Читать книгу Alles für die Katz - Lippe 1358 - Ulrich Pflug - Страница 12
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ОглавлениеWie schon berichtet, war an diesem Morgen nur wenig Betrieb auf dem Detmolder Weg. Da das Gelände in Richtung Süden sehr eben war, konnten wir die Straße eine ganze Strecke weit übersehen. Bis auf ein Pferdegespann, welches uns in großer Entfernung von Detmold aus entgegen kam, war niemand zu sehen. Günstige Umstände, sich zu Reinald in die Büsche zu schlagen. – Nur wo? Nach meinem Dafürhalten musste er eigentlich genau dort stecken, wo der von Fritz beschriebene Pfad ...
Ein scharfer Pfiff ertönte vom Waldrand und riss mich aus meinen Überlegungen. Als ich in die Richtung blickte, aus welcher er erklungen war, sah ich für einen kurzen Moment eine Gestalt in brauner Kutte zwischen den Büschen auftauchen, die uns zuwinkte. Jetzt entdeckte ich auch den schmalen Fußweg, der durch hohes Gras
von der Straße in den Wald führte.
„Ich glaube, hier geht‘s lang.“
Wir gingen das kurze Stück bis zu Waldrand, wo wir von Reinald erwartet wurden. Der Mönch hatte seinen Handwagen in das Gebüsch gezogen und sah uns an einen Baum gelehnt entgegen.
„Da seid ihr ja endlich.“ empfing er uns mit leichtem Vorwurf in der Stimme. „Ich hatte schon Sorge, weil es so lange dauerte.“
„Beruhigt Euch, Bruder Reinald.“
Silvia berichtete ihm mit kurzen Worten, was wir bei Fritz erlebt hatten. Als sie von dem Bogenschießen erzählte, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dies machte jedoch gleich wieder tiefen Sorgenfalten Platz, als sie die Soldaten erwähnte.
„Dann dürfen wir keine Zeit verlieren.“ Hastig griff Reinald nach der Deichsel seines Karrens. „Lasst uns aufbrechen. Wir müssen ... .“
„So beruhigt Euch doch“, unterbrach ich den Mönch, wobei ich ihn an den Schultern fasste. „Den Bütteln haben wir erzählt, dass Ihr heute nach Ufflon wollt. In die Richtung wird also ihre Suche gehen. Es gibt für die Schergen keinen Grund, Euch hier zu suchen.“
Reinald sah mich verwirrt an, dann nickte er.
„Verzeiht meine Aufregung, aber ich habe wirklich Angst“, gestand er. „Doch es wird sein, wie Ihr sagt. Man wird mich hier nicht suchen.“
„Wie kommen wir denn nun zum Hof zu Huxoll?“ wollte Silvia wissen.
„Indem wir diesem Pfade folgen. Er bringt uns zum Hof zu Wiembeck. Von dort folgen wir einem Bachlauf, der uns in die Nähe von Huxoll bringt.“
„Dann führt uns auf dem rechten Wege, Bruder Reinald. Wir übernehmen Euren Karren.“
Silvia nahm ihre Tasche von der Schulter und warf sie oben auf den Handwagen. Zusammen ergriffen wir die Deichsel und brachen unter Reinalds Führung auf.
Der Wald, durch den wir gingen, war ein dichter Mischwald mit viel Unterholz, so wie ich ihn nur aus Naturschutzgebieten kannte. Ganz anders also als die eintönigen Nutzwälder des zwanzigsten Jahrhunderts. Unser Fortkommen gestaltete sich daher auch schwieriger, als ich erwartet hatte. Hier im Wald hielt sich noch die Feuchtigkeit vom Regen der vergangenen Nacht. Der Pfad war schmierig und stellenweise tief morastig. An den schlimmsten Stellen konnten wir zwar in den Wald ausweichen, aber auch dort war ein Weiterkommen, bedingt durch das dichte Unterholz, recht problematisch.
Gegen Mittag, es war nun auch im Wald spürbar wärmer geworden, hatten wir Wiembeck fast ereicht. Der Wald war lichter geworden und das Unterholz geradezu spärlich: Deutliche Anzeichen dafür, dass wir uns in der Nähe menschlicher Behausungen befanden, deren Bewohner sich hier mit Bau- und Brennholz versorgten. Bald darauf sahen wir auch die ersten Felder, durch die sich unser Pfad schlängelte.
Reinald war stehengeblieben.
