Читать книгу Alles für die Katz - Lippe 1358 - Ulrich Pflug - Страница 5
1.
ОглавлениеEs war bereits stockdunkel an diesem verregneten frühen Novemberabend, als ich das alte Gehöft erreichte. Über den düsteren Höhen des Teutoburger Waldes hatten sich Berge dicker, schwarzer Wolken zusammengezogen, die ihren feuchten Inhalt in solchen Mengen über das Land ergossen, als wollten sie es ertränken. Die Scheibenwischer meines Landrovers hatten Mühe, gegen die Wassermassen anzukämpfen. Entsprechend schlecht war die Sicht. Um ein Haar hätte ich daher auch das Hoftor verpasst. Wobei ich sagen muß, dass die Bezeichnung ‚Hoftor‘ für eine schmale Lücke in einer niedrigen Bruchsteinmauer gewaltig übertrieben ist.
Als ich mein Fahrzeug durch diese Zufahrt lenkte, hatte ich wieder einmal die Gelegenheit, mich glücklich zu schätzen, mir vor einigen Jahren diesen alten Geländewagen gekauft zu haben. Der nur notdürftig befestigte Weg war tief ausgefahren, abschüssig und durch den starken Regen obendrein sehr schmierig. Der Hof sah nicht viel besser aus als die Einfahrt. Stellenweise waren noch Fragmente einer früheren Pflasterung zu erkennen, doch der Rest ...
Im Scheinwerferlicht tauchten eine große Linde und die Scheune auf, von welcher Marion erzählt hatte. In diesem Gebäude sollten sich also die Ställe befinden, in denen sie ihre Pferde untergebracht hatte. Marion, eine gute Freundin, hat neben diversen anderen Marotten ein Faible für alte Tiere – und einen ausgeprägten Hang zum Übersinnlichen. Außer etlichen Fütterungsregeln, die sie mir mit auf den Weg gegeben hatte und welche selbstverständlich haargenau einzuhalten waren, hatte sie mir einiges über den Hof erzählt. Unter anderem, dass sich hier Karl der Große mit den Sachsen ein heftiges Gefecht geliefert habe und – last not least – dass es in dem alten Gemäuer spuken solle. Sie selbst wollte es schon erlebt haben.
Sie habe damals in dem unbenutzten Teil des Stalles gestanden, als es geschah. Durch eines der kleinen Fenster an der Rückwand des Stalles habe sie beobachtet, wie vom Bach, der hinter dem Hof durch das Tal fließt, Nebel aufgestiegen sei, der sich rasend schnell bis in
das Innere des Stalles ausgebreitet habe. Zu Tode erschrocken und unfähig, sich zu bewegen, sei sie wie angewurzelt stehengeblieben. Der Nebel habe sie wie Watte umhüllt und sei ihr wie ein lebendiges Wesen erschienen. Sie habe ihn auf unangenehme Weise förmlich körperlich spüren können. Irgendwo in der weißen Masse wollte sie auch Schemen erkannt haben, von denen sie sich bedroht gefühlt hatte. Wie lange sie in diesem Nebel gestanden hatte, vermochte Marion nicht zu sagen. Es sei ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, könne aber bei nüchterner Betrachtung nicht all zu lange gedauert haben. Ebenso plötzlich, wie der Nebel aufgetaucht war, sei er verschwunden und alles sei wie vorher gewesen.
Für mich hatte die ganze Geschichte nach einer kruden Mischung aus geschichtlichen Fakten, Esoterik und übersteigerter Phantasie geklungen. Marion machte ihr unheimliches Erlebnis, ob nun wahr oder geträumt, immer noch sichtlich zu schaffen. Ich hatte jedenfalls den Eindruck gewonnen, dass sie Angst hatte, nach Einbruch der Dunkelheit den Stall zu betreten. Daher hatte ich ihr angeboten, am heutigen Abend das Füttern der Tiere für sie zu übernehmen.
Durch die Frontscheibe musterte ich das Stallgebäude, von dem Marion behauptet hatte, es stamme aus dem tiefsten Mittelalter. Das mochte richtig sein. Sehr alt war das Gebäude bestimmt. Mit Sicherheit hatte der mächtige Bruchsteinbau jedoch nicht immer als Stall gedient. Im Mittelalter hätte man einen Stall gewiss nicht aus Bruchsteinen erbaut und schon gar nicht mit großen, obendrein sandsteingefassten Fensteröffnungen versehen. Derartig exklusive ‚Panoramafenster‘ hätte es – wenn überhaupt! – allenfalls in Wohnhäusern der damaligen ‚upperclass‘ gegeben.
Als sonderlich ‚spukig‘ oder gar unheimlich empfand ich das Gehöft übrigens nicht. Allenfalls etwas heruntergekommen und verwahrlost, soweit ich dies bei der sparsamen Beleuchtung beurteilen konnte. Zwei schwache Lampen, die an einem quer über den Hof gespannten Drahtseil hingen, schwankten im heftigen Wind und bemühten sich mit mäßigem Erfolg, das Gelände durch ihr trübes Licht zu erhellen. Die beiden Wohnhäuser waren nur als dunkle Schatten in der regnerischen Novembernacht erkennbar. Warmes Licht fiel aus einigen Fenstern und bewies mir, dass ich nicht die einzig lebende menschliche Seele auf diesem gottverlassenen Anwesen war. Bei diesem Wetter und zu dieser Tageszeit machte das Gehöft einen derart schmuddeligen und wenig einladenden Eindruck, dass ich mich ernsthaft fragte, ob ich es mit meinem gutmütigen Angebot, Marion die Fütterung abzunehmen, nicht etwas übertrieben hatte. Mein Bedürfnis, das warme, trockne Auto zu verlassen, hielt sich jedenfalls in sehr engen Grenzen.
Ich beschloss, den Luxus ‚warm und trocken‘ noch für die Dauer einer Zigarettenlänge zu genießen. Der Regen trommelte aufs Dach und mir fiel ein, dass Marion behauptet hatte, der Hof sei auf einem ehemaligen Schlachtfeld erbaut worden. Karl der Große habe hier erfolgreich die Sachsen geschlagen. Ich hatte meine Zweifel daran. Der Hof lag im Tal der Berlebecke und das Gelände war bis auf den heutigen Tag ziemlich feucht. Dass dies vor tausend Jahren wesentlich anders gewesen sein sollte, erschien mir reichlich unwahrscheinlich. Selbst bis in das vorige Jahrhundert führte die Straße von Heiligenkirchen nach Detmold noch über den Königsberg, weil es im Tal zu feucht war. Ziemlich fragwürdig also, dass der große Kalle sich ausgerechnet ein Sumpfgebiet für den Einsatz seiner schweren Panzerreiter ausgesucht haben sollte. Seine Elitetruppe hätte auf solch einem Boden nicht den Hauch einer Chance gehabt und die Geschichte wäre zumindest für Kalle nicht erfolgreich ausgegangen.
