Читать книгу Alles für die Katz - Lippe 1358 - Ulrich Pflug - Страница 6
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ОглавлениеWährend unserer nächtlichen Wanderung bemühte sich Silvia, mir einiges über die Zeit, in der wir uns befanden, zu erzählen. Sie erklärte mir die derzeitigen politischen Verhältnisse, versuchte mir so viel wie irgend möglich über Sitten und Gebräuche zu vermitteln und beantwortete eingehend meine Fragen. Denen, die ihre Person betrafen, wich sie allerdings beharrlich aus. Selbst meine Frage, warum gerade ich von ihr für diese Zeitreise ausgewählt worden war, blieb unbeantwortet.
„Nimm es als Geschenk und genieße es, solange du möchtest“, hatte sie leichthin gesagt. „Wenn du meiner oder der Reise überdrüssig geworden bist, so sag es und ich werde dich umgehend zurückbringen.“
Ich dachte noch über diese Bemerkung nach, als Silvia plötzlich stehen blieb. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie nach vorn und sagte:
„Jetzt gib gut Acht, mein Gemahl. Siehst du die Wälle und Hecken dort? Das ist die Landwehr von Lemgo.“
Im Zwielicht des grauenden Morgens konnte ich nicht viel mehr als einen dunklen Streifen erkennen, der vor uns die Heidefläche begrenzte. Es hätte ebensogut ein Waldrand sein können; doch wenn Silvia sagte, es sei die Landwehr, dann würde es wohl so sein.
„Und wie kommen wir dort weiter?“ wollte ich wissen. „Der Durchgang der Straße wird bestimmt bewacht.“
„Selbstverständlich! Doch du musst dir keine Gedanken machen. Die Wachen schlafen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Hörst du mir eigentlich nicht richtig zu?“ kicherte sie. „Ich hab‘ dir doch gesagt, dass ich eine Zauberische bin.“
Ich gab es auf, irgend etwas von dem, was sie tat oder sagte, verstehen zu wollen. Es hatte ohnehin wenig Zweck und auf die eine oder andere Verrücktheit mehr oder weniger kam es nicht mehr an.
„Auch wenn die Männer schlafen, müssen wir dennoch leise sein, denn selbstverständlich können sie geweckt werden, wenn wir zuviel Lärm machen.“, flüsterte meine selbsternannte Gemahlin mir zu, kurz bevor wir den geschälten Fichtenstamm erreichten, der als Schranke diente.
Der Kuckuck mag wissen, wie sie es angestellt hatte, die Wache in Tiefschlaf zu versetzen, aber sie hatte es tatsächlich geschafft. Als wir über die Schranke stiegen, wurde unsere Turnübung vom beseligten Schnarchen zweier Männer begleitet, die schlafend neben dem Schlagbaum im Grase lagen. Uns bekümmerte das wenig. Ohne einen Blick an die Wachen zu verschwenden, schritt Silvia auf einen schmalen Waldweg zu, der von der Straße abzweigte. Durch dichtes Buschwerk ging es nun auf den Biesterberg. Wenigstens kannte ich ihn unter diesem Namen und wusste, dass er zu meiner Zeit lange als Truppenübungsplatz gedient hatte.
Der Morgen war gerade angebrochen, als wir aus dem Wald heraus auf eine weite Heidefläche traten, welche die Flanken des Berges bedeckte. Auf der Kuppe stand eine mächtige Linde. Silvia ging geradewegs auf den Baum zu und ließ sich in das weiche Gras fallen; welches den Stamm umgab. Ich tat es ihr nach.
Es war ein hübscher Ort zum Rasten. Da der nördliche Hang des Berges sanft abfiel und nur vereinzelt mit niedrigem Buschwerk bewachsen war, konnte man fast ungehindert den Blick schweifen lassen. Vor uns, im Tal der Bega, beleuchtete die aufgehende Sonne eine Stadt, bei der es sich nur um Lemgo handeln konnte. Die mir bekannten, charakteristischen Türme der Nikolaikirche gab es zwar noch nicht, wohl aber zeichneten sich die von St. Johann und St. Marien scharf gegen den blauen Himmel ab. Eine Stadtmauer – ich zählte sieben Tortürme – umgab den kleinen Ort. Auf den großen Straßen, die im Westen nach Herford und im Osten nach Hameln führten, glaubte ich Fuhrwerke erkennen zu können.
„Erkennst du die Stadt?“ fragte Silvia leise.