„Ich glaube, jetzt sollten wir den Weg verlassen“, erklärte er uns. „Da wir die Begegnung mit Menschen vermeiden wollen, müssen wir nun durch den Wald, bis wir auf einen Bach treffen, der Passade genannt wird.“
„Ihr seid der Ortskundige“, entgegnete ich. „Wir folgen Euch, wohin immer Ihr uns führt.“
Wir verließen den Pfad und zogen in östlicher Richtung quer durch den Wald. Da der Boden durch das ‚Holzmachen‘ der Bewohner Wiembecks ziemlich aufgeräumt war, kamen wir dennoch recht zügig voran. Wesentlich langsamer als auf dem Pfad waren wir jedenfalls nicht. Der Boden, über den wir gingen, sah zeitweilig so aus, als habe es gerade frisch geschneit, so dicht standen die Anemonen. Ungerührt von dieser Naturschönheit stapfte der Mönch über den Blütenteppich und wir folgten ihm.
Irgendwann wurde das Gelände abschüssig und schließlich morastig. Wir hatten das Tal der Passade erreicht. Die Senke war ein einziger Sumpf. Erlen, Weiden und Gebüsch wuchsen dicht an dicht und verbargen den eigentlichen Bachlauf. Am Fuße des Hügels, den wir herabgekommen waren, dort, wo der Boden noch fest war, zogen wir in dem Tal nach Süden, bis es plötzlich breiter wurde. Ab hier schien unser Weg richtig beschwerlich zu werden.
„Hier kommen wir mit dem Karren nicht weiter“, stellte ich fest. „Wenn wir da hindurch wollen, müsst Ihr Euch wohl von Eurer Habe trennen, Reinald.“
Der Mönch sah mich bekümmert an.
„Meint Ihr wirklich? Das ist alles, was ich besitze.“
Silvia hatte die Deichsel des Handwagens losgelassen und war ein paar Schritte in den Sumpf gegangen.
„Komm, Roger, lass uns schauen, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, auf die andere Seite zu gelangen!“ rief sie mir zu.
Gemeinsam erkundeten wir das Gelände. Einige halbwegs feste, mit Schlüsselblumen bewachsene Inseln im Sumpf ausnutzend, standen wir bereits nach etwa hundert Metern vor dem hier zwar recht breiten, aber nur knöcheltiefen Bach. Am gegenüberliegenden Ufer stieg das Gelände wieder an und war fest und trocken.
„Siehste! Hier kommen wir `rüber.“ Silvia grinste mich an. „Wusste ich doch!“
„Jo“, brummte ich, „und Reinald kann seinen Klüngel behalten.“
Wir gingen zurück zu dem Mönch, der uns voller Erwartung entgegen sah.
„Habt ihr einen Weg gefunden?“
Ich nickte.
„Silvia hat.“
Mit vereinten Kräften zogen wir den Handwagen durch den Sumpf. Obwohl es nicht sonderlich weit bis zum Bach war, brauchten wir eine ganze Weile, bis wir dort ankamen. Die schmalen Räder des Karrens versanken immer wieder tief im Morast und mehrfach drohte das Gefährt umzukippen. Hinzu kam der dichte Bewuchs mit Stangenholz, das sich als äußerst hinderlich erwies und uns zu manchem Umweg zwang. Nur mit einiger Mühe erreichten wir unbeschadet die Furt, deren Überqueren dann nur ein Kinderspiel war.
Auf der anderen Seite angekommen, zogen wir weiter nach Süden, immer dem Bachlauf folgend, bis nach einer halben Stunde Reinald plötzlich stehen blieb.
„Wir dürften jetzt bald auf den Weg von Detmold nach Barntrup stoßen. Es ist dann nicht mehr weit bis Huxoll. Vorher aber sollten wir eine Rast machen.“
„Ein wahrhaft guter Einfall.“ Silvia ließ sich auf ein dickes Moospolster fallen. „Ich dachte schon, keiner von Euch würde auf diese Idee kommen.“
Reinald zog einen Leinenbeutel aus seinem Karren und verteilte daraus Brot und Käse. Mit einem Krug holte ich Wasser aus dem Bach
und fertig war unser Picknick.
„Wir sollten unser karges Mahl mit einer frisch gegrillten Forelle aufbessern“, schlug ich an einem Stück Käse kauend vor. „Im Bach habe ich welche gesehen.“
„Gegrillte Forellen? In diesem Bach??“
Silvia schaute mich mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an. Reinald verschluckte sich vor Lachen beinahe an seinem Käse.
„Das Land, wo Milch und Honig fließen - davon las ich in der Bibel. Von einem Land aber, in dessen Bächen gebratene Forellen schwimmen, habe ich noch nie gehört.“ bemerkte er glucksend.
Ich sah meine höchst amüsierten Gefährten mit gespieltem Zorn an.