Wie auch immer. Fakt war, dass mich nicht zuletzt Marions spannende Erzählung dazu bewogen hatte, hierher zu fahren, um ein paar alte Zossen zu versorgen, die sich keinen Deut um Geschichte, Esoterik oder gar nebulösen Spuk scherten, sondern lediglich darauf warteten, verpflegt zu werden.
Leise auf mich und meine Neugier fluchend, drückte ich die Zigarette im Ascher aus und stieg aus. Sofort schlug mir ein böiger Wind eiskalten Regen um die Ohren. Den Kragen meiner Jacke dichter um den Hals ziehend lief ich zur Längsseite des Gebäudes, wo sich die Eingangstür befand. Halb gehend, halb rutschend erreichte ich die Stalltür, deren Rahmen ebenfalls aus behauenem Sandstein gefertigt war. Über dem Sturz war ein in Stein gehauenes, ziemlich verwittertes Wappen eingelassen. Darunter glaubte ich schwach die Jahreszahl 1356 zu erkennen. Wenn diese Zahl das Baujahr des Hauses angab, hatte Marion ja nicht ganz Unrecht gehabt. Gut, tiefstes Mittelalter war’s nicht, aber ausgehendes bestimmt. Natürlich konnte
der Türsturz auch aus einem anderen Gebäude stammen und irgendwann später hier erneut verwendet worden sein; Recycling war schließlich keine neue Idee. Eine eiskalte Böe, die mir einen gehörigen Schwall ebenso kalten Regens in den Kragen peitschte, bereitete meinen Architekturstudien ein jähes Ende. Inbrünstig über die unwillkommene Dusche fluchend öffnete ich eilig die Tür und betrat das Gebäude.
Warmer Stallgeruch umfing mich und ich stand zunächst einmal im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkel. Mich an Marions Beschreibung erinnernd, fand ich jedoch selbst in dieser Finsternis rechts neben der Tür auf Anhieb den Lichtschalter.
Zwei nackte fünfundzwanzig Watt Glühbirnen erhellten den Stall. Vor mir lag ein Gang, an dessen linker Seite sich die Pferdeboxen befanden. Rechts verlief eine lediglich von einer Tür unterbrochene Fachwerkwand durch den ganzen Bau. Die drei alten Pferde, welche von Marion ihr Gnadenbrot erhielten, standen friedlich in ihren Boxen. Sie schnaubten erfreut, als das Licht an ging, und streckten zur Begrüßung die Köpfe über die Futtertröge.
„Na, Jungs, habt ihr schon gewartet?“
Ich bedachte jedes der Tiere mit ein paar Streicheleinheiten und sprach ein wenig mit ihnen. In einer Ecke entdeckte ich einen Korb mit Äpfeln, von denen ich einen Teil gerecht unter den Tieren verteilte. Eine Geste, für die sie sich mit begeistertem Schnauben und liebevollen Stupsern bedankten.
Was folgte, war Arbeit – Boxen säubern, die Tiere füttern und tränken. Nach gut einer Stunde war ich fertig. Mit mir und der Welt zufrieden hockte ich mich auf eine Futterkiste und steckte mir eine Zigarette an. Die Atmosphäre weckte Kindheitserinnerungen. Ich hatte mich damals, noch bevor ich eingeschult wurde, liebend gern auf den Bauernhöfen in der Nachbarschaft herumgetrieben. Zu der Zeit waren Maschinen in der Landwirtschaft eher selten und Pferde nicht eben eine Rarität. Ich empfand den Stall jedenfalls als äußerst anheimelnd. Das ruhige, mahlende Kauen der Tiere, die Wärme, dazu die schummrige Beleuchtung – einfach urgemütlich.
Die Behaglichkeit fand ein jähes Ende, als es plötzlich direkt über mir auf dem Heuboden laut und vernehmlich raschelte. Prompt fielen mir Marions Spukgeschichten ein und ein leichter Schauder lief mir
über den Rücken, als ich – nun doch etwas besorgt - zur niedrigen Decke blickte. Von den ungehobelten, roh zugeschnittenen Eichenbohlen hingen Stroh, Spinnweben und Heu herunter. Ich glaubte leise Schritte zu hören, war aber nicht sicher. Was ich mir jedoch bestimmt nicht einbildete, war das, was ich sah. In regelmäßigen Abständen rieselte Staub durch die Ritzen zwischen den Bohlen. Augenscheinlich schlich dort oben jemand herum! Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten.
Angespannt beobachtete ich die von den Bohlen herabsinkenden Staubwölkchen, die sich zu einer dunklen Ecke des Stalles bewegten. Im Halbdunkel konnte ich dort eine Leiter erkennen, deren oberes Ende in einer Öffnung des Dachbodens verschwand. Ohne dass ich hätte sagen können, wen oder was ich eigentlich zu sehen erwartete, starrte ich gespannt in die Dunkelheit. Ich fühlte, wie sich meine Kopfhaut unangenehm zusammenzog.
Plötzlich raschelte es vernehmlich und am Fuße der Leiter ertönte ein dumpfer Plumps, dem gleich darauf ein ‚Miau‘ folgte. Noch ehe ich aufstehen konnte, um nachzusehen was geschehen war, kam aus der Dunkelheit eine schwarze Katze auf mich zugelaufen. Zutraulich strich sie einige Male um meine Beine und sprang mir schließlich in den Schoß, wo sie sich zusammenrollte und behaglich zu schnurren begann.
„Mann, hast du mich erschreckt!“
Einigermaßen erleichtert streichelte ich das Tier, welches es sich so unerwartet auf meinem Schoß bequem gemacht hatte. Die lebendige Wärme des kleinen Körpers ließ meine Ängste schwinden und ich war ehrlich gestanden froh, dass außer dieser Katze niemand meine Furcht bemerkt haben konnte. Angst vor Spukgestalten haben! – Einfach lächerlich! – Entspannt lehnte ich mich zurück, um sowohl meine Erleichterung als auch den Frieden des Augenblicks zu genießen.