„Klar! Das ist Lemgo, aber es ist so unglaublich klein.“
„Klein!? – Zu dieser Zeit ist Lemgo eine der größeren und bedeutenderen Städte in weitem Umkreis. – Sieh mal dort.“ Sie zeigte auf ein von Katen umgebenes befestigtes Gehöft im Südosten der Stadt. „Das ist Brake. Das Renaissanceschloss, welches du kennst, gibt es noch nicht, aber als Burg wird das Anwesen schon bezeichnet. Es dient den Herren zur Lippe als Wohnsitz.“
Sie kicherte.
„Sie sind ganz schön gerissen, die Lemgoer Pfeffersäcke. Sie verstehen sich ausgezeichnet darauf, Bedingungen auszuhandeln, die
ihnen nützlich sind. In den Privilegien der Stadt, die sie den Edlen zur Lippe abgerungen haben, ist ausdrücklich festgehalten, dass die Lipper keine Burg innerhalb der Stadtmauern besitzen dürfen. Um dennoch eine gewisse Kontrolle zu haben, hat ihnen der Lipper Burg Brake direkt vor die Nase oder richtiger vor die Stadttore gesetzt.“
„Tja, so sind sie“, gähnte ich müde von der ungewohnten Nachtwanderung. Die wärmenden Strahlen der Sonne genießend lehnte ich mich an die raue Rinde des Baumes. Im Blätterdach über uns zwitscherten die Vögel, ansonsten war es still. Während der Nacht war mir das nicht aufgefallen, aber jetzt berührte es mich eigenartig. Träge ließ ich den Blick über die Heidefläche schweifen, deren Ränder von allerlei Buschwerk bewachsen waren. Dazwischen entdeckte ich ein paar halb zerfallene Gebäude.
„Sag mal, du kenntnisreiches Weib“, wandte ich mich an meine Begleiterin, „weißt du auch, um was es sich bei den Ruinen dort drüben handelt?“
„Reste eine ausgegangenen Hofes“, erwiderte sie ohne hinzuschauen. „Die Bewohner sind vermutlich in die Stadt gezogen. – Das hier ist übrigens ein Gerichtsplatz. Wir sitzen unter der
Feme-Linde.“
Neugierig schaute ich hinüber zu dem verlassenen Gehöft, als aus einer etwas besser erhaltenen Kate eine Gestalt mit Mönchskutte trat. Sie reckte sich im Morgenlicht, stutzte, als sie unser ansichtig wurde, und kam dann langsam herüber.
„Sind doch nicht alle fortgezogen. Zumindest einer ist noch da“, bemerkte ich halblaut, wobei ich mit dem Kopf auf die sich nähernde Gestalt wies.
Es war ein recht korpulenter Mönch, der in seiner braunen Kutte auf uns zu kam. Da von einem frommen Eremiten wohl kaum eine Gefahr ausgehen konnte, blieben wir ruhig sitzen und schauten dem Mann erwartungsvoll entgegen.
Der Mönch blieb einige Meter vor uns stehen, faltete die Hände vor seinem Bauch und sah eine Weile prüfend auf uns herab.
„Ihr seid nicht aus dieser Gegend“, konstatierte er. „Habt ihr den Weg verfehlt?“
Ohne auf Tonfall und Inhalt seiner Worte zu achten, stellte ich erleichtert fest, dass ich den Mann verstehen konnte.
„Gott zum Gruße, frommer Mann“, hörte ich Silvia erwidern.
„Höflichkeit scheint nicht eben Eure Stärke zu sein, da Ihr uns mit Fragen überfallt, statt uns zu begrüßen, wie es der Brauch ist. – Doch wenn wir auch Fremde in diesem Lande sind, so habt Ihr doch nichts von uns zu befürchten. Wir möchten nur ein wenig rasten und ziehen gleich weiter, um den Markt zu Lemgo aufzusuchen.“
Von der milden Schelte sichtlich getroffen, schaute der Mönch verlegen zu Boden.
„Vergebt mir meine Unhöflichkeit“, bat er. „Seit dieser Ort wüst fiel, kommen kaum noch Menschen her - und Fremde schon gar nicht. – Ich bin wohl zu viel allein und habe darob vergessen ... Erlaubt mir, euch zur Sühne eine kleine Vesper anzubieten. Bitte, sagt nicht nein.“
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie es sich bei ‚Zauberischen‘ bezüglich der Nahrungsaufnahme verhielt, aber die Einladung rief mir in Erinnerung, dass ich schon seit etlichen Stunden nichts mehr zu mir genommen hatte. Allein bei der Erwähnung von etwas Essbarem meldete sich mein Magen mit einem erbärmlichen Knurren. Ich hätte nur zu gern gewusst, ob es richtig war, die Einladung anzunehmen oder ...