„Gesindel.“ knurrte ich, streckte mich im weichen Gras aus und schloss die Augen. „Weckt mich, wenn es weitergeht.“
Mich wohlig räkelnd, lauschte ich noch ein Weilchen ihrer halblauten Unterhaltung, war aber bald darauf eingeschlafen.
*
Ich erwachte, weil meine Nase juckte. Träge in die Sonne blinzelnd erkannte ich Silvia, die neben mir kniete und mit einem Grashalm meine Nase kitzelte.
„Schändliches Weib“, murrte ich nicht sonderlich überzeugend. „Was ist das für eine Art, den Mann aus seinem wohlverdienten Schlummer zu reißen?“
„Notwehr.“ flüsterte Silvia mit verzweifelter Miene. „Ich sitze hier zwischen zwei fürchterlich schnarchenden Mannsbildern und langweile mich.“
„Dann schlaf doch auch“, empfahl ich ihr, müde die Augen wieder schließend.
„Würde ich ja gern. – Geht aber nicht, denn – ich sitze hier zwischen zwei fürchterlich... .“
Ich öffnete die Lider einen Spalt breit.
„Ist ja gut. Ich habe verstanden.“ unterbrach ich sie ausgiebig gähnend. „Nur solltest du dann auch Reinald wecken.“
Silvia schüttelte energisch den Kopf, was ihre dunkle Mähne in wellenförmige Bewegung versetzte. Dann legte sie sich neben mich
ins Gras.
„Ich denke, es ist besser, ihn schlafen zu lassen“, sagte sie leise. „Er hat mir vorhin erzählt, dass er fast die ganze Nacht im Gebet verbracht hat. Der arme Kerl muss todmüde sein.“
„Ja, dann... dann wirst du wohl oder übel seine Sägerei noch eine Weile ertragen müssen“, erwiderte ich ebenso leise. „Hast du übrigens eine Idee, wie es weitergeht? Ich meine, Hagen aufzusuchen ist ja gut und schön, aber lange bleiben können wir dort nicht. Wenn wir Reinald in Sicherheit bringen wollen, müssen wir uns schon etwas mehr einfallen lassen.“
Auf die Unterarme gestützt, mit einem Grashalm spielend, blickte sie nachdenklich vor sich hin, schob die Unterlippe vor und meinte nach einem Moment des Nachdenkens:
„Es wäre angebracht, wenn er möglichst weit aus dieser Gegend verschwände. – Du, wir könnten ihn doch in die Provence bringen. Ja, das wär‘s! Dort hat es ihm gut gefallen, dort sucht ihn niemand und wir hätten eine herrliche Reise vor uns. – Komm, sag schon ja.“
Silvia sah mich strahlend an, sichtlich begeistert von ihrer Idee.
„Mal eben in die Provence.“ Ich tippte mir vielsagend an die Stirn. „Menschenskind, das sind über tausend Kilometer. Wenn ich bedenke, wie lange wir allein für die paar Meter heute gebraucht haben. - Wann gedenkst du dort anzukommen?“
„Ich dachte nur ... .“
Mit einem misstönenden Rasseln erstarb das Schnarchen des Mönches so abrupt, dass wir besorgt zu ihm hinüber blickten. Reinald richtete sich mühsam auf, rieb sich die Augen und sah uns schlaftrunken an.
„Ich bin ein wenig eingenickt“, stellte er fest.
„Was nicht zu überhören war“, amüsierte sich Silvia. „Doch tröstet Euch, Ihr habt auch nicht schlimmer gesägt als Roger.“
„Nachdem wir nun alle wieder munter sind, kann es ja weiter gehen. Wir haben genug Zeit vertrödelt.“ Ich stand auf und streckte die Glieder.
„Da mögt Ihr wohl recht haben“, stimmte mir der Mönch zu. Es klang wie ein Seufzer. Er erhob sich, wischte Laub und Gras von seiner Kutte und war reisefertig. Bevor wir loszogen, ging ich noch einmal zum Bach, um mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu werfen, dann wanderten wir unter Reinalds Führung weiter.
Nach einer knappen Viertelstunde standen wir auf einer Straße, von der Reinald behauptete, dass es der Weg von Detmold nach Barntrup sei. Sie führte mit leichter Steigung gen Osten. Auf der Kuppe des Hügels angekommen, ging sie dann ziemlich eben weiter, bis wir an einen Weg kamen, der zu zwei Höfen führte, die links von uns in einer Senke lagen.