Nun hatte ich also auch mein unheimliches Erlebnis in diesem Stall gehabt und dabei ganz nebenbei den vermeintlichen Spuk als ein harmloses, aber sehr reales Kätzchen entlarvt. Vom Erfolg ermutigt, beschloss ich dem von Marion erwähnten merkwürdigen Erlebnis mit dem Nebel ebenfalls auf den Grund zu gehen. Was hatte sie noch gesagt? Ganz zu Anfang, als sie eine Unterkunft für ihre Tiere gesucht hatte und dabei auf diesen Hof gestoßen war, hatte sie ursprünglich
den anderen Teil des Gebäudes mieten wollen, weil der mehr Platz bot. Ein Wunsch, den ihr der Besitzer jedoch verweigerte. Der Mann habe herumgedruckst und nach allen erdenklichen Ausflüchten gesucht, wusste sie zu berichten. Letztendlich habe er behauptet, dieser Teil des Hauses sei baufällig und daher nicht zu vermieten. Später, als sie ihre Tiere bereits in dem Stall untergebracht hatte, habe sie bemerkt, dass die Tiere vor dem baufälligen Teil zurückgescheut seien.
Alles etwas seltsam. Mit einer Mischung aus Neugier, gespannter Erwartung sowie einem angenehm kribbelnden Schauder blickte ich zu der dunklen Türöffnung, hinter welcher sich Marions nebulöses Erlebnis abgespielt haben sollte. Als ich aufstehen wollte, um einen Blick durch die Tür zu werfen, begann die Katze, empört über die Störung, laut zu maunzen.
„Ist ja gut, Mädel. Sei nicht gleich beleidigt.“
Ich nahm das Tier auf den Arm, ging zur Tür und warf einen vorsichtigen Blick hindurch. Das, was ich erblickte, war jedenfalls weder sonderlich beeindruckend, noch in irgendeiner Weise unheimlich. Es war nichts als ein in tiefer Dunkelheit liegender alter Stall.
Obschon ich nicht von mir behaupten möchte abergläubisch zu sein, muss ich zugeben, dass ich den Raum nur zögernd und mit einem ausgesprochen merkwürdigen Gefühl in der Magengegend betrat. Wenn Marions Esoterikphantasien nicht mal wieder mit ihr durchgegangen waren und sich ihre Tiere tatsächlich geweigert hatten, diesen Stall zu betreten, so traf das auf meine Katze jedenfalls nicht zu. Die blieb friedlich schnurrend in meinem Arm liegen, ohne eine weitere Reaktion zu zeigen.
Einen Unterschied zum eben verlassenen Stall gab es definitiv. Sogar einen beträchtlichen. Dieser Teil des Gebäudes war spürbar kälter und erheblich feuchter. Etwas, das auf eine größere Baufälligkeit als nebenan hingedeutet hätte, konnte ich allerdings nicht entdecken. Zu einer genaueren Inspektion fehlte mir indes das nötige Licht, da der Besitzer es nicht für nötig gehalten hatte, auch hier eine elektrische Beleuchtung zu installieren. Erst als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, konnte ich an der gegenüberliegenden Seite des Raumes vier Sprossenfenster erkennen, durch die bläuliches Nachtlicht schimmerte.
In der Hoffnung mehr Licht ins Dunkel bringen zu können, tat ich
noch ein paar Schritte in den Stall, um den funzeligen Glühbirnen im Pferdestall Gelegenheit zu geben, ihren erhellenden Schein auch hier zu verbreiten. Wie zu erwarten war, brachte es nicht viel. Dafür entdeckte ich unter den Fenstern etwas Weißes, das mir vorher nicht aufgefallen war.
Bevor ich näher trat, um es in Augenschein zu nehmen, warf ich einen Blick zurück. Bei den Pferden war alles ruhig. Durch das hell erleuchtete Rechteck der Türöffnung konnte ich die Tiere in ihren Boxen sehen, vollauf damit beschäftigt, ihr Futter zu vertilgen. Als ich mich dann wieder zu dem weißen Fleck umdrehte, hatte sich dieser bereits über den Stallboden bis zu meinen Füßen ausgebreitet. Mit eisigem Erschrecken erkannte ich – das war Nebel!
Während ich noch völlig verblüfft auf den Dunst zu meinen Füßen starrte, sah ich, wie das Zeug an meinen Beinen empor kroch, als sei es ein lebendes Wesen. Sekundenbruchteile später war ich von einer wabernden, leuchtenden Weiße vollständig eingehüllt. Erschrocken drehte ich mich um, doch vom Pferdestall war nichts mehr zu sehen. Nur noch dieser unheimliche, seltsam leuchtende Nebel. Der Dunst war so dicht, dass ich nicht einmal die Katze auf meinem Arm erkennen konnte. Ich tat einen vorsichtigen Schritt, wobei ich hoffte, danach die erleuchtete Türöffnung zu sehen. – Nichts! Nur dieser verdammte Nebel, der mich kalt und feucht umschlossen hielt.
Behutsam, mit einem Fuß über den Boden tastend, bewegte ich mich langsam vorwärts. Bis zur Tür waren es ja nur ein paar Meter. Und richtig, nach einigen kleinen Schritten stieß ich gegen eine Wand. Ich musste also irgendwo neben der Tür gelandet sein. Nur wo? Rechts oder links? Und warum sah ich kein Licht? Ich versuchte es auf der rechten Seite. Mit den Füßen tastete ich mich an der Wand entlang und hatte nach mehreren Schritten die Orientierung vollends verloren, da ich, wenn meine Erinnerung mich nicht trog, gar nicht so weit hätte gehen können. Panik überkam mich.
„Das ist doch alles nicht wahr“, knurrte ich, konnte aber nicht verhindern, dass das Grauen mehr und mehr von mir Besitz ergriff. Einzig die Körperwärme der Katze, die ich im Arm trug, wirkte ein wenig beruhigend.
„Du bist auch zu blöd. Verläufst dich in einer Telefonzelle,“ beschimpfte ich mich.
Mit der linken Hand tastete ich über die Wand, wobei ich bemerkte,
dass ich in einer Ecke stand. Unter meinen Fingerspitzen fühlte ich raues Holz. Eine Tür? Ich konnte mich zwar an keine erinnern, aber es war fraglos eine Tür. Das Ding ließ sich auch noch problemlos mit einem hölzernen Knebel öffnen. Sie aufreißen und – ja, ich gebe es zu – fluchtartig den verdammten Stall verlassen, war eins.
Augenblicklich umwehte mich frische Luft und – was am schönsten war – es gab nicht die Spur von Nebel. Erleichtert blickte ich zu den Sternen und atmete befreit durch. Die panische Furcht, die mich vor wenigen Minuten noch beschlichen hatte, verflog langsam und ich begann wieder klar zu denken.
