinen Widerspruch duldet, nach draußen.

»Mist«, sagst du, was Geistreicheres fällt dir nicht ein, »ein Mist, ein verdammter. Können Sie mir vielleicht mal sagen, wieso ich Ihnen auf einmal so lammfromm nachgebe?!«

Von der Mahnemannschen kommt kein Kommentar. Aber damit war ja nun auch nicht zu rechnen. Sie scheint das alles weniger eindeutig zu sehn; hat eben nicht deinen geschärften, erfahrungsgeschulten Blick. – Du Erfahrungen? Mit weggesperrten Kindern? Was für Erfahrungen? Wo und wann denn? Will dir partout nicht einfallen. Komisch, wie kommst du darauf, du hättest Erfahrungen mit so was?

»Tja, Sheriff, und was wird jetzt aus unserm Essen heute Abend?«

»Ist mir im Moment nicht nach.«

»Im Moment. Im Moment mir auch nicht. Aber bis heute Abend ist ja noch einiges Wasser die Mosel hinabge...«

»Ist mir unbegreiflich«, weil’s dir einfach unbegreiflich ist, beim besten Willen unbegreiflich, »wie Sie, grade als Frau, ich meine – keine Ahnung, versteh ich nicht, wie Sie jetzt ans Essen denken können.«

»Heh, Moment mal, Sie sind doch sonst auch nicht grade zartbesaitet. Im Übrigen ist das ja nun wahrlich nicht unser erster ungemütlicher Fall, Herr Dollinger. Erinnern Sie sich noch an das ›Allerweltsmotto‹, wie Sie’s nannten, das ich mir, als ich als Greenhorn in Ihre Dienste trat, in solchen Fällen immer zuflüstern sollte: Das Leben geht weiter!«

»Na ja, vielleicht ... vielleicht haben Sie ja recht. Außerdem – ich hab immerhin Sauerbraten in der Röhre. Vom Eifeler Hirschkalb, ich sag’s Ihnen! Rezept von meiner Großmutter, Gott hab sie selig.«

Du wirfst dich in deine Blechpocke, drückst erst mal eine andere CD in den Schlitz, Volume bis zum Anschlag, bevor du dem Tier unter der Motorhaube Zunder gibst. Es gibt Tage, da sind Triers Straßen einfach zu klein, zu eckig, zu gewunden. Du hebst ab mit den Flügeln dieser messerscharfen Stimme auf grobgehauenen Klängen: »Halber Me-ensch. Halber Me-ensch, geh weiter, in jede Richtung. Halber Me-ensch!« Wieso eigentlich halber? Und die zweite Hälfte, was ist mit der? Wo ist die zweite Hälfte hin?

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Einstürzende Gedankengänge

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