„Das müssen die Höfe sein“, meinte Reinald. „Welcher der beiden aber der zu Huxoll ist...“
Wir schritten die Straße hinunter, die verlassen im Schein der Nachmittagssonne vor uns lag. Bei dem ersten Hof trafen wir einen Knecht, den wir nach dem Wohnsitz des Bogenbauers fragten. Der Mann wies auf einen einzelnen, in der Nähe des Meierhofes stehenden Kotten, in dem Hagen wohnen sollte.
Als wir uns dem Haus näherten, erkannte ich schon von weitem Hagen, der vor seinem Haus saß und an irgendetwas herumwerkte. Als er unserer ansichtig wurde, legte er seine Arbeit zur Seite, stutzte und kam uns entgegen.
„Seid gegrüßt.“ empfing er uns. „Dass wir uns so schnell wiedersehen würden, hätte ich nicht erwartet. Dazu noch mit großem Gepäck“, bemerkte er mit einem nachdenklichen Blick auf den Karren des Mönches.
Dankbar, endlich am Ziel zu sein, folgten wir ihm zu seiner Kate, einem sehr einfachen, mit Stroh gedeckten Fachwerkbau. Der kleine Hof vor dem Haus, eigentlich nicht mehr als eine große Terrasse, wurde auf zwei Seiten von Fliederbüschen geschützt. Gen Süden hatte man freien Blick in die Senke und zum Hügel, auf dem der Blomberger Weg verlief. Unter dem Flieder lagen Rutenbündel, die, wie ich annahm, zur Herstellung von Pfeilen gedacht waren.
Vor dem Haus standen ein Tisch mit schwerer Eichenplatte und eine roh gezimmerte Bank. Der Tisch diente auch als Werkbank. Ein halbfertiger Bogen, an dem Hagen bis zu unserem Eintreffen gearbeitet hatte, sowie einiges Werkzeug lagen darauf. An der Hauswand lehnten vier bereits fertige Langbogen.
„Nehmt doch Platz.“ Hagen wies auf die Bank, ehe er im Haus verschwand.
Während die anderen sich setzten, besah ich die Bogen. Soweit ich es
beurteilen konnte, leistete Hagen wirklich gute Arbeit. Jeder Bogen bestand aus drei Schichten verschiedener Hölzer, die akribisch sauber verarbeitet waren.
„Gefällt Euch meine Arbeit?“ fragte Hagen, der mit einem Krug Bier aus dem Haus zurückgekommen war. Er nahm den halbfertigen Bogen vom Tisch, wischte mit dem Ärmel seines Hemdes über die Platte und stellte den Krug ab.
„Seht her“, sagte er sein Werkstück hochhaltend, „dies ist Eibenholz, hieraus wird der Kern des Bogens geschnitten. Die Außenseite der Waffe wird mit weißem Splintholz, die Innenseite mit rotem Kernholz belegt. So verbinden sich Elastizität und Härte.“
Er zwinkerte mir zu.
„Hat mich ein Waliser gelehrt. Wie ich Euch wohl kaum zu sagen brauche, kommen die besten Langbogen aus Wales.“
„Wollt Ihr damit sagen, Ihr seid in Wales gewesen?“ fragte ich erstaunt.
Er schüttelte bedauernd den Kopf.
„Nein, leider nicht. – Noch nicht. – Der Mann war hier.“
„Noch nicht? – Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr gedenkt, nach Wales zu reisen?“ fragte Silvia, die interessiert Hagens Ausführungen zugehört hatte.
„Nun ja, es gibt nicht viel, was mich hier hält. Mein Lehrmeister hat mir so manches über seine Heimat erzählt, dass ich sie gern kennen lernen würde.“
„Auch ich stamme aus Wales“, erklärte ich ihm. „Eine sehr lange Reise, die Ihr Euch da vorgenommen habt. Nicht ganz ungefährlich in diesen unsicheren Zeiten.“
„Ihr müsst es ja wissen, da Ihr den Weg schon einmal gemacht habt.“ lachte Hagen. „Und was die Zeiten angeht“, er zuckte mit den Schultern, „die waren noch nie sicher. Denkt nur an unsere Vorfahren, die einst gegen Jerusalem zogen. Der Weg war doch wohl noch weiter und auch gefährlicher. Aber sie haben etwas gesehen von der Welt. Nehmt Euch! Auch Ihr habt Euch umgeschaut in der Welt. Ich hingegen bin nicht sehr weit über diese Gegend hinausgekommen. Da hätte ich auch gleich Bauer werden können, zufrieden damit, an meiner Scholle zu kleben.“
Seine Stimme war zum Ende seiner Rede immer heftiger geworden,
sodass ich abwehrend die Hände hob.