Gut, der Nebel in der alten Scheune war schon eine ungewöhnliche Erscheinung gewesen, aber sicherlich gab es eine ganz einfache Erklärung für dieses Phänomen. Insgeheim leistete ich Abbitte bei Marion für alles, was ich zu ihrer Erzählung und ihrer Furcht gesagt und vor allem gedacht hatte. Dennoch schalt ich mich einen alten Esel, weil ich mich derartig hatte ins Bockshorn jagen lassen.
Erst nach ein wenig Erholung fiel mir auf, dass sowohl die Hof- als auch die Straßenbeleuchtung erloschen waren. – Jetzt also auch noch Stromausfall! – Nun gut, dann würde ich eben im Finstern nach der Eingangstür zum Pferdestall suchen müssen. Sie musste auch im Dunkeln leicht zu finden sein, da mein Landy direkt davor stand.
Langsam ging ich zu der Hausecke, an der ich mein Fahrzeug abgestellt hatte. Doch ich hatte mich getäuscht. Hier stand kein Auto. Also zur nächsten Ecke, doch auch hier keine Spur von meinem Wagen. Irritiert umrundete ich das gesamte Gebäude. Nichts! Der Landy war fort! Einfach weg!
„Das gibt’s doch gar nicht.“ murmelte ich. „Wenn jemand die Karre geklaut hätte, müsste ich doch das Motorgeräusch gehört haben."
Ich schaute auf die Katze, die immer noch in meinem Arm lag und leise schnurrte.
„Kapierst du das?“ sagte ich zu ihr.
„Wenn du mich so direkt fragst: Ja!“ erklang eine Stimme in meinem Kopf.
Die Katze hatte ihr Schnurren eingestellt, den Kopf gehoben und blickte mich mit ihren großen, grünen Augen an. - Hatte sie ...?
Wie zur Bestätigung dieses Gedankens erklang wieder die Stimme in meinem Schädel. Diesmal glaubte ich sogar ein leises Lachen zu hören.
„Keine Sorge, du spinnst nicht! Ich rede wirklich mit dir. – Na ja, reden ist vielleicht nicht das ganz richtige Wort. Andererseits glaube ich aber nicht, dass du mein Maunzen besser verstehen würdest.“
Ziemlich verstört schaute ich in die im Mondlicht schimmernden Augen des Tieres, die mich – spöttisch? – fixierten.
„Ich glaub’s ja nicht. – Erst sehe ich Nebel in einem Haus, verlauf mich auch noch darin, dann ist mein Auto fort ...“
„...und jetzt unterhalte ich mich mit einer Katze.“ unterbrach mich die Stimme in meinem Kopf. „Meinetwegen musst du übrigens nicht sprechen. Es ist völlig ausreichend, wenn du denkst, was du mir sagen möchtest. – Ach so, ich sollte mich vielleicht vorstellen. Gehört sich ja wohl so. – Also, mein Name ist Silvia. Die Kinder haben mich so getauft, weil sie mich im Wald gefunden haben. Das weißt du doch bestimmt noch aus dem Lateinunterricht. Der Name ist abgeleitet von silva – der Wald.“
Die Katze räkelte sich zufrieden in meinem Arm, während ich mich gegen die Stallwand lehnte und fassungslos auf das Tier schaute.
„Ein merkwürdiger Traum“, dachte ich.
Die Antwort kam prompt. – Zuerst ‚hörte‘ ich ein silberhelles Lachen, dann wieder die inzwischen bekannte Stimme.
„Glaub mir, du träumst nicht. Aber bilde dir jetzt nicht ein, du könntest eine Reinkarnation des Franz von Assisi sein. Es wäre ebenfalls nicht zutreffend. Es gibt eben doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als deine Schulweisheit sich träumen lässt. - Könntest du wenigstens versuchen, diese Tatsache zu akzeptieren?“
Die Katze schaute mich unverwandt an, wobei sie den Kopf auf die Seite legte. Es hatte fast den Anschein, als warte sie auf eine Antwort. Da es mit meinem ‚Aufwachen‘ doch nichts wurde, ging ich auf die ‚Stimme‘ ein.
„Na gut, dann unterhalte ich mich eben auf telepathischer Ebene mit einer Katze“, dachte ich. „Ist ja auch ganz normal.“
„Sooo normal nun auch wieder nicht. Ebensowenig wie die ganze Situation, in der du dich befindest“, hörte ich Silvia sagen. Ich hatte den Eindruck, sie klang ein wenig pikiert.
„Wie meinst du das?“ dachte ich.
„Mal abgesehen davon, dass wir beide uns telepathisch unterhalten, wunderst du dich doch über das, was dir vorhin zugestoßen ist, nicht wahr?“
Sofern man ein zustimmendes ‚hmmm‘ auch denken kann, habe ich es getan.
„Nun, ich kann dir erklären, was geschehen ist“, fuhr die Stimme namens Silvia fort. „Der Nebel, in dem du dich verirrt hast, hat dich um ein paar Jahrhunderte in die Vergangenheit versetzt. Zur Zeit befindest du dich im Mittelalter.“
Ich glaubte nicht richtig gehört zu haben.
„Wo bitte soll ich sein?“
„Im Mittelalter! Soll ich es dir vielleicht buchstabieren? – M wie Mann, i wie Ignorant, t wieTrottel, t wie ...“
„Schon gut, schon gut. Ich habe verstanden“, murmelte ich, während mir einige meiner grauen Zellen, die allem Anschein nach gerade nicht schliefen, glaubhaft versicherten, dass ich nach wie vor auf einer Futterkiste säße, schliefe und einfach nur seltsam träumte. „Wenn ich also richtig verstanden habe, habe ich eine Zeitreise gemacht und bin dabei im Mittelalter gelandet. Wenn es zutrifft, würde das zumindest erklären warum mein Auto futsch ist.“
„Das hast du vollkommen richtig erkannt.“
Einem derartigen Blödsinn war selbst im Traum nur mit Sarkasmus beizukommen.
„Dann gehe ich vermutlich nicht ganz fehl in der Annahme, dass ich jetzt Graf Roger der Viertelnachzehnte von Hiddesen bin und du der Gestiefelte Kater, dessen Stiefel gerade beim Schuster sind?“
„Ist es zuviel verlangt, wenn ich dich bitte zur Kenntnis zu nehmen, dass ich eine Katze bin? Im Übrigen habe ich mit dem Märchentyp der Gebrüder Grimm nicht das Geringste zu tun.“
Jetzt war ich sicher. Die Stimme klang pikiert!
