Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 - Urs Bircher - Страница 27
»Ihre satirischen Zeichnungen erreichen mehr als ein frontistischer Fackelzug«
ОглавлениеAm 4. August 1938 schrieb Frisch an Gregor Rabinovitch, der als russischer Jude im Ersten Weltkrieg in die Schweiz emigriert und hier ein prominenter Karikaturist am Nebelspalter geworden war. Während etwa Bosco oder Bütsch, um zwei andere Karikaturisten der Zeitschrift zu nennen, stark von graphisch formalen Ideen ausgingen, orientierte sich Rabinovitch am satirischen und sozialethischen Realismus eines George Grosz und einer Käthe Kollwitz. Seine zeichnerisch bemerkenswerten Blätter, in denen er sowohl außenpolitische wie innerschweizerische Probleme aufs Korn nahm, überschritten oft das Genre der Karikatur in Richtung einer sozial engagierten Kunst. Frischs Brief an Rabinovitch lautet:
»Sehr geehrter Herr Rabinowitch!
Seit Jahren genieße ich den Nebelspalter, weil er mir, alles in allem genommen, in bestem Sinne schweizerisch erscheint, und kenne infolgedessen auch Ihre zeichnerische Mitarbeit135 , die in der Satire gewiß zum Schärfsten gehört, wobei ich nur immer wieder bedaure, daß ihr doch ganz wesentlich der Humor fehlt, jenes innerliche und freie Darüberstehen, das dem Künstler, ob er mit dem Stift oder mit der Feder arbeitet, doch allein das Recht gibt, über die Schwächen der andern zu lächeln.136 Glauben Sie nicht auch, daß Sie sich mit gewissen Zeichnungen, denen man eben nicht jenen Humor, sondern die Rache anspürt, nur ins eigene Fleisch schneiden und zwar mit der ganzen Schärfe, die Ihnen eignet? Ich verstehe nun dieses Ressentiment, das mir die Quelle fast all Ihrer satirischen Einfälle scheint, menschlich sehr gut, vielleicht sogar besser als Sie es mir nach diesem Brief zutrauen werden, der Sie beim ersten Lesen sicherlich verstimmen mag, aber es tat mir schon seit Jahren immer wieder leid, wenn ich sehe, wie manche Zeichnungen, wo sich das ganze Talent nur noch vom Hasse führen läßt, durchaus nicht jene treffen, die wahrlich auch nicht unsere Lieblinge sind, sondern vor allem den Mann, der jenen andern im Hasse nichts nachsteht und sich dennoch, ohne in seinem Zeichnen eine höhere Gesinnung zu verraten, zum Richter aufschwingt. Man hat dann stets das peinliche Gefühl, der Verspottete und der Spötter seien sich gleichwertig, und beide Teile sind nicht das, was unser schweizerisches Wollen ist.
Ich würde Ihnen, sehr geehrter Herr Rabinowitch, nicht schreiben, wenn ich mich nicht von persönlichen Vorurteilen frei wüßte; es geht mir um die Sache, die wir geistige Landesverteidigung nennen und der Sie, auch wenn Sie mit gutem Grund sicherlich das Gegenteil wollen, einen schlechten Dienst erweisen. Auch einfachere Leser spüren sicher, daß es Ihnen ja nicht für das Schweizerische, sondern gegen das Deutsche geht, das heutige Deutschland, das auch unsere Gefahr ist, wenn wir nicht wirklich etwas Eigenes sind; das aber heißt: schweizerisch ist nicht das Anti-Deutsche, womit wir uns ausliefern, sondern das Außer-Deutsche. Ich kann es Ihnen kaum klarer sagen. Aber ich spüre, Sie ahnen noch nicht, wie sehr Sie gerade ihrem Feind in den Sattel helfen! Ich
möchte Sie bitten, daß Sie mir das glauben. Darum schreibe ich Ihnen, nur darum; Ihre satirischen Zeichnungen erreichen mehr als ein frontistischer Fackelzug …
Unser Volk hat zur Zeit wieder ein sehr waches Empfinden; man spürt sehr bald, ob ein Mann für uns kämpft oder uns nur benützt, um gegen andere zu kämpfen. Ob jemand in unserer geistigen Landesverteidigung mitzuwirken berufen ist oder nicht, würde nicht davon abhängen, wie lange er schon im Lande ist; ich glaube, Sie sind schon lange hier, trotzdem ist Ihnen das Schweizerische sekundär, was ich spürte, bevor ich wußte, daß Sie, als Künstler einer sozusagen offiziellen Zürcherbildermappe, und vor allem auch Ihre Frau unserer schweizerischen Landessprache nicht nur fremd, sondern vollkommen gleichgültig gegenüberstehen, – und dies nicht als ein gewöhnlicher Herr, sondern als ein durchaus nicht unauffälliger Streiter im schweizerischen Nebelspalter.
Dies alles auf die Gefahr hin, daß Sie mich völlig mißdeuten, aber jedenfalls mit den besten Grüßen:
Max Frisch [Unterschrift] Sempacherstraße 71«137
Zu mißdeuten gibt es hier nicht viel. Wiederum verfocht Frisch eine strikte Gesinnungsneutralität in einer Zeit, wo der verbrecherische Charakter des Nationalsozialismus bereits offenkundig war. Und man muß den Brief zweimal lesen, um auch die argumentatio ad personam nachzuvollziehen. Da streitet ein selbsternannter Sprecher des Mehrheitsschweizertums («wir«, »man«) einem engagierten und persönlich betroffenen antifaschistischen Künstler als erstes seine Künstlerschaft ab, weil ihm der »Humor« des unbeteiligten Darüberstehens fehlt. Als ob es den »echten« Künstler kennzeichne, angesichts der Greuel der Zeit humorvoll darüber zu stehen.138 Als nächstes setzt Frisch seinen Gegner moralisch auf dieselbe Stufe mit den karikierten Nazis und spricht ihm das echt »Schweizerische« ab. Und schließlich erklärt er ihn noch zu einer Landesgefahr, die schlimmer sei als ein frontistischer Fackelzug, zu einem Menschen, der die Schweiz nur mißbrauche, um seine Ressentiments auszuleben. Beweis: Der Herr, der doch dankbar sein müßte, eine offizielle Zürichmappe anfertigen gedurft zu haben, und vor allem seine Frau Gemahlin, sie sprechen nicht einmal Schweizerdeutsch!139
Frisch schrieb diesen Brief als siebenundzwanzigjähriger Mann und als Bürger einer Stadt, die zum Exilzentrum des antinazistischen, deutschsprachigen Geistes geworden war. Als Jugendtorheit ist er nicht abzutun. Er lag im Geist der Zeit, und der Schweizerische Schriftstellerverband, der Schweizer Pen-Club, Faesi, Korrodi, Staiger u.a.m. vertraten dieselben fragwürdigen Positionen.140
Rabinovitch reagierte auf Frischs Anwürfe übrigens souverän. Im Nebelspalter Nr. 46 von 1938 veröffentlichte er eine Karikatur gegen jede Form der Zensur. Ein kleiner Hofnarr mit den Zügen Rabinovitchs kopiert ein grimmiges Hitlerporträt. Die Kopie zeigt einen lächelnden Hitler. Bundesrat Motta, der Außenminister, blickt dem Narren über die Schulter und mahnt: »Bitte noch ein klein wenig liebenswürdiger«.
Karikatur von Gregor Rabinovitch im Nebelspalter.