„Gemach, Hagen. – Es ist nicht an mir, Euch Eure Pläne auszureden. Wenn Ihr vorhabt, nach Wales aufzubrechen - tut’s.“
„Was wollt Ihr dort eigentlich?“ fragte Silvia neugierig. „Kennt Ihr jemanden in Wales?“
Hagen nickte.
„Ja, meinen alten Lehrmeister, Michael Henry. Er wollte sich dort in einem Ort namens Shrewsbury niederlassen.“
„Das liegt aber nicht in Wales. Shrewsbury ist ein Ort in England. Zwar dicht an der Grenze zu Wales gelegen, aber eben in England“, korrigierte ich ihn. „Doch immerhin seid Ihr dort Eurem Ziel sehr nahe.“
„Dafür müsste ich erst einmal den Mut aufbringen, überhaupt aufzubrechen“, erwiderte Hagen trocken. „Doch was reden wir von mir. – Verratet mir lieber, was euch so überraschend geschwind zu mir führt.“
„Eigentlich der Mönch“, sagte ich, mit einer Kopfbewegung auf Reinald weisend, der die ganze Zeit stumm dagesessen hatte.
„Dass der fromme Bruder Euer Führer ist, erwähntet Ihr bereits“, bemerkte Hagen.
„Roger will sagen, dass wir wegen des Mönches hier sind“, stellte Silvia richtig. „Aber das ist eine lange Geschichte, vielleicht solltet Ihr Euch vorher setzen.“
Während Hagen unter dem Tisch einen Hauklotz hervorzog, den er als Sitzplatz nutzte, hockte ich mich neben Silvia auf die Bank.
„Nun ist es wohl an mir...“, ergriff Reinald das Wort. Er berichtete – allerdings in verkürzter Form – seine Geschichte, welcher Silvia und ich die Erlebnisse des heutigen Tages hinzufügten.
„So, nun kennt Ihr den Grund unserer Anwesenheit“, schloss ich den Bericht. „Wir haben Euch wahrheitsgemäß kundgetan, dass wir verfolgt werden und es somit nicht ungefährlich ist, sich mit uns abzugeben. Ich hoffe aber, dass Ihr uns dennoch für die heutige Nacht Obdach gewährt.“
Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt und mit dem Verschwinden der Sonne war es merklich kühler und feuchter geworden. Silvia hatte ihr Wolltuch fester um die Schultern gezogen und auch ich fröstelte. Hagen, der unserem Bericht gespannt gelauscht hatte, stand auf, streckte die Glieder und sagte:
„Es wird kühl. Lasst uns ins Haus gehen. Am Feuer ist es in dieser Jahreszeit abends doch gemütlicher. Außerdem seid ihr wohl auch hungrig.“
Er ging voraus und wir betraten nacheinander seine Kate. Ich folgte zum Schluss.
Der Raum, in dem wir standen, war so niedrig, dass selbst ich fast schon mit dem Kopf an die Deckenbalken stieß. Es war nahezu stockfinster und nur durch zwei Fensteröffnungen und die noch offene Haustür fiel äußerst spärliches Tageslicht herein. Erst als Hagen ein paar Kerzen anzündete, konnte man mehr von dem Raum erkennen. Es war eine Art Wohnküche, die über die Hälfte des Erdgeschosses einnahm. An der quer durch das Haus verlaufenden Wand befand sich in der Mitte eine aus Feldsteinen gemauerte Feuerstelle. Links davon führte eine Tür in die dahinter liegenden Räumlichkeiten, auf der rechten Seite stand eine Leiter, mittels welcher man auf den Dachboden gelangte. Über der Feuerstelle ragte aus der Wand ein schwenkbarer, eiserner Arm, der an einer Kette einen Kessel hielt.
Die Möblierung war spartanisch einfach: in der Mitte des Raumes ein großer Tisch mit zwei Bänken, unter den Fenstern – einfachen Maueröffnungen, die von innen mit einer Klappe verschlossen werden konnten – zwei Truhen, neben der Feuerstelle ein Regal, in dem ein wenig Geschirr und diverse Leinensäckchen lagen – das war alles.
Wir setzten uns auf die Bänke, während Hagen an seiner Kochstelle hantierte, das Feuer anfachte und den Kessel über die Flammen schwenkte.
„Heute gibt es Eintopf vom Lamm“, verkündete er laut, wobei er uns über die Schulter zuzwinkerte. „Falls er Euch nach Wild schmecken sollte, so muss dies an den Gewürzen liegen, die ich gestern auf dem Markt kaufte.“
„Noch ein Wilddieb. – Was ist dies nur für ein Land.“ seufzte Silvia und schüttelte indigniert den Kopf.