„Ehrlich gesagt, hätte ich etwas mehr Begeisterung von dir erwartet. Wenn ich deine Gedanken vorhin richtig gelesen habe, hast du doch ein Faible für Geschichte. Insbesondere für das Mittelalter. Ich dachte, ich würde dir einen Gefallen damit tun, wenn ich dir die Möglichkeit biete, diese Zeit ‚live‘ zu erleben. Wenn ich mich geirrt habe, so entschuldige bitte. Solltest du den Wunsch verspüren, in deine Zeit zurückzukehren, so musst du lediglich in den Stall gehen und der Nebel wird dich in deine Zeit versetzen. Alles wird dann wieder sein wie vorher. Du wirst dich nicht einmal an diese Episode erinnern können. Solltest du jedoch den Mut aufbringen, dich auf
mich einzulassen, dann verspreche ich dir Abenteuer, die du immer gesucht hast, und Geschichte live. – Zurück in deine Zeit kannst du dann immer noch, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.“
Das, was ich in diesem Moment empfand, ist nur schwer in Worte zu kleiden. Ich glaube, am genauesten ist es damit beschrieben, dass ich schwankte zwischen dem Wunsch endlich aufzuwachen, und der Neugier, zu erfahren, was mir dieser eigenartige Traum sonst noch bieten würde. Ich war mir allerdings absolut nicht sicher, ob das, was ich eben erlebte, tatsächlich ein Traum war. Das Geschehen war zwar völlig surreal, aber dennoch auf eine beklemmende Weise real.
Langsam rutschte ich mit dem Rücken an der Stallwand herab, hockte mich ins Gras und murmelte:
„Seltsamer Traum. Aber was soll’s. Irgendwann wirst du schon wieder aufwachen.“
Die in meinem Schoß sitzende Katze schaute mich einen Moment lang an, hob dann beide Vorderpfoten und strich mir sanft über die Nasenflügel.
„Wenn die jetzt die Krallen ausfährt!“ schoss mir durch den Kopf.
Wieder hörte ich das Lachen in meinem Kopf.
„Keine Angst, ich habe nicht die Absicht, dich zu verstümmeln. Doch was meinst du, möchtest du probieren, mir auch weiterhin zu vertrauen?“
„Also doch wie beim gestiefelten Kater?“ dachte ich, noch ehe ich erkannte, dass meine Gedanken so frei nicht mehr waren.
„Wäre es für dich einfacher, wenn ich eine menschliche Gestalt hätte?“
„Ich glaube schon. Die Geschichte wäre dann immer noch verrückt genug, aber die Unterhaltung einfacher.“
Bei meiner gedachten Antwort schaute ich auf die Katze, die mich – wie mir schien – nachdenklich betrachtete.
„Vermutlich hast du Recht. – Komm, setz mich auf den Boden, schließe die Augen und stell dir vor, wie ich aussehen könnte, wenn ich ein menschliches Wesen wäre.“
Wunschgemäß tat ich, was sie von mir verlangte und hörte – hörte jetzt wirklich! – wenige Sekunden später Silvias Stimme.
„Du darfst jetzt die Augen öffnen.“
Einigermaßen gespannt darauf, was mich erwarten würde, schlug ich gehorsam die Augen auf. Die Katze war verschwunden. Statt ihrer
stand dort, wo ich sie abgesetzt hatte, eine Frau.
Das weibliche Wesen, bei dem es sich ja nur um Silvia handeln konnte, welche im hellen Licht eines vollen Mondes vor mir stand, war mittelgroß, hatte lange, dunkle Haare und war sehr zierlich. Sie trug ein schlichtes Kleid aus grobem, hellem Leinen, welches ihr bis zu den Füßen reichte. Um die Hüften hatte sie einen Gürtel geschlungen, an dem diverse Beutel befestigt waren. Ihre schmalen Schultern bedeckte ein wollenes Tuch, welches von einer silbernen Spange zusammengehalten wurde. In ihrem ebenmäßigen Gesicht fielen besonders die großen, dunklen Augen auf, die mich mit belustigtem Spott betrachteten.
Seien wir ehrlich, jeder Mensch, gleichgültig ob Frau oder Mann, hat hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes seines Lebensgefährten gewisse Wunschvorstellungen. Solche Idealtypen werden dann gemeinhin als ‚Traumfrau‘ oder ‚Traummann‘ bezeichnet. (Das Beste an solchen Wesen dürfte vermutlich die Tatsache sein, dass sie zumeist ein Traum bleiben. Hat es doch den Vorteil, dass man nicht in die Verlegenheit kommt, irgendwelche Abstriche an diesen Halbgöttern vornehmen zu müssen.) Dies weibliche Wesen, welches so unvermutet vor mir aufgetaucht war, besaß – zumindest äußerlich – tatsächlich alle Attribute, die ich insgeheim mit einer Traumfrau verband. Wenn nun auch noch der Rest ...
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass meine Reaktion auf ihr Erscheinen ziemlich daneben geriet. Ich fürchte, ich habe sie mit offenem Mund und einem vermutlich reichlich dämlichen Gesichtsausdruck angestarrt. Die Frau nahm es zum Glück gelassen. Sie ließ mir Zeit, mich von meiner Überraschung zu erholen, verzog schließlich den hübschen Mund zu einem spöttischen Lächeln und bemerkte:
„Ich trage keine Schuld, wenn dir an meinem Äußeren etwas mißfallen sollte. Da ich deine Gedanken lesen konnte, habe ich mir alle erdenkliche Mühe gegeben, deinen Vorstellungen gerecht zu werden. – Allerdings ...“ sie schaute an sich herunter, „...bei der Körperlänge warst du ausgesprochen sparsam. Einsfünfundsechzig ist nicht eben viel. Aber du musstest mich ja deiner Länge anpassen. - Oder hätte ich sagen sollen: Unterordnen?“
„Nein, nein!“ beeilte ich mich mit rauer Stimme zu versichern.
Ich muss gestehen, dass ich mir reichlich belämmert vorkam. Das was ich hier erlebte, war alles ein bisschen viel für meine grauen Zellen. (In meiner Konfusion hatte ich nicht einmal die Anspielung auf meine Körpergröße registriert.) Aber eines stand fest: Mein Traum, wenn es überhaupt einer war, hatte nach seinem bedrückenden Anfang eine unbestreitbar äußerst attraktive Komponente erhalten.
Mit schwingendem Rock drehte sich Silvia um die eigene Achse.
„Also gefalle ich dir?“
„Doch, doch.“
„Lüg‘ mich lieber nicht an. Wenn mir danach ist, kann ich immer noch deine Gedanken lesen“, erwiderte sie lachend.