„Mit Freuden nehmen wir Euer Angebot an“, entgegnete ihm Silvia und enthob mich damit einer Entscheidung. „Aber mit Verlaub, Ihr seid auch nur ein armer Klausner. Wir wollen Euch nicht Eurer Vorräte berauben.“
„Keine Sorge! Einige Bauern sind recht freigiebig. Sie versorgen einen armen Eremiten aufs Beste. – Kommt, folgt mir zu meiner bescheidenen Herberge.“
Wir ergriffen unser Gepäck und schritten nebeneinander über die Heide zur Behausung des Mönches.
„Oh je, ich hab ja völlig vergessen, Euch zu sagen, wer wir sind“, bemerkte meine Begleiterin leicht zerknirscht, holte das Versäumte aber augenblicklich nach. „Mein Name ist Silvia und mein Gemahl wird Roger genannt.“
„Mich nennt man Reinald“, erklärte der Mönch. „Ich lebe in einem der verlassenen Kotten hier auf dem Berg und beschäftige mich mit dem Studium der Kräuter und Pflanzen. Aus dem, was hier wächst, lassen sich allerlei heilsame Tränke und Salben herstellen, mit denen ich schon manche Not lindern konnte.“
„Sicher“, fuhr er fort, „manchmal fehlt mir die Bibliothek eines Klosters, um irgend etwas nachschlagen zu können, aber...“
Wir hatten die Kate erreicht, vor der ein roh gezimmerter Tisch und zwei einfache Bänke standen.
„Nehmt einstweilen Platz, während ich mich um das Essen kümmere.“
Mit diesen Worten verschwand Reinald in seiner Kate.
Ich lehnte Bogen und Köcher gegen die Hauswand und setzte mich auf eine der Bänke. Silvia nahm neben mir Platz, ließ ihre Tasche von der Schulter gleiten und ins Gras fallen.
„Müde bin ich“, stöhnte sie, lehnte sich gegen die Hauswand, streckte die Beine unter den Tisch und schloss die Augen. „So gefällt es mir. Gemütlich in der Sonne liegen, ein wenig dösen ...“
„... und ein bisschen schnurren. Eben typisch Katze“, vollendete ich ihren Satz.
Sie drehte den Kopf und schaute mich aus halb geschlossenen Augen träge an.
„Katzen schnurren nur, wenn sie gestreichelt werden.“
Sie schloss die Augen erneut und gab mir damit Gelegenheit, meine Lage zum wiederholten Mal zu überdenken. Da hockte ich im tiefsten Mittelalter auf einer Bank in der Sonne, mir zur Seite ein sympathisches weibliches Wesen, und wartete darauf, dass mir ein Eremit das Frühstück brachte. So richtig glauben vermochte ich es immer noch nicht, dass ich auf einer Zeitreise sein sollte. Ein Traum konnte es allerdings auch nicht sein, da ich das, was ich bisher erlebt hatte, mit allen Sinnen wahrgenommen hatte. Ich hatte gesehen, gehört, gefühlt, gerochen - lauter Dinge, die man im Traum nicht empfindet. – Apropos riechen ...
Im Haus hörte ich Reinald rumoren. Aus der offenen Haustür drang der verführerische Duft von gebratenem Speck und kündete von zu erwartenden Gaumenfreuden. Das Geruch war ebenso real wie mein knurrender Magen. Ich gab auf, weiter über die Unmöglichkeit meines Hierseins nachzudenken, und tat machte es mir wie Silvia auf der Bank bequem, genoss die wärmenden Strahlen der Sonne – und war bald darauf eingeschlafen.
„Ihr könnt wach werden. Das Mahl ist gerichtet.“
Schlaftrunken rieb ich mir die Augen. Der Mönch hatte einiges
aufgefahren. Brot, gebratene Eier, Butter, gebratener Speck, Käse und zwei Tonkrüge standen auf dem Tisch. Es gab sogar für jeden einen Teller und einen Becher. Nicht selbstverständlich, da zu dieser Zeit meist gemeinsam aus einer Schüssel gegessen wurde. Das Besteck beschränkte sich auf einen Holzlöffel für jeden.
„Greift zu!“ forderte uns Reinald auf. „Beim Getränk habt ihr die Wahl zwischen Wasser und Bier. Wein kann ich euch leider nicht bieten.“
„Um diese frühe Stunde dürfte Wasser das rechte Getränk sein“, bemerkte Silvia und füllte unsere Becher.
In meinem Kopf vernahm ich ihre Stimme.