Hagen, unbeeindruckt von dieser scheinheiligen moralischen Entrüstung, rührte weiter in seinem Kessel, aus dem sich allmählich ein sehr appetitlicher Duft verbreitete. Zusammen mit Reinald begab ich mich nach draußen zum Handwagen, um unsere wenigen Vorräte und das Essgeschirr zu holen. Wenig später war der Eintopf aufgewärmt, den der Hausherr großzügig in die bereitgestellten Schüsseln verteilte. Schweigend begannen wir zu essen.
Nachdem wir unser Mahl beendet hatten, schob Hagen seine Schüssel beiseite und sah uns fragend an.
„Wie soll es denn nun weitergehen?“ begann er. „Hier könnt ihr ja nicht ewig bleiben. Wenn ihr Reinald in Sicherheit bringen wollt, müsst ihr ihn schon weiter fort bringen. Dieses Land gehört den Herren zur Lippe und die sind mit dem Bistum Paderborn eng verbunden.“
„Genau das ist unser Problem“, erwiderte ich. „Wohin wollt Ihr eigentlich, Reinald?“
Der Mönch legte die Unterarme auf den Tisch, faltete die Hände und sah nachdenklich zum Feuer.
„Ich weiß es nicht. – Wahrscheinlich wäre es das Beste, ich würde mich meinen Häschern stellen.“
„Redet keinen Unfug!“ fuhr ihn Silvia zornig an. „Glaubt Ihr etwa, man beabsichtigt Euch zum Märtyrer zu machen? Weit gefehlt, mein Freund! Der Bischof will sich nur eines unangenehmen Mitwissers entledigen. Da ist es ausreichend, wenn er Euch einen Kopf kürzer machen lässt.“
„Das denke ich auch.“ Hagen nickte zustimmend. „Auf einen Prozess, in dem Ihr Euer Wissen verkünden könnt, braucht Ihr nicht zu hoffen. Selbst wenn Ihr Euch stellt, werdet Ihr vermutlich nie in Paderborn ankommen.“
„Ich habe Roger schon vorgeschlagen Euch in die Provence zu begleiten. Dort seid Ihr sicher und dort habt Ihr Euch auch immer wohl gefühlt. – Wie wär‘s?“
Ich verdrehte bei Silvias Frage die Augen und hoffte, der Mönch würde diesen Vorschlag ablehnen.
Noch bevor Reinald sich zu einer Antwort entschließen konnte, ergriff Hagen das Wort.
„Wir könnten doch auch alle zusammen nach Wales gehen. Mit einem Boot könnten wir die Weser hinunter nach Bremen reisen, von dort mit einem Schiff der Hanse nach London und dann weiter nach Shrewsbury. Mein Lehrmeister hat mir erzählt, dass sich dort eine große Abtei befindet. Dort könnt Ihr sicherlich unterkommen und sie ist so weit entfernt von Paderborn und seinem Bischof, dass Ihr dort
sicherlich nichts zu befürchten hättet. – Was meint Ihr, Reinald?“
„Wollt Ihr mit uns gehen, Hagen?“ fragte ich, erstaunt über sein unerwartetes Anerbieten.
„Warum nicht? Ich sagte doch, dass ich schon lange beabsichtige, mich auf den Weg nach Wales zu machen. Allein habe ich die lange Reise immer gescheut, aber zu viert ...“
Ich muss gestehen, dass mir der Vorschlag des Bogners nicht ungelegen war. Wenn er den Mönch begleitete, würde Reinald schon bald unsere Hilfe, also Silvias und meine, nicht mehr benötigen. Wir könnten in Lippe bleiben. Silvias Überlegung, Reinald in die Provence zu begleiten, fand ich zwar sehr attraktiv, hatte aber die Befürchtung, nicht mehr in ‚meine‘ Zeit gelangen zu können, wenn ich mich zu weit von dem Ort entfernte, an welchem ich in diese Zeit versetzt worden war.
„Nach Wales ... .“
Reinald schaute mit abwesendem Blick in die Flammen des Feuers.
„Ich denke, dass Hagens Vorschlag einiges für sich hat“, hörte ich Silvia zu meinem Erstaunen sagen. „In Shrewsbury wird Euch niemand vermuten.“
Eine Weile herrschte Stille im Raum, nur das Knistern der Flammen war zu hören. Jeder wartete auf eine Reaktion des Mönches. Schließlich erwachte dieser aus seiner Lethargie. Er riss sich sichtlich zusammen, schüttelte den Kopf, so, als wolle er dadurch seine trüben Gedanken vertreiben, und begann zu sprechen.