„Nein! Würde ich nicht tun.“
„Da bin ich aber beruhigt ...“
Die Ironie in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich neben mich in das weiche Gras und lehnte sich ebenfalls an die Stallwand. Erst jetzt fiel mir auf, dass sich auch das Wetter geändert hatte. Bei meiner Ankunft auf dem Hof hatte ein stürmisches, nass-kaltes Novemberwetter geherrscht. Jetzt hingegen war die Witterung frühlingshaft lau und trocken. Ich atmete tief durch und der Geruch nach frisch gepflügter Erde vermischt mit dem Rauch eines Holzfeuers stieg mir in die Nase. Während ich noch versuchte, diese neue Überraschung zu verarbeiten, fühlte ich Silvias Hand auf meiner Schulter. In diesem Moment wurde mir klar, dies konnte unmöglich ein Traum sein. Fühlen, riechen, mit allen Sinnen seine Umgebung wahrnehmen – dann träumt man doch nicht!
Verständnislos schüttelte ich den Kopf.
„Das gibt’s doch gar nicht. Versetzt in eine andere Zeit. Das ist doch unmöglich! – Unfug. Blödsinn. Quatsch.“
„Warum?“ hörte ich Silvias Stimme dicht an meinem Ohr und spürte sogar ihren warmen Atem. „Nur weil du es nicht verstehst, muss es unmöglich sein? Unmöglich ist eigentlich nur deine Engstirnigkeit. Auch wenn du es nicht gerne hören wirst, aber du benimmst dich ebenso borniert und überheblich, wie es alle Menschen zu allen Zeiten taten. Immer glaubten sie den Gipfel der Erkenntnis erreicht zu haben. Du lachst über jene, die annahmen, Blitz und Donner seien Götter. Du
amüsierst dich über die, die glaubten, die Erde sei eine Scheibe. Du empörst dich über die Kirche, die Giordano Bruno und Galilei wegen ihrer Ansichten vor ein Tribunal der Inquisition gezerrt hat, verhältst dich jetzt aber selber nicht anders als die damaligen Kleriker. Nur weil etwas nicht in dein Weltbild passt, darf es das nicht geben. Basta!“
Ihr Vergleich mit den alten Kirchenfürsten traf mich tief.
„Das kannst du doch nicht vergleichen!“ erwiderte ich empört. „Wir sind inzwischen viel aufgeklärter als damals. Wir haben die Relativitätstheorie, die Genforschung und überhaupt die ganzen Naturwissenschaften und die...“
„... bringen ständig neue Erkenntnisse und werfen solche, die einst als unumstößlich galten, über den Haufen“, unterbrach sie mich. „Aufgeklärt sein heißt doch nichts anderes als offen sein für etwas Neues. Bereit sein, Irrtümer einzugestehen und nicht jede jemals gemachte Erkenntnis als endgültig zu betrachten. Einstein hat seinen Erklärungsversuch der Zeit Relativitätstheorie genannt. Du bist derjenige, der sie zum Dogma erklärt.
Es ist auch nicht notwendig, dass du deine Reise in eine andere Zeit verstehst. Es ist völlig ausreichend, wenn du akzeptierst. Schau mal, du hast doch auch elektronische Geräte bedient, ohne je verstanden zu haben, wie und warum deren Technik funktioniert. Du hast morgens in den Spiegel gesehen und einen Menschen entdeckt, dessen ‚Sein‘ du dir bis heute nicht erklären kannst. Im Grunde wusstest du nicht mehr über ihn, als dass er wieder einmal rasiert werden musste. Du denkst und weißt dabei nicht einmal, was du tust. Alles Realitäten, doch verstanden hast du sie nie. Dennoch hat dich das nie daran gehindert, sie als solche zu akzeptieren. Mehr musst du auch jetzt nicht tun. Genieße einfach die Möglichkeit, etwas zu erleben, von dem andere nur träumen.“
Dem war schwer zu widersprechen, wenngleich mein Verstand sich beharrlich weigerte, das Geschehen als real zu begreifen.
„Die eine oder andere Erklärung bin ich dir, glaube ich, noch schuldig“, fuhr Silvia fort. „Du musst ja zumindest wissen, wann und wo wir uns befinden.“
Sie zog das Tuch enger um ihre Schultern, lehnte den Kopf an die Hauswand und blickte hinauf zu den Sternen.
„Wir sind nach wie vor am gleichen Ort – auf dem Toythof in
Heiligenkirchen. Nur die Zeit ist eine andere. Nach dem in deiner Zeit gültigen Gregorianischen Kalender schreibt man heute den zehnten Mai des Jahres Dreizehnhundertachtundfünfzig.
Vor drei Jahren wurde Karl IV. in Rom zum Kaiser gekrönt. In Frankreich wütet der vor einundzwanzig Jahren begonnene Hundertjährige Krieg, von dem natürlich noch niemand weiß, dass er einmal so genannt werden wird. Der Sitz des Papstes ist schon seit einigen Jahren Avignon, wo zur Zeit Papst Innozenz VI. residiert und sich bemüht, den Heiligen Stuhl wieder in die Ewige Stadt zu verlegen.
Seit über hundert Jahren kennt und fürchtet man die Inquisition, die den Höhepunkt ihres Wirkens aber noch längst nicht erreicht hat. Eine Heimsuchung ganz anderer Art, die Pest, hatte vor acht Jahren ihren ersten Höhepunkt in Europa. Sie kostete innerhalb von nicht ganz drei Jahren fünfundzwanzig Millionen Menschen das Leben. Das war gut ein Drittel der gesamten Bevölkerung.
Das Land Lippe, so wie du es kennst, gibt es noch nicht. Die Sippe derer zur Lippe hat ihren Stammsitz noch in Lippstadt. Ihre spätere Residenz, Detmold, ist augenblicklich nichts als ein unbedeutendes Nest, welches sich erst seit kaum zwanzig Jahren überhaupt als Stadt bezeichnen darf. Deine Heimatstadt, Lemgo, ist aber bereits Mitglied der Hanse und die reichste Stadt auf Lippischem Gebiet diesseits des Teutoburger Waldes. Einen großen Teil des späteren Lippischen Ostens teilen sich die Grafen von Schwalenberg und die Grafen von Sternberg, die übrigens miteinander verwandt sind.