„Vergiss nicht, wir sind im vierzehnten Jahrhundert. Auf deinen geliebten Morgenkaffee wirst du, so leid es mir tut, verzichten müssen.“
„Ich hab’ doch gar nichts gesagt!“ dachte ich zur Antwort, nahm mir von dem Ei und dem Speck, spießte mit dem Messer aus meinem Gürtel ein Stück Brot aus der Schüssel und begann mit Appetit zu essen. Auch die anderen bedienten sich und zunächst herrschte das, was man als gefräßige Stille bezeichnet.
„Woher kommt ihr eigentlich?“ wollte Reinald mit vollem Munde kauend wissen. „Entschuldigt meine Neugier, doch eurem Aussehen und eurer Kleidung nach zu urteilen, möchte ich annehmen, dass ihr einen weiten Weg hinter euch habt. Du ...,“ er zeigte mit einem Stück Brot auf Silvia, „... siehst aus wie eine Welsche, doch aus welchem Lande dein Gemahl kommt, vermöchte ich nicht zu sagen.“
Woher wir kamen? Gute Frage! Während ich noch darüber nachdachte, dass ich wohl schlecht – ‚aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert‘ – antworten konnte, begann Silvia ihm bereits unsere Herkunft zu erklären. Da diese Geschichte vermutlich auch für mich gedacht war, hörte ich gespannt zu.
„Wir kommen aus dem Land der Franken“, erzählte sie. „Roger stammt eigentlich aus Wales, einem Königreich auf der Insel Britannia. Vor zwölf Jahren hat er an der Schlacht von Crécy teilge-nommen. Er wurde dabei verwundet, blieb auf dem Festland und schlägt sich seither als Söldner durchs Leben. Wir haben uns vor mehr als fünf Jahren im Süden des Frankenreiches, in einer Stadt namens Arles kennengelernt. Roger bildete damals am Hofe zu les Baux
Bogenschützen aus....“
Hier wurde sie von Reinald, der aufgeregt mit den Händen fuchtelte, unterbrochen.
„Ihr seid in Arles gewesen? Und am Hofe zu les Baux? So kennt ihr sicher auch die Abtei Montmajour. – Zehn Jahre habe ich dort verbracht! Ich kann wohl sagen, es war eine schöne Zeit. Ein angenehmes Klima, Kräuter in Fülle und erst der Wein ....“
Der dicke Mönch schnalzte genießerisch mit der Zunge und sah versonnen vor sich hin.
„Was bewog Euch, von dort fortzugehen?“ fragte ich, wobei ich mir eine Scheibe von dem Käse schnitt. „Am Klima und am Wein wird es ja nicht gelegen haben, wie wir nun wissen.“
„Ich war wohl zu gut.“ antwortete Reinald nachdenklich. „Ich bin in der Abtei zu einem recht ordentlichen Scriptor ausgebildet worden, müsst ihr wissen. Ohne mir schmeicheln zu wollen, darf ich wohl sagen, dass ich einer der besten Schreiber des Klosters war. Ich kopierte Urkunden und Bibeltexte. Meine Arbeiten waren so gut, dass mich mein Abt an das Kloster Cîteaux sandte, um dort zu arbeiten. Nur ein Jahr später wurde ich von dort nach Corvey geschickt, um den dortigen Brüdern zu helfen.“
Einigermaßen verwundert darüber, mit welcher Gelassenheit der Mönch von Entfernungen sprach, die auch bei den im einundzwanzigsten Jahrhundert zu Verfügung stehenden Verkehrsmitteln nicht eben unbeträchtlich waren, schnitt ich mir eine weitere Scheibe von dem Käse ab.
„So seid Ihr ein weit gereister und gefragter Mann“, stellte ich fest. „Ungewöhnlich für einen Mönch. Was aber trieb Euch dann von Corvey in diese Einöde?“
Reinald warf mir einen prüfenden, misstrauischen Blick zu. War ich zu indiskret gewesen?
„Nun, ich wollte mich auf das Wesen der Heiligen Schrift besinnen“, sagte er bedächtig. „Hier kann ich mich völlig der Schrift, dem Gebet und dem Studium der Kräuter widmen.“
Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Der Mönch log nicht nur, sondern hatte allem Anschein nach auch Angst.
Silvia mochte ebenso empfinden wie ich.
„Sagt einmal, Bruder Reinald, habt Ihr nicht Lust, uns auf den Markt nach Lemgo zu begleiten?“ lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. „Wir sind fremd in dieser Gegend und Ihr kennt Euch sicher bestens in der Stadt und auf dem Markte aus.“
„Mit Freuden dien‘ ich euch als Führer.“ Reinald wirkte spürbar erleichtert. „Auch ich gedachte heute den Markt aufzusuchen. Nur dort kann ich die Kräuter erwerben, die hier nicht wachsen.“