„Ich weiß euer Angebot wahrlich zu schätzen, nur ...“, er machte eine Pause, „...ist es mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass ihr euch meinetwegen in Gefahr begebt. Wenn mich der Bischof aus dem Weg haben will, so wird er auf einen Bogenbauer, einen Söldner und sein Weib auch keine Rücksicht nehmen. Abgesehen davon kann ich doch schlecht von Euch erwarten, dass Ihr meinethalben Haus und Hof verlasst, Hagen. Auch Roger und Silvia hatten sicher andere Pläne, als sich auf den Weg nach Wales zu begeben.“
„Euer Wohlbefinden in allen Ehren“, erwiderte Hagen, „doch solltet Ihr Euch um uns keine Sorgen machen. Roger ist ein Soldat und alt genug zu entscheiden, warum er welche Risiken eingeht. Auch Silvia macht mir nicht den Eindruck, als wisse sie nicht, was sie täte. Was mich betrifft, so helft Ihr mir, meinen Traum in die Tat umzusetzen.
Ohne Euch würde ich meine Pläne, nach Wales zu reisen, immer weiter hinausschieben. Ich betrachte Euch als Wink des Schicksals. Was Haus und Hof angeht, die Ihr vorhin anspracht,“ er machte eine wegwerfende Handbewegung, „nun, beides gehört zum Meierhof. Also – sucht Euch aus: – Provence oder Wales, Ihr habt die Wahl! Oder macht einen eigenen Vorschlag. Nur entscheidet Euch bald, sodass wir noch heute besprechen können, in welche Richtung wir morgen aufbrechen. Meiner Ansicht nach solltet Ihr Euch übrigens für Wales entscheiden. Ein unbekannter Ort ist ideal für einen Neubeginn.“
Hagen hatte seine Worte ruhig und gelassen vorgebracht und lehnte sich nun mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurück.
„Eure Sorgen um uns sind wirklich überflüssig“, ergänzte ich. „Wir sind doch ohnehin nur fahrendes Volk und ständig der Willkür der Obrigkeit ausgesetzt. Für uns ist es nicht gefahrvoller, mit Euch zu reisen als ohne Euch.“
Hagen verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.
„Aber es ist wesentlich angenehmer, zu viert zu reisen, als allein durch die Lande zu ziehen.“
Reinald bedachte uns mit einem hilflosen Lächeln.
„Wenn ihr denn wirklich meint, dass dies der richtige Weg sei, dann nehme ich eure Hilfe gerne an“, sagte er zögernd.
„Ein weiser Entschluss“, bemerkte Hagen, wobei er dem Mönch aufmunternd auf die Schulter patschte. „Jetzt müsst Ihr nur noch entscheiden, wohin wir Euch begleiten sollen.“
„Ich glaube, Wales wäre schon das rechte Ziel“, meinte Reinald bedächtig. „Ihr, Hagen, wolltet ohnehin dort hin. Roger, so könnte ich mir vorstellen, würde seine Heimat auch gern wiedersehen und für mich gibt es dort diese Abtei in ... - Entschuldigt, Hagen, ich habe den Namen des Ortes vergessen. Ihr wisst schon, die Stadt, in welcher euer Meister lebt.“
„Shrewsbury“, half ihm Hagen. „Ich muss schon sagen, eine treffliche Entscheidung, mein Lieber. Da unser Ziel ja nun feststeht, sollten wir uns überlegen, wohin wir morgen aufbrechen. Also ich denke es mir so ...“
In der nächsten halben Stunde erklärte uns Hagen die Möglichkeiten, an die Weser zu gelangen. Er schlug vor, nach Norden
zu gehen, wo wir seiner Ansicht nach auf den Fluss treffen würden. Von dort wollte er die Fahrt nach Bremen mit einem Boot fortsetzen. Seines Erachtens müssten wir die Weser in einem Tagesmarsch erreichen, zumindest, wenn wir die Hauptstraße nach Minden benutzen würden. Dieser Vorschlag fand wenig Zustimmung, da Reinald zu Recht einwandte, dieser Weg sei für ihn zu riskant, weil die Stadt Lemgo die Kaufleute hier durch Soldaten begleiten lasse und gerade denen wollte er nur ungern begegnen.
„So nehmen wir den Weg weiter östlich. Den, der von Barntrup durch das Tal der Exter führt“, beruhigte ihn Hagen. „Zur Not müssen wir uns eben durch die Wälder schlagen. Das dauert zwar länger, ist aber sicher.“
Es war inzwischen reichlich spät geworden und wir beschlossen, die weitere Planung auf den nächsten Tag zu verschieben. Hagen wies uns unsere Schlafstätten zu. Silvia und ich durften oben im Heu über-nachten, Reinald zog es vor, sich sein Lager auf den Bänken in der Küche zu bereiten.