Einen anderen Teil der ehemals riesigen und bedeutenden Grafschaft Schwalenberg hat der letzte lippische Regent, Simon I., bereits 1323 erworben und sich, da die Ländereien ein Lehen des Klosters Corvey waren, damit belehnen lassen. Als Simon vor vierzehn Jahren starb, hatte er seinen Sohn Otto zum Nachfolger auserkoren. Otto war nicht unbedingt derjenige seiner Söhne, den er sich als Nachfolger gewünscht hätte, aber der einzig in Frage kommende, der ihm verblieben war. Zwar lebte noch einer seiner Söhne, Bernhard der Jüngere, doch kam dieser als Geistlicher, er war Dompropst in Paderborn, für die Nachfolge nicht in Betracht. Nach dem Tod des Vaters überlegte es sich Bernhard anders. Er gab seine geistliche Karriere auf und meldete Ansprüche auf die Herrschaft an.
Obwohl er wusste, dass dies nicht im Sinne des Vaters sein konnte,
da der immer gegen eine Aufspaltung des Landes gewesen war, gab Otto dem Drängen des Bruder nach und teilte sich mit ihm die Herrschaft. Der bedeutendere Teil ihrer derzeitigen Besitzungen liegt nach wie vor südlich des Teutoburger Waldes, also um Lippstadt herum und nicht in dem Landstrich, den du als Lippe kennst.
Reicht dir das für den Anfang?“
„Was den geschichtlichen Hintergrund angeht – vorerst ja“, erwiderte ich, inzwischen fest entschlossen, auf diesen eigenartigen Traum einzugehen. „Aber ein paar Fragen hätte ich doch noch. – Wovon leben wir? Kann ich die Menschen überhaupt verstehen? Fallen wir nicht auf? Und vor allem anderen: Wie komme ich zurück in meine Zeit?“
„Du musst halt sehr gut achtgeben, dass dir deine Reiseleiterin nicht verlorengeht“, kicherte Silvia. „Aber im Ernst, mit der Sprache wirst du kein Problem haben. Weder mit dem Verstehen, noch mit dem Sprechen. Was das Auffallen betrifft: Gut, dass du mich dran erinnert hast. – Mach mal die Augen zu.“
Ich schloss brav die Augen.
„Jetzt darfst du sie wieder öffnen“, hörte ich kurz darauf. „Und stell dich bitte hin, damit ich sehen kann, was ich angerichtet habe.“
Ihre Stimme klang einigermaßen amüsiert.
Gehorsam öffnete ich die Augen, stand auf und schaute an mir herunter. Mein Outfit hatte sich völlig verändert. Statt Jeans trug ich jetzt eine Hose aus Leder, statt Jacke und Sweatshirt eine Tunika aus grobem Leinen. Um die Hüfte schlang sich ein breiter Ledergürtel, in dem griffbereit ein Messer steckte. Zusätzlich baumelten einige Beutel daran, von denen ich nicht wusste, was sie enthielten. Auch mein Schuhwerk hatte sich verändert. Ich trug jetzt weiche, merkwürdig anzuschauende flache Lederschuhe, die zumindest hinsichtlich der Machart eine gewisse Ähnlichkeit mit Mokassins aufwiesen.
Silvia musterte mich mit skeptischem Blick, nickte zufrieden und bemerkte:
„Ich will mich ja nicht loben, aber ich denke, der Bogenschütze ist mir recht gut gelungen.“
Erst jetzt sah ich, dass neben mir ein Langbogen, den ich als englisch einstufte, sowie ein Köcher mit Pfeilen lagen.
„Ich will nicht bestreiten, dass wir dank deiner Fähigkeiten der Zeit
entsprechend gekleidet sind – soweit ich das überhaupt beurteilen kann. Doch eines steht selbst für mich außer Frage: Ein exotisches Paar sind wir allemal“, gab ich zu bedenken.
„Sicher sind wir das. Aber genau das gibt uns die Bewegungsfreiheit, die wir benötigen, um uns im Lande umzusehen. Ein Söldner, der eine neue Stellung sucht, ist relativ unauffällig. Dass er von seiner Frau begleitet wird, ist vielleicht ein wenig ungewöhnlich, aber durchaus im Rahmen. Dass man uns als fahrendes Gesindel ansehen wird, steht auf einem anderen Blatt, ist aber der Preis der Freiheit. Leute wie wir lassen halt die mittelalterliche Bodenständigkeit vermissen.“
Ich nickte ergeben.
„Also Gesindel sind wir. Na schön! Was den anderen Hinweis angeht, nehme ich an, dass du mir damit sagen willst, dass ich dich als meine Frau vorstellen darf. – Hast du eigentlich keine Angst, dass man uns auf den Scheiterhaufen stellt? Dich wegen Hexerei und mich wegen Landstreicherei?“
Silvia sprang auf und begann übermütig um mich herum zu tanzen.
„Ah, Junker, findet Ihr langsam Gefallen an meinem Spiel? Vernehm‘ ich in Euren Worten überdies gar Sorge um mich? Oder ist es lediglich die Angst um Euer eigen Leben, die Euch bewegt? – Egal! Sorgt Euch nicht, mein Recke. Ihr wisst doch, dass ich eine Zauberische bin. Glaubt mir, wer immer uns ans Leben will, dem zeige ich die Krallen.“
Bei diesen Worten hob sie lachend die Hände, krümmte die Finger und hielt sie mir vors Gesicht.
Ich ergriff den Langbogen, hielt ihn mit gestrecktem Arm in die Höhe und sagte, bemüht, auf ihre Sprechweise einzugehen:
„Sollte nicht ein Mann in der Lage sein, sich und sein Weib zu schützen?“
„So ist’s recht, Junker. Nehmt Euer Schicksal in die Hand und beginnt die Rolle zu spielen, die es Euch zugedacht hat. Doch vergesst eines nicht ...“, sie kicherte verhalten, „... hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau.“
„Eure seltsamen Ansichten über die Stellung des Weibes dürften derzeit noch unangebracht sein. Ihr mögt sie daher getrost ein paar Jahrhunderte für Euch behalten“, erwiderte ich würdevoll. „Aber mal
im Ernst, wie geht es nun weiter?“
„Heute ist in Lemgo ein großer Markt. Ich dachte, wir könnten uns den einmal anschauen. Was meinst du?“
„Eine gute Idee. – Und wie kommen wir nach Lemgo?“
„Zu Fuß, mein Gebieter“, lächelte sie mit den Augen klimpernd. „Da Ihr nur ein armer Söldner seid, der das bisschen Silber, welches er verdient, lieber in der Taverne durch den Schlund jagt, statt es seiner Gemahlin anzuvertrauen, besitzen wir leider keine teuren Rösser. Wir müssen uns auf Schusters Rappen durchs Leben quälen.“
„Schade eigentlich“, erwiderte ich, wobei ich mit Wehmut an meinen alten Landy dachte, der hier irgendwo neben mir stehen musste – nur eben ein paar Jahrhunderte später.