Wir kletterten also die steile Leiter auf den Dachboden hinauf, auf dem es natürlich stockfinster war, und machten es uns im Heu bequem.
„Sag mal“, flüsterte Silvia, „warum wolltest du eigentlich nicht nach Südfrankreich? Du hast mir gesagt, das sei dir zu weit; aber Wales liegt auch nicht gerade um die Ecke.“
„Ich will ja gar nicht nach Wales“, antwortete ich ebenso leise. „Wir begleiten die beiden bis zur Weser und dann können sie ihren Weg allein fortsetzen, denke ich. Größere Gefahr dürfte ihnen dann nicht mehr drohen. So weit reicht Balduins Einfluss nicht. Wir können uns ja meinetwegen ein wenig in Lippe umsehen. Vielleicht erfahren wir dann, was der Bischof mit den Urkunden vor hat.“
„Seit wann bist du so bodenständig?“ kam es aus dem Dunkel zurück. „So ganz nehme ich dir dein Interesse an der Geschichte dieses Landes nicht ab. Steckt nicht mehr dahinter, als du mir sagen willst?“
„Wenn ich ehrlich bin ...“, begann ich.
„Ich bitte darum.“
„Wenn ich also ehrlich bin, habe ich Angst, mich allzu weit von Heiligenkirchen zu entfernen. Ich habe einfach Angst, nicht mehr
zurück in meine Zeit zu kommen.“
Aus der Dunkelheit ertönte ein leises Lachen.
„Der Nebel und der Toythof, stimmt’s? Du vertraust diesem Medium also immer noch mehr als mir. – Was willst du eigentlich tun, wenn du auf dem Hof stehst und da ist nix mit Nebel? Willst du dann bei dem Toytmeier als Knecht anfangen, mit der Begründung, du möchtest darauf warten, dass es in seiner Stube nebelt. – Wenn ich mir das vorstelle ....“
Sehen konnte ich Silvia nicht, fühlte aber deutlich, dass sie sich vor lautlosem Gelächter schüttelte.
„Wenn du dich beruhigt hast, können wir hoffentlich wieder ernsthaft miteinander reden“, knurrte ich beleidigt und starrte in die Dunkelheit.
„Entschuldigung“, gluckste es neben mir, „aber weißt du, was man zu dieser Zeit mit den geistig Verwirrten gemacht hat? – Wäre auch noch eine interessante Erfahrung, die du live erleben könntet.“
„Jetzt hör aber auf!“
Langsam wurde ich ärgerlich.
Silvias Stimme klang plötzlich ernst, als sie antwortete.
„Habe ich dir schon einmal Schwierigkeiten gemacht? Habe ich dich auch nur ein einziges Mal belogen? – Ich habe dir gesagt, dass der Nebel nur ein Medium war, um dich in diese Zeit zu versetzen. Ich habe dir gesagt, dass ich dich zu jeder Zeit in das zwanzigste Jahrhundert zurückversetzen kann, wenn du das wünschst. Ich habe gehofft, du würdest mir vertrauen. Wenn du das nicht kannst oder möchtest – auch gut. Ich bringe dich sofort zurück.“
Das wollte ich ganz bestimmt nicht. Ich fühlte mich nur so verdammt unsicher. Das war ich in ‚meiner‘ Zeit auch oft genug gewesen. Ich hatte zwar jede Menge Träume und Vorstellungen davon gehabt, wie mein Leben verlaufen sollte, meist war ich aber zu feige gewesen, diese auch in die Tat umzusetzen. Ich war viel zu ängstlich, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, kreuzunglücklich über mein ‚Schicksal‘ und dennoch unfähig, es zu ändern. Jetzt hatte es sich in einer Weise entwickelt, die ich nie für möglich gehalten hätte, und was tat ich? Vermutlich hatte Silvia recht. Warum sollte ich mich nicht endlich ganz auf dieses Abenteuer einlassen? Wenn es wirklich eng werden sollte, konnte ich immer noch auf ihr Angebot eingehen.
Und selbst wenn sich meine Befürchtung bewahrheiten und eine Rückkehr unmöglich sein sollte, so war es letztlich auch egal. Dann musste ich eben im Mittelalter bleiben, doch eines wollte ich nicht ...
„Komm“, sagte ich und nahm Silvia in den Arm, „lass uns bitte nicht im Streit einschlafen. Verzeih mir ein letztes Mal, und ich verspreche, nie wieder an dir zu zweifeln.“
„Schon geschehen“, flüsterte sie. „Aber verlang nicht von mir, dir das auch zu glauben.“