„Stell dich nicht an! So ein kleiner Spaziergang tut dir ganz gut, du wirst sehen.“
Leise seufzend ergab ich mich in mein Schicksal. Ich ergriff den Köcher mit den Pfeilen, Silvia ihre große Ledertasche, die neben ihr im Gras lag, dann schulterten wir unser Gepäck und verließen den Hof.
„Komm, hier geht’s lang.“
Silvia wies auf einen Feldweg, den ich aus späteren Zeiten als den Unteren Weg kannte. Mit der mir vertrauten asphaltierten Straße, auf der ich noch vor zwei Stunden gefahren war, hatte er allerdings nichts gemein. Es war lediglich ein übel ausgefahrener Feldweg, wie er schlimmer nicht hätte sein können. Zum Glück war er trocken.
Wir folgten dem Weg in Richtung Heiligenkirchen. Rechts von uns lagen Felder, die von der schwarzen Silhouette des Teutoburger Waldes begrenzt wurden. Auf der linken Seite, dort, wo die Berlebecke durch das Tal floss, lag das Gelände tiefer und schien sumpfig zu sein. Bodennebel, aus dem Weiden, Birken, Erlen und Büsche aufragten, bedeckte den ganzen Talgrund bis an den Fuß des Königsberges. Die milde Nachtluft roch nach Frühling, Erde und Landwirtschaft. Ich glaubte sogar den schwachen Duft von Schlüsselblumen zu schnuppern, doch das war bestimmt Einbildung.
Nach wenigen hundert Metern passierten wir ein Gehöft, das rechter Hand auf einem Hügel lag. Schwarz und scharf zeichnete es sich gegen den Nachthimmel ab.
„Schau mal, dort hinter dem Gehöft liegt der alte Thingplatz.“
Silvias Stimme war nur ein Flüstern.
„Dort hat vor rund sechshundert Jahren eine Schlacht zwischen Franken und Sachsen stattgefunden. Die Alten erzählen, in stillen Nächten könne man den Lärm der Schlacht und die Schreie der Verwundeten noch hören. Auch fänden die Toten hier keine Ruhe, sondern irrten über das Schlachtfeld.“
„Glaubst du etwa den Unfug? Jetzt sag mir nicht, du hast Angst.“
Ich war stehengeblieben und sah sie erstaunt an. Silvia zuckte jedoch lediglich mit den Schultern und zog mich weiter
Schweigend wanderten wir durch die Nacht, bis wir auf einen breiten Weg trafen. Ich vermutete eine Straße. Rechter Hand führte sie zu einem massigen Kirchturm, links verschwand sie in einem Gebüsch, hinter dem vermutlich die Berlebecke floss.
„Wir müssen uns links halten“, erklärte meine Begleiterin. „Dies ist die Straße, die von Paderborn über Detmold nach Lemgo und weiter nach Minden führt. Würden wir in die andere Richtung gehen, kämen wir unterhalb der Falkenburg vorbei, deren Ruinen du sicherlich kennst. Zu dieser Zeit ist sie aber noch eine völlig intakte Festung.“
Der Begriff Straße für diesen Feldweg der untersten Kategorie schien mir wenig angebracht, aber was half’s! Mir blieb nichts anderes übrig, als meiner Reiseführerin zu glauben.
Schon nach wenigen hundert Metern erreichten wir eine Furt.
„Jetzt gibt’s nasse Füße“, stellte ich fest, bückte mich und zog die flachen Lederschuhe aus. Zum Glück hatte Silvia mir eine Hose aus dem gleichen Material verpasst und nicht die zu dieser Zeit üblichen wollenen Beinlinge. Trockne Wolle kratzt schon unangenehm, aber nasse Wolle wäre so ziemlich das Letzte gewesen, das ich mir gewünscht hätte.
Silvia hatte mit amüsiertem Interesse zugesehen.
„Ihr schont wahrlich Euer Schuhwerk, Junker ... Sagt, wollt Ihr mich nicht hinübertragen?“
„So sich Euer Gewicht nicht gerade umgekehrt proportional zu Eurer Größe verhält, möchte ich den Versuch wohl wagen. Nur geb‘ ich zu bedenken, dass der Übergang schlammig und glitschig aussieht. Ihr geht mit Eurem Wunsch also ein recht hohes Risiko ein. So Euch das Schicksal übel gesonnen ist, holde Maid, liegen wir beide im Dreck.“
„Schon gut! Hast ja recht“, seufzte Silvia. „War ja nur ein Versuch.“
Sie nahm ihre Sandalen in die Hand, schürzte den Rock und watete ins Wasser. Ich folgte ihr vorsichtig.
Wie erwartet war der Boden glatt und rutschig. Und so, wie der Morast roch – nun, ich war froh, dass ich in der Dunkelheit nicht genau sehen konnte, woraus er bestand. Obwohl der Bach hier nicht sehr breit war, kostete es doch einige Mühe und Zeit, ans andere Ufer zu kommen, da keiner von uns den Wunsch verspürte, in dem Gewässer auch noch ein Bad zu nehmen.
Glücklich ans anderen Ufer gelangt, zogen wir unsere Schuhe wieder an, um dann dem breiten Weg zu folgen, der durch ein Waldstück steil auf den Königsberg führte. Oben wurde der Wald lichter und endete schließlich. Im hellen Mondlicht konnte ich sehen, wie sich unsere Straße durch kleine Felder schlängelte bis – etliche hundert Meter entfernt – zu einer Gabelung an einem riesigen Baum.
Silvia war stehengeblieben und schaute mich auffordernd an.
„Na, erkennst du die Gegend wieder? Weißt du, wo wir lang müssen?“
„Keine Ahnung, aber ich nehme an, dass der linke Weg nach Detmold führt und ich ihn als den Alten Postweg kenne. Zu dem rechten fällt mir nichts ein. Welchen von beiden wir nehmen müssen, kann ich dir nicht sagen. Das sieht alles so anders aus ...“
„Du warst gar nicht schlecht. Hier links geht es nach Detmelle – und das können wir getrost vergessen. Um diese späte Stunde wird man uns sowieso nicht in die Stadt lassen. Wir müssen den rechten Weg nehmen. Der führt uns am Johannettental vorbei, über den Apenberg nach Lemgo.“
Ich stützte mich auf den Langbogen, schaute die beiden Wege entlang, doch es gab nichts, an das ich mich hätte erinnern können.
„Und woher weißt du das so genau?“ fragte ich.
„Du hast dir eben eine exzellente Reiseführerin ausgesucht“, entgegnete sie